Bereits 1960 erschien Michèle Bernsteins Romanerstling „Tous les chevaux du roi“. Nach der Wiederauflage in Frankreich liegt „Alle Pferde des Königs“ in der Übersetzung von Dino Beck und NU-Schachkolumnist Anatol Vitouch nun erstmals auch auf Deutsch vor – eine Flaschenpost aus der Welt der französischen Situationisten.
VON VERA RIBARICH
Humpty Dumpty sat on a wall,
Humpty Dumpty had a great fall.
All the king´s horses and all the king´s men
Couldn´t put Humpty together again.
„Eine Eroberung natürlich.“ – Das ist es, was Geneviève ihrem Mann Gilles auf die liebenswürdig vorgebrachte Frage antwortet, was man denn vorhabe, zu dritt im Taxi, auf dem Heimweg, der im Mansardenzimmer der jungen, blonden Carole enden wird. Damit setzt Autorin Michèle Bernstein den Reigen von Verführungen und Affären in Gang, von dem Alle Pferde des Königs erzählt. Ort der Handlung: das geliebte Paris, durch das Ich-Erzählerin Geneviève und ihre Clique nachts driften, von Galerien zu Cafés, von Partys zu Bars. Auch Gilles treibt sich mit Carole, mit der er bald ein Verhältnis begonnen hat, auf den Pflasterstränden „zwischen Les Halles, Maubert und Monge“ herum.
Klappentext und frühere Rezensenten des Romans sind sich einig: Michèle Bern steins Werk ist ein roman à clef, angelehnt an ihr Leben mit ihrem ersten Ehemann Guy Debord, wie sie ein Gründungsmitglied der Situationistischen Internationale und Autor des einflussreichen theoretisch-kritischen Werks Die Gesellschaft des Spektakels. Doch auch der weit größere Schatten eines Chimborazo der französischen Romanliteratur legt sich über Bernsteins schmalen Band mit seinen knapp hundert Seiten: Choderlos de Laclos’ Liaisons dangereuses – der Briefroman aus dem 18. Jahrhundert war ein Jahr zuvor (1959) erstmals verfilmt worden, wobei auch Regisseur Roger Vadim die Libertinage in ein zeitgenössisches Setting verlegte. Die weibliche Hauptrolle spielte Jeanne Moreau, wie auch in François Truffauts Dreiecksgeschichte Jules et Jim (1962), deren Flair Bernsteins Roman sehr nahekommt – nicht zuletzt in den Urlaubsszenen am Meer, wohin Bernstein ihre Protagonisten ebenso verschickt wie Truffaut.
Es sei „gut für Romanfiguren, an die Côte d’Azur zu fahren, finden Sie nicht?“, erklärte die Autorin in einem TV-Interview schelmisch den Grund für die Reise, die im zweiten Teil des Buches stattfindet – sie selbst, gab sie zu, war nie dort gewesen, sie habe sich aber gewissenhaft darüber informiert, wie viele Cafés es denn ungefähr in Saint-Paul gebe. Hier dreht sich das Karussell weiter: Gilles und Carole führen ihre Affäre fort, Geneviève bekommt Besuch von Bernard, der ihr aus Paris der Liebe wegen nachgereist ist. „In einem Bett, an das ich nicht gewöhnt bin, erwache ich immer früher“ – so Bernsteins lakonische Mitteilung über Genevièves erste Nacht mit Bernard – ist übrigens ein wohltuender Kontrast zu manch heutiger Graustufen-Schreibe. Viele Szenen des Buches erfreuen mit einer feinen Mischung aus Coolness und Zärtlichkeit, so auch, als Bernards frühere Flamme Hélène in die Runde tritt – und von Geneviève prompt verführt wird. Im Übrigen tut man, was junge Intellektuelle im Sommerurlaub so tun: an den Strand gehen, einander Gedichte vorlesen, diskutieren, Ricard trinken, Schach spielen – und, wenn der Autorin der Schalk im Nacken sitzt, ein wenig selbstreferenziellen Dialog pflegen:
„Ist euch nicht aufgefallen“, unterbrach Carole, „dass wir alle die Namen von Romanfiguren haben: Gilles und Bertrand; Renaud, Carole, Geneviève?“ …. „So ist es“, sagte Gilles. „Genau das sind wir, Romanfiguren, habt ihr das nicht bemerkt?“
Mit dem Ende des Sommers lösen sich die Konstellationen auf, man fährt nach Paris zurück, und der Reigen scheint von Neuem zu beginnen, wenn Gilles zu Geneviève sagt: „Anne wartet bei der Rue Gît-le- Coeur auf uns …“
Michèle Bernstein
Alle Pferde des Königs
Edition Nautilus, Hamburg 2015
128 Seiten
19,90 EUR