Wer würde sich nicht wünschen, mit dem weltberühmten Tenor Neil Shicoff auf der Bühne zu stehen? Wir von NU hatten das Vergnügen, wenn auch nur auf einer Probebühne der Volksoper Wien und ohne Publikum. Shicoff hat mit NU über sein Judentum, seine Rollen, insbesondere jene des Eléazar in der Oper „La Juive“ (Die Jüdin) und über seine Erfahrungen mit Wien gesprochen.
VON PETER MENASSE UND IDA SALAMON (INTERVIEW)
MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS)
NU: Auf Ihrer Homepage schreiben Sie, dass Ihr Charakter eine Menge dunkler Seiten hätte. Was können wir uns darunter vorstellen?
Neil Shicoff: Sie müssen mich nur in der Titelrolle von Hoffmanns Erzählungen erleben. Hoffmann ist ein Mensch, der die Herausforderungen seines Erfolgs und seines Talents nur schwer akzeptieren kann. Für mich war es auch schwierig, mit meinen eigenen Begabungen umzugehen. Das ging so weit, dass ich zwar bereits mit 27 Jahren an der Met gesungen habe und mit 28 hoch geschätzt war, aber ich konnte meine eigenen Talente nicht akzeptieren und es brauchte Jahre, bis ich verstand, über was ich da verfüge.
Eine Ihrer bedeutendsten Rollen ist die des Eléazar in La Juive. Diese Oper aus den 1830er-Jahren handelt von Intoleranz und Verfolgung. Sie hätte auch als Folge der Shoah oder heute in Zeiten des Terrors geschrieben werden können. Kann es sein, dass die Menschen sich nicht ändern?
Es scheint so, als lernten wir nichts aus der Vergangenheit. Wir wiederholen ständig, was unsere Vorväter durchlebt haben. Die heutige Welt ist chaotisch, und das an vielen Fronten. Die Verantwortlichen der USA waren nicht in der Lage, die iranische Atombombe zu verhindern. Es wird sie bald geben. Und diese Bombe ist definitiv eine reale Bedrohung für Israel. Es gab republikanische und demokratische Präsidenten, die allesamt diesen Prozess nicht aufhalten konnten. Wir gehen in unserer Welt wieder einmal unheilvollen Zeiten entgegen. Im Zweiten Weltkrieg wurden sechs Millionen Juden ermordet und dazu zwanzig Millionen Russen. Dieses Mal wird es noch schrecklicher werden. Die Nuklearwaffen haben das Potenzial, noch viel mehr Menschen auszulöschen. Die Welt scheint wirklich verloren zu sein.
Sie identifizieren sich aber doch weiterhin mit der Rolle. Welche Botschaft wollen Sie da bringen?
La Juive handelt von der Intoleranz, den Vorurteilen und der Unfähigkeit beider Seiten, die jeweils andere zu verstehen oder wahrzunehmen. Ich will Ihnen eine Geschichte zu La Juive erzählen, nicht jene der Oper, sondern eine meiner eigenen Geschichten mit dem Werk. Ich wurde von Gerard Mortier, den ich als intellektuellen und klugen Intendanten schätzte, eingeladen, in Paris zu singen. Bereits sein Vorgänger hatte die Oper angesetzt und Mortier fürchtete kurzzeitig, aus Kostengründen die Oper nur konzertant aufführen lassen zu können, wofür ich nicht zur Verfügung gestanden wäre. Wir stimmten überein, dass diese Oper nicht konzertant und somit „unpolitisch“ auf die Bühne gebracht werden konnte. Regisseur der Inszenierung in Paris war der Intendant der Amsterdamer Oper, Pierre Audi. Im Gespräch mit Audi über die tatsächliche politische Dimension der Oper merkte ich an, dass man den Text ändern und aus dem Juden Eléazar einen Palästinenser machen könnte, der Rachel davon überzeugt, dass sie zur Selbstmord- Attentäterin wird. So würde man die andere Seite der Geschichte verstehen. Rachel würde am Ende sterben, sie hätte keine andere Chance. So, wie sie es im Original als Jüdin auch tut.
Hier in Wien ist das Publikum sehr sensibilisiert, was die geschichtlichen Zusammenhänge betrifft. Ich war mir im Klaren darüber, dass es mein Ziel sein muss, das Publikum noch mehr davon zu überzeugen, dass wir alle verlieren, wenn wir in Vorurteilen verharren. Wenn wir nicht verstehen und akzeptieren können, dass es unterschiedliche Lebensstile und Annäherungen an Gott gibt, oder an was immer man glaubt, werden wir die Geschichte immer aufs Neue wiederholen.
Als ich die Produktion an der Metropolitan Opera in New York machte, war ich mit Shoah-Überlebenden im Publikum konfrontiert. Nach der Vorstellung sagte einer von ihnen zu mir: „Sie wissen nicht, wie ich mich gefühlt habe, als ich Ihnen zuschaute, wie Sie im vierten Akt Ihre Jacke, die Weste und die Schuhe ausgezogen haben. Es hat mich enorm bewegt.“
Bei den Proben für die Produktion an der Staatsoper hat sich Günter Krämer bis wenige Tage vor der Generalprobe bedeckt gehalten, wie er die Arie im vierten Akt anlegen würde. Er hatte zu großen Respekt vor der Geschichte meiner Familie und deshalb bis zuletzt gewartet, mich mit dem zu konfrontieren, was klar eine Holocaust-Szene ist. Der vierte Akt ist unvergleichlich in seiner Emotionalität.
Wie hat Sie das beim Spiel beeinflusst? Waren Sie emotional bewegt?
Ich bin normalerweise ein äußerst nervöser Darsteller, das ist kein Geheimnis. Am Nachmittag, vier Stunden vor der Aufführung, öffnete ich mein Herz und wünschte mir, dass die Seelen, die so viel gelitten haben, durch mich singen würden. Ich war nicht so nervös, wie ich es sonst bin. Ich spürte, dass sie mich benutzten, um aus mir zu sprechen. Ich war sehr berührt, dass ich diese Rolle fand – und dass sie mich gefunden hatte, dass die Opfer in dieser esoterischen Weise sich durch meine Stimme hörbar machen konnten. Eléazar ist auch meine Großmutter, die ihre Verwandten im Holocaust verloren hat. Ich sehe sie und die Bilder, mit denen ich aufgewachsen bin.
Ihr Vater war Kantor. Wurden Sie jüdisch und religiös erzogen?
Mein Vater war Kantor und sein Vater ebenfalls. Ich wurde konservativ erzogen. Zu den Feiertagen habe ich meinen Vater immer in die Synagoge begleitet. Ich beobachtete ihn, wenn er sang, das Pathos, die Töne, diese Fähigkeit, die Botschaft zu vermitteln, und vielleicht kommt das Klangbild in meiner Stimme auch von daher, trägt eine Botschaft in sich, so wie er seine nach außen trug.
Wenn ich heute Schüler unterrichte, frage ich sie stets: „Was ist deine Botschaft? Deine Technik ist nur die eine Seite, deine Botschaft ist hier in deinem Herzen. Und die beiden gehören zusammen, sonst wird es nichts.“
In Venedig bekam ich für den Eléazar zwar sehr gute Beurteilungen meiner Darstellung, aber die Medien kritisierten, dass die berühmte Arie, von mir gesungen, wie ein jüdisches Lied geklungen habe. Das hat die Rezensenten befremdet. Dabei ist es genau das, was mich in dieser Oper ausmacht und was durch mich zum Ausdruck kommt.
Woher kam Ihre Familie?
Meine Großeltern kamen aus der Ukraine und aus Polen, sie waren sehr prägend für mich. Meine Eltern waren dann schon die erste Generation in den USA. Meine Mutter sprach aber bis zu ihrem Schuleintritt noch ausschließlich Jiddisch. Meine jüdische Identität und auch Israel sind mir sehr wichtig. Ich wünschte, dass es in der Region Frieden geben könnte und bin gleichzeitig sehr besorgt, weil ich keine positiven Entwicklungen erkennen kann. Es ist eine sehr verzwickte Lage.
Können Sie uns ein wenig von der Atmosphäre im Brooklyn Ihrer Jugend erzählen?
Ich wurde in einer Mittelklassefamilie aufgezogen, weder arm noch reich. Ich wuchs mit vielen Verwandten rund um mich auf, Großeltern, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln. Ich war ein recht wildes Kind, sehr zur Sorge meiner Großmutter, die mich stets zügeln wollte, weil sie Angst um mich hatte. Wann immer einer von uns nicht zu Hause war, wurde meine Großmutter unglaublich nervös und ängstlich. Zu viele ihrer Verwandten waren nicht mehr nach Hause gekommen; das hat sie ihr Leben lang nicht losgelassen.
Mein Vater hat mir vieles gegeben. Er begann mich zu unterrichten, als ich fünfzehn war. Er hatte das Potenzial meiner Stimme erkannt. Ich ging zu dieser Zeit zu jedem Spiel der New Yorker Mets, unserer Baseball-Mannschaft, und feuerte die Spieler dort so vehement an, dass ich am Ende jedes Mal komplett stimmlos war. Mein Vater knüpfte daher den Unterricht durch ihn an die Bedingung, auf die Baseball- Spiele zu verzichten. Es war so großzügig von ihm, mir alles weiterzugeben, was er konnte und wusste. Ich versuche heute, meinen Studenten auch viel von mir mitzugeben.
Im Jahr 2005 sagten Sie in einem Interview, Sie hätten noch weitere 15 Jahre für das Singen. Wie denken Sie jetzt, zehn Jahre später, darüber?
Heuer feiere ich mein vierzigstes Jahr auf der Bühne. Was die Zukunft sicher bringen wird, ist ein noch stärkeres Engagement als Lehrer. Ich habe vor ungefähr sieben Jahren begonnen, Sänger zu unterrichten. Das macht mir sehr große Freude.
Was die unmittelbare Zukunft betrifft, so werde ich als Nächstes am Bolshoi Theater unterrichten, im Mai am Central Conservatory in Peking, im Sommer dann, wie schon in den vergangenen Jahren, in Santa Fé, New Mexico.
Wie wird das Programm für das Galakonzert in der Wiener Staatsoper zu Ihrem 40. Bühnenjubiläum ausschauen?
Es beginnt mit Hoffmanns Erzählungen, dann folgt Pique Dame. Nach der Pause geht es weiter mit dem vierten Akt von La Juive und dann kommt der Schlussakt von Carmen. Das wird ein sehr ambitionierter Abend.
Was bedeutet das Wiener Publikum für Sie?
Am Anfang meines Wien-Aufenthalts stand im Besonderen die Unterstützung durch Ioan Holender. Es begann also mit der Unterstützung des Hauses und setzte sich fort mit der des Publikums. Ich muss ehrlich zugeben, dass nicht alle meine Vorstellungen auf demselben hohen Niveau waren. Ich hatte sehr viele gute Abende, aber dann auch das ein oder andere Mal weniger gute. Das Publikum hat mich aber immer außerordentlich unterstützt.
Zum Beispiel war ich einmal bei La Juive nicht in Form. Ich hatte Freunde aus New York da, wir hatten eine gute Zeit und ich ging dann in die Oper mit der sicheren Gewissheit, dass alles in Ordnung sei. Während der großen Arie brach plötzlich meine Stimme. Ich reagierte instinktiv, indem ich meine Handflächen zum Publikum wandte, das sich daraufhin vollkommen still verhielt. Ich begann nochmals und dasselbe geschah wieder. Ich dachte bei mir: „Lieber Gott, lass das hier nicht so enden.“ Das Publikum, immer noch vollkommen still, stützte mich, es hielt mich förmlich in seinen Händen und trug mich. Ich setzte erneut an und es gelang. Es war nicht mein höchstes Können, aber der Ton war wieder da. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob es Applaus gegeben hat, aber ich bestand die Herausforderung und schaffte es.
Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, die Rolle nicht mehr zu singen?
Holender war auch in der Vorstellung. (Stutzt). Interessant, wie viel ich heute über ihn rede. Die Wahrheit ist, dass wir unsere „ups and downs“ hatten, aber als Sänger hat mich niemand so unterstützt wie Ioan, er gab mir acht Neuproduktionen. Es gab sie, die verschiedenen Phasen in dieser Beziehung, in meiner Arbeit als Sänger aber war er immer hilfreich.
Holender rief mich am Tag nach dieser La Juive-Vorstellung an und wollte wissen, ob das nun bedeute, dass ich den Eléazar nicht mehr singen würde. Meine Antwort war: „Nein, ich werde kämpfen, dieses Stück wird nicht aus meinem Repertoire verschwinden.“
Sie haben es geschafft, weil Sie es sofort und mehrfach nochmals versucht haben.
Ja, aber das hatte nicht nur mit meiner Arbeit zu tun, sondern auch mit meinem Leben, mit meinem Bedürfnis, Herausforderungen anzunehmen – aber auch mit der Überzeugung, dass diese Oper eine Botschaft in sich trägt, die uns alle erreichen soll.
Während der Pressekonferenz vor der Premiere in Wien wurde ich gefragt: „Wie geht es dir damit, dass du da in der Oper sitzt, wo du in der nächsten Woche ein Stück über Juden singen wirst und weißt, dass vor diesem Haus Juden 1938 den Gehsteig mit Zahnbürsten reinigen mussten?“ – Ich sage, es geht in diesem Werk um die Menschlichkeit. Vorurteile gibt es nicht nur zwischen Nicht-Juden und Juden, sondern auch zwischen Juden, Christen, Moslems und anderen. Es geht um Menschen, die nicht in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen. Wenn ich auf der Bühne stehe, möchte ich meinem Publikum verständlich machen, dass Intoleranz nicht nur die Juden trifft, sondern die Menschen im Allgemeinen. Sie ist ein Angriff gegen die Menschlichkeit.
Sind Sie heute noch bitter wegen der Entscheidung der früheren Kulturministerin Claudia Schmied, Sie nicht zum Operndirektor zu machen?
Wir sollten nicht bedauernd verharren, sondern nach vorne blicken. Ich habe aus dieser Sache viel gelernt und wurde stärker. Es war das für mich zweifelsfrei eine Zeit der Herausforderung, die ich aber auch nicht aus meinem Leben löschen wollte. Solche Erfahrungen sind hilfreich, um die eigene Persönlichkeit weiterzuentwickeln.
Ich wurde einmal gefragt, ob ich glaube, dass ich deshalb nicht Direktor der Staatsoper wurde, weil ich Jude bin. Das versetzte mir einen Schock, und meine sofortige Antwort war ein sicheres Nein. Ich weiß um die Geschichte hier, aber ich lebe in der Gegenwart. Wien ist eine der Schlüsselstädte meiner Karriere. Auch wenn ich auf der Bühne stehe und die Spannung im Saal spüre, befinde ich mich im Hier und Jetzt.
Gibt es etwas, das Sie uns noch mitgeben wollen?
Wir führen unser Gespräch hier in der Volksoper. Ich möchte Ihnen sagen, wie wichtig dieses Haus für mich ist. Robert Meyer ist mit mir, dem fragilen, übersensiblen, schwierigen Sänger wunderbar umgegangen. Ich habe hohen Respekt vor ihm. Die Staatsoper ist mein Haupthaus, aber ich wurde auch hier wunderbar auf- und angenommen. Ich habe also das Glück, in zwei Opernhäusern der Stadt zu Hause sein zu dürfen. Und noch etwas zum Schluss: Ich freue mich, dass wir dieses Gespräch geführt haben. Ich habe so eine Art von Interview noch nie gemacht und niemals so viel und offen über mein Judentum gesprochen.
Neil Shicoff wurde 1949 in New York geboren. Er studierte bei seinem Vater Sidney Shicoff und an der Juilliard School of Music. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte Shicoff mit acht Jahren bei einer Hochzeit in jener Synagoge, in der sein Vater Chasan war. Sein professionelles Debüt gab er im Februar 1975 in Washington als Narraboth in Salome unter Julius Rudel. Er ist international als einer der hervorragendsten Tenöre unserer Zeit mit Auftritten in den bedeutendsten Opernhäusern der Welt anerkannt. Er hat folgende Operngesamtaufnahmen eingespielt: La Juive, Hoffmanns Erzählungen, Eugen Onegin, Il tabarro, Carmen, Rigoletto, Aroldo, La traviata, Lucia di Lammermoor, Billy Budd. Seit 1998 Kammersänger der Wiener Staatsoper, wurde er im Mai 2003 zu deren Ehrenmitglied ernannt. Er ist Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, der Ehrenmedaille der Stadt Wien und des Goldenen Ehrenzeichens für Verdienste um das Land Wien. In Frankreich wurde er zum Chevalier de L’Ordre des Arts et des Lettres ernannt, 2011 erhielt er Russlands höchste Auszeichnung für darstellende Künstler, den Golden Mask Award. Im Februar 2014 gab Shicoff als Calaf in Turandot sein Debüt an der Volksoper Wien. Im September erscheint im Berliner Parthas-Verlag seine Biografie Meine Dämonen umarmend – Neil Shicoff im Gespräch mit Johannes von Duisburg, mit einem Vorwort von Jürgen Flimm. Am 3. Mai findet in der Wiener Staatsoper das Galakonzert Neil Shicoff – 40 Jahre Bühne statt. Am 10. Mai tritt Neil Shicoff in der Volksoper Wien im Rahmen einer Benefizmatinee zugunsten der Initiative NEIN ZU KRANK UND ARM auf.
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