An die 600.000 Kunstwerke in ganz Europa wurden von den Nazis mit bürokratischer Akribie gewaltsam enteignet, erpresst oder einfach gestohlen.
VON PETER WEINBERGER
Im September 2014 erschien erstmals eine Studie der Claims Conference über den Umgang mit Raubkunst in den letzten 15 Jahren in jenen 44 Staaten, die das Washingtoner Abkommen, „a consensus on non-binding principles to assist in resolving issues relating to Nazi-confiscated art“, unterzeichnet hatten. Diese Studie wurde sofort von der New York Times aufgegriffen und das lockere Herangehen an Fragen der Provenienz von Kunstwerken in vielen Unterzeichnerstaaten heftig kritisiert. In der Zeitschrift The Art Law Report erschien unmittelbar danach sogar eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dieser Studie, in der insbesondere die Wichtigkeit genauer Definitionen hervorgehoben wurde.
Raubkunst (Looted Art), heißt es in der Claims Conference Studie, beinhaltet Kunstwerke (Gemälde, Drucke und Skulpturen) sowie Kulturgegenstände aus jüdischem Besitz, die von den Nazis, ihren Alliierten und Kollaborateuren gestohlen wurden. Raubkunst beinhaltet somit auch Judaika, und zwar nicht nur rituelle Objekte, sondern auch Bibliotheks- und Archivmaterial, das sich auf Judaismus, jüdische Organisationen bzw. ganz allgemein auf jüdisches Leben bezieht. Klarerweise beinhaltet diese Definition von Raubkunst nicht sogenannte Fluchtgüter, also Objekte, die durch erzwungenen oder illegitimen Verkauf den Besitzer wechselten; diese Kulturgüter müssen jeweils einer individuellen Provenienzfeststellung unter Einbeziehung des juristischen Umfeldes unterzogen werden.
Da es nicht möglich ist, auf alle 44 untersuchten Staaten einzugehen, sollen im Folgenden lediglich Österreich und einige seiner Nachbarstaaten sowie Israel kurz betrachtet werden.
Österreich und Deutschland
Verglichen mit allen anderen Staaten, gehört Österreich neben den Niederlanden zu jenen Holocaust-Ländern, in denen die Provenienzforschung in (staatlichen) Museen, aber auch in Bibliotheken seit 1998 beachtliche Fortschritte gemacht hat. Österreich ist übrigens das einzige Land mit einem Restitutionsgesetz für staatliche Sammlungen.
Im nördlichen Nachbarland Deutschland gibt es zwar eine Übereinkunft bezüglich Provenienzforschung und Restitution, sie ist allerdings nicht bindend. Die 2001 eingerichtete Datenbank, www.lostart.de, ist eine der gesetzten Maßnahmen, die allerdings bisher für Restitutionsangelegenheiten wenig brachte. Nach wie vor befinden sich zahlreiche Kunstwerke aus Hitlers Sammlung für ein Linz-Museum oder aus Görings Beutegut im staatlichen Besitz. Reichlich spät, nämlich erst im Jänner 2014, also erst nach dem Bekanntwerden des Falls Gurlitt, verkündete Bayern, ein bundesweites Restitutionsgesetz einbringen zu wollen. Obwohl in Deutschland durchaus Fortschritte im Sinne des Washingtoner Abkommens erzielt worden sind, stehen im Vergleich zu Österreich oder den Niederlanden noch viele Probleme an.
Tschechien und Ungarn
Es ist faszinierend, anhand der Claims-Conference-Studie Tschechien mit Ungarn zu vergleichen, also zwei Länder mit ähnlicher Alltagskultur wie in Österreich. Bereits im Jahr 2000 beschloss das tschechische Parlament ein Gesetz, mit dem Direktoren von Kulturinstitutionen verpflichtet wurden, Kunstgegenstände zurückzugeben, sollten diese sich als gestohlen erweisen. Überdies wurde die ursprüngliche Verjährungsfrist, mit der dieses Gesetz begrenzt war, aufgehoben. Tschechien war u. a. Gastland jener Konferenz, die 2009 zur Theresienstädter Deklaration („On Holocaust Era Assets and Related Issues“) führte, und scheint zu den „Erfolgsländern“ in Sachen Provenienzforschung und Restitution zu gehören. So führte das Jüdische Museum in Prag umfangreiche Untersuchungen über seine Bestände inklusive der Bibliothek durch. Ein nunmehr von staatlichen Institutionen unabhängiges Dokumentationsarchiv verfügt über eine eigene Datenbank für geraubte Kunstgegenstände, und zwar zusätzlich zu einer entsprechenden staatlichen Datenbank.
Ganz anders hingegen die Lage in Ungarn: Bis jetzt wurde dort keine Historikerkommission eingesetzt, um die Rolle Ungarns bei der finanziellen und physischen Vernichtung ungarischer Juden zu untersuchen, noch gibt es irgendwelche Provenienzforschungen in ungarischen Kulturinstitutionen. Die Nationalgalerie besitzt eine Reihe von Kunstwerken ungeklärter Herkunft, in den ungarischen Museen sollen sich angeblich mehrere hundert Kunstgegenstände mit ebenfalls ungeklärter Herkunft befinden. So konnte es geschehen, dass aus der Herzog-Sammlung (sie umfasste an die 1.500 bis 2.500 Kunstwerke) bis jetzt kein einziges Stück an die Erben restituiert wurde, obwohl sich diese mehrfach darum bemühten. Da es keinerlei entsprechende Forschung in den öffentlichen Sammlungen gibt, ist der Gesetzeszusatz von 2013 über den Nachweis des legalen Besitzes von Kunstgegenständen in diesen Sammlungen kaum als Fortschritt zu bezeichnen.
Italien
Ähnlich gelagert sind die Verhältnisse in Italien: Obwohl es keinerlei Anzeichen einer Provenienzforschung oder gar einer gesetzlichen Regelung zur Restitution in Italien gibt, kam die sogenannte Anselmi- Kommission (über die Aneignung jüdischen Eigentums) zum Schluss, dass Italiens Kulturinstitutionen im Allgemeinen über keinerlei Raubkunst verfügen. Auch bezüglich Judaika gibt es keinerlei Angaben, obwohl bereits ab 1938 unter Mussolini Enteignungen in großem Maßstab stattfanden und das Land blühenden Handel mit in Wien, Paris, Berlin oder Amsterdam konfiszierten Kunstwerken betrieb.
Israel
Über die JCR (Jewish Cultural Reconstruction) wurde eine große Menge geraubter kultureller und religiöser Objekte an den Staat Israel übertragen. Allein rund 1200 Kunstwerke und Judaika fanden ihren Weg letztlich in das Israel-Museum (Jerusalem) oder wurden an religiöse Organisationen verteilt. Allerdings scheint es mit Ausnahme des Israel-Museums keine weiteren Anzeichen von Provenienzforschung oder Restitution in Israel zu geben. Bei einer Konferenz in Tel Aviv im Juni 2014 erklärte Stuart Eizenstat, der von Präsident Clinton eingesetzte US-Verantwortliche für die Washingtoner Konferenz, dass Israel bei der Lokalisierung von Kunstwerken und deren Rückgabe an ihre tatsächlichen Eigentümer weit hinterherhinke. In einem Artikel in der Haaretz vom 25. Juni 2014 hieß es sogar, es werde Jahre dauern, bis mit gutem Gewissen behauptet werden kann, dass es in israelischen Museen keinerlei Raubkunst mehr gibt. Von den von den Nazi geraubten rund 700.000 bis 800.000 Büchern befindet sich rund ein Drittel, etwa 300.000, nunmehr in Israel, verteilt auf die Bibliotheken der neugegründeten Universitäten von Tel Aviv, Bar Ilan, Haifa und Ben Gurion. Von Provenienzangaben dort ist bis dato keine Spur vorhanden. Dies ist umso verwunderlicher, als Israel, genauso wie Italien, bisher weltweit auf die Rückgabe von Kulturgütern gedrängt hat.