Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), über radikale Muslime und Bildungsreisen nach Israel. Ein Gespräch.
VON MARTIN ENGELBERG (INTERVIEW) UND MILAGROS MARTÍNEZ-FLENER (FOTOS)
NU: Sie sind in Deutschland für politische Bildung zuständig. Was tun gegen die Radikalisierung der Muslime?
Thomas Krüger: Da gibt es keine Pauschallösung. Die meisten der rund vier Millionen Muslime in Deutschland sind sehr gut integriert und viele haben einen deutschen Pass. Sie fühlen sich Deutschland mehrheitlich eng verbunden und bekennen sich zu den freiheitlich-demokratischen Grundwerten. Sie haben mit der Radikalisierung von einigen tausend Extremisten nichts zu tun. Pauschalwürfe gegen „den Islam“ etc. sind hier extrem kontraproduktiv.
Das klingt alles sehr schön, aber was machen Sie ganz aktuell mit jenen, die schon radikalisiert sind?
Menschen, die schon radikalisiert sind, sind in erster Linie ein Sicherheitsproblem. Da müssen die Verfassungsschützer und die Kriminalämter aktiv werden. Aber wir wollen durchaus Jugendlichen, die Gefahr laufen, z. B. der Propaganda des sogenannten „Islamischen Staates“ im Internet auf den Leim zu gehen, zeigen: Ihr könnt euch anders entscheiden. Das gilt nach den Anschlägen von Paris mehr denn je! Hierbei wollen wir Aktivitäten in den sozialen Netzwerken organisieren. Vorbild ist eine bpb-Kampagne gegen Neonazis, bei der bekannte YouTuber Videos drehten, die unter Jugendlichen eine hohe Glaubwürdigkeit haben – und das ist das A und O im Netz. Die Clips wurden millionenfach angeklickt. Im Fall der Gegenrede gegen die IS-Propaganda könnten das z.B. Rapper sein oder junge Imame. Auch hier geht es vor allem um Glaubwürdigkeit. Sie müssen in der Lage sein, die Jugendlichen zu erreichen, die potenziell von Islamisten angeworben werden könnten.
Wieso werden muslimische Jugendliche radikal?
Wir wissen, dass die Radikalisierung vor allem aus der Angst vor Prekarisierung entsteht. Oft sind es „abgehängte“ Jugendliche, die keine Erfolgserlebnisse und vor allem keine Anerkennungserfahrung in der Schule, Ausbildung oder im Beruf sammeln konnten. Diese Anerkennung suchen sie sich dann an anderer Stelle. Wir haben es z.B. in Deutschland nach wie vor mit einem relativ selektiven Bildungssystem zu tun. Wenn sich dann Enttäuschungssituationen einstellen oder junge Leute in dem Bildungssystem nicht mitkommen, suchen sie sich sehr oft die Anerkennung in anderen Zusammenhängen.
Das heißt, für Sie ist die Radikalisierung der Muslime eine reine Milieu-Problematik?
Es ist nicht nur eine Milieu-Problematik, sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Das zeigt auch der mit 10 – 20 Prozent relativ hohe Anteil an Konvertiten in der salafistischen Szene, die vorher keine Berührungspunkte mit dem Islam hatten. Radikale Ausprägungen und Radikalisierungsprozesse können wir zudem auch in anderen Weltreligionen beobachten.
Na das ist wohl ein Unterschied! Jedenfalls gibt es im Islam den Anspruch, die ganze Welt zu beherrschen und zum Islam zu bekehren.
Das gibt es aber auch im Christentum.
Da hat doch in der Zwischenzeit eine gewaltige Entwicklung stattgefunden. Mit dieser Brutalität und Radikalisierung steht der Islam heute alleine da.
Islam und Islamismus sind nicht in einen Topf zu werfen: Die katholische Kirche ist nicht die Piusbruderschaft, und die evangelische Kirche ist nicht mit den Fundamentalisten unter den Evangelikalen zu verwechseln. Wir müssen unterscheiden lernen. Wir bemühen uns in unserer Bildungsarbeit bei der Darstellung muslimischen Lebens in Deutschland stets darum zu zeigen, dass es nicht „den Islam“ oder „die Muslime“ gibt. Wir stellen z.B. in der Ausstellung „Was glaubst du denn?! Muslime in Deutschland“ ganz plastisch und anschaulich dar, dass die Menschen muslimischen Glaubens in ihrer Religion, aber auch in dem, was ihren Alltag ausmacht, sehr unterschiedlich sind.
Und trotzdem beobachten wir natürlich auch, dass der radikale Islam, in Gestalt des Salafismus, in Deutschland in den letzten Jahren rasant gewachsen ist. Dabei spricht er insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene an. Er liefert einfache Antworten auf schwierige Fragen, gibt eindeutige Handlungsanweisungen für uneindeutige Situationen und gibt Halt, wo sich viele haltlos fühlen. Wohin eine salafistische Radikalisierung im schlimmsten Fall führen kann, sehen wir mittlerweile wöchentlich in den Nachrichten: Hunderte junger Menschen reisen aus Deutschland und Europa nach Syrien und in den Irak. Und manche von ihnen kommen wieder oder werden durch den IS oder Al-Kaida so radikalisiert, das es zu so schrecklichen Anschlägen in unseren westlichen Gesellschaften kommt wie zuletzt in Paris.
Gehen wir doch ein Stück weiter – also abgesehen von den 300, die sich dem IS angeschlossen haben. Wir haben gerade im vergangenen Sommer im Zuge des Gaza-Konfliktes erlebt, dass es da antisemitische Töne und auch eine Radikalisierung gab, die von Muslimen ausging, die man zumindest die letzten Jahrzehnte nicht gekannt hat.
Für Deutschland belegt eine Reihe von Studien, dass antisemitische Haltungen bei Jugendlichen aus muslimischen Sozialisationskontexten eine problematische Größe erreichen können. Aber – und das muss man ganz selbstkritisch sagen – bislang sind wir in der politischen Bildung erst ganz am Anfang einer systematischen Präventionsarbeit. Als Bundeszentrale für politische Bildung haben wir z.B. das Projekt „Dialog macht Schule“ gefördert. Zudem erhoffe ich mir wichtige Schritte der Prävention vom künftigen islamischen Religionsunterricht, der in den nächsten Jahren in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen flächendeckend ausgebaut werden soll. In jedem Fall gibt es da noch einiges zu tun.
Wohin der islamistische Antisemitismus führen kann, hat man ja auch in Paris gesehen!
Richtig! Die überwältigende Demonstration von Solidarität hat ja zunächst im Ausruf „Je suis Charlie“ Ausdruck gefunden. In diesem Ruf kommt eine echte und spontane Verbundenheit mit den Journalisten, Redakteuren und Zeichnern von Charlie Hebdo zum Ausdruck; und das nicht allein in Paris oder Frankreich, sondern in ganz Europa und darüber hinaus. Dieser Ruf war für viele ein Zeichen der Ermutigung, und als solcher ist er natürlich auch nicht zu kritisieren. Doch es gilt, gerade in Tagen wie denen, die auf den 7. Januar 2015 folgten, auf Unterscheidungen zu achten. Es waren erst publizistische Zwischenrufe, wie sie Oliver Tolmein und David Grossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung machten, die mit Nachdruck darauf verwiesen, dass der islamistische Terror dieser Tage auch ein antisemitischer ist und dass die Opfer in dem koscheren Supermarkt „Hyper Cacher“ in Ost-Paris nur deshalb ermordet wurden, weil sie Juden waren. Für dieses Massaker hat sich kein vergleichbar ikonischer Ruf der Solidarisierung und der Identifikation herausgebildet. Und diese Beobachtung verschärft sich noch durch die Tatsache, dass sich nach der Ermordung von vier Besuchern des jüdischen Museums in Brüssel im vergangenen Sommer überhaupt keine entsprechende Reaktion zeigen wollte, weder auf der Straße noch in den Medien, weder in Belgien noch in Frankreich oder in den benachbarten Ländern. Entsprechendes gilt auch für die drei Schüler und ihren Lehrer, die vor etwa zwei Jahren im südfranzösischen Toulouse in einer jüdischen Schule von einem Attentäter erschossen wurden.
Was kann man denn tun? Sind die von der bpb angebotenen Studienreisen nach Israel eine Möglichkeit? Wie sehen diese aus?
Die ursprüngliche Idee war, Studienreisen nach Israel zu machen, weil die authentischste Aufarbeitung der Shoa durch die Begegnung mit den Menschen geschieht, durch Gespräche mit den Betroffenen. Die Genese der Studienreisen liegt darin, Menschen aus dem Tätervolk die Begegnung mit den Opfern und der Gesellschaft, die dort entstanden ist, zu ermöglichen und dadurch eine Form der Holocaust-Bildung zu betreiben.
Ist das auch heute noch das Ziel?
Ganz klar ja. Trotz der veränderten Rahmenbedingungen spielt die historische Verantwortung für die während des Nationalsozialismus verübten Verbrechen selbstverständlich weiterhin die zentrale Rolle. Nicht zuletzt deshalb, weil der Holocaust als fester Bestandteil des jüdischen Lebens in Israel stets gegenwärtig ist. Somit bleibt auch heute gültig, was von Beginn an zum Auftrag der Israel-Studienreisen als Instrument politischer Bildungsarbeit gehörte: die kritische Reflexion des deutsch-jüdischen Verhältnisses in der Geschichte, insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus, und daraus folgend das Einstehen für das Existenzrecht Israels, unabhängig von der konkreten Politik seiner jeweiligen Regierungen.
Aber auch der israelisch-palästinensische Konflikt spielt inzwischen in den Programmen eine wichtige Rolle. Wir sind als politische Bildner ja dem Beutelsbacher Konsens verpflichtet und dieser schreibt uns vor, kontroverse Themen in Politik und Gesellschaft auch in unseren Lehrveranstaltungen kontrovers darzustellen. Deshalb ist ein Besuch mit Gesprächen in den palästinensischen Autonomiegebieten – bei stabiler Sicherheitslage – fester Bestandteil der Studienreisen. Er bietet die Gelegenheit, Positionen der „Gegenseite“ zu hören und trägt damit zu einem umfassenden Verständnis des Konfliktes und seiner Komponenten bei.
Wer ist die Zielgruppe?
Mit den Israel-Studienreisen sollen Multiplikatoren und Meinungsführer angesprochen werden, die die auf der Reise gewonnenen Informationen, Erkenntnisse und Erfahrungen nachhaltig in ihrem beruflichen Umfeld weitergeben. Journalisten oder Lehrer gehören zum Stammpublikum der fast 300 Reisen, die wir in den letzten 50 Jahren organisiert haben. Sie sollen – so unser Wunsch – nach ihrer Rückkehr zur Vermittlung eines differenzierten Israelbildes beitragen. Und mein persönlicher Eindruck ist: Das gelingt oft sehr gut. Und ganz klar, bei der Zusammensetzung der Reisegruppen achten wir darauf, dass sie die in Deutschland bestehende gesellschaftliche Vielfalt widerspiegelt. Das bedeutet nicht nur die Schaffung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Frauen und Männern, von Teilnehmenden aus Ost und West, sondern auch die immer stärkere Einbeziehung von MultiplikatorInnen, die über einen Migrationshintergrund verfügen.
Wie sehen diese Israel-Reisegruppen aus?
Wir machen bis zu sechs Reisen pro Jahr, früher waren es sogar noch mehr. Bei mindestens zwei Reisen sind Journalisten die Zielgruppe. Insgesamt sind rund 25 Personen in einer Gruppe, die zwischen zehn und 14 Tage durch Israel reist. Wir haben auf diese Weise seit Anfang der 1960er- Jahre über 8.000 Leute nach Israel gebracht. Das ist beträchtlich, und als wir 2013 anlässlich des fünfzigsten Geburtstages der Studienreisen frühere Reiseteilnehmende gefragt haben, wie sie die Reise empfunden haben, da war das Echo überwältigend. Ich erinnere mich an eine Reiseteilnehmerin, die schrieb: „Es war wie Speed-Dating. Ja, im November 2005 habe ich mich verknallt. In all die Menschen, die dem ganz normalen Wahnsinn in Nahost Tag für Tag mit Leidenschaft und Entschlossenheit begegnen und ihm ihre ganz persönliche Vision für die Region entgegenstellen. Kein anderer Trip hat mich und meine Arbeit als Journalistin so sehr geprägt. […] Was als Kennenlern- Marathon begann, wurde zur großen Liebe.“ Auch ein solches Feedback ist es, das uns darin bestätigt, weiter Israel in Deutschland auf diese Weise zu vermitteln.
Wer finanziert diese Reisen?
Die staatliche Bundeszentrale für politische Bildung aus Mitteln des Bundeshaushalts und die Teilnehmenden beteiligen sich mit ca. 50% an den Sachkosten der Reisen.
In Österreich gibt es ja leider kein solches Programm für Israel-Reisen. Wäre es denn nicht zum Beispiel sinnvoll, Ihr Know-how zu nutzen und Menschen aus Österreich mit Ihren Gruppen mitzuschicken?
Sicherlich gab es immer wieder Reisen, bei denen auch Teilnehmende aus anderen Ländern dabei waren. Aber primär richtet sich dieses Angebot – bezahlt vom deutschen Steuerzahler – an in Deutschland lebende Menschen. Leider kann ich hier keine zu vollmundige Einladung nach Österreich aussprechen, ich bitte um Ihr Verständnis. Ich rate aber dazu, einmal mit unseren österreichischen Kollegen Kontakt aufzunehmen. Die Abteilung Politische Bildung (I/6) im BMBF beschäftigt sich mit vielen der angesprochenen Themen, Holocaust Education, Gedenkstättenpädagogik etc., und der vom Ministerium getragene Verein „erinnern.at“ organisiert z.B. Seminare für österreichische Lehrer in Israel an der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem.
Thomas Krüger, 55, geboren und aufgewachsen in der DDR, engagierte sich zuerst in freien Theatergruppen und in der „Kirche von Unten“. Er gehörte 1989 zu den Gründungsmitgliedern der Sozialdemokraten in der DDR, wurde Mitglied der Volkskammer und dann der letzte amtierende Oberbürgermeister von Ostberlin. Von 1994 bis 1998 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, davor war er Senator für Familie und Jugend in Berlin. Seit 1995 ist Krüger ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks und seit 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Diese veranstaltet eine Vielzahl von Kongressen, Seminaren sowie Bildungsreisen und verfügt über ein großes Angebot an Print-Publikationen. Im Jahr 2013 stand der bpb ein Budget von 37,8 Millionen Euro zur Verfügung.