Hör mal zu!

Historisches Experiment: Die 36. israelische Regierung unter der Doppelspitze von Naftali Bennett und Jair Lapid. ©HAIM ZACH/GOVERNMENT PRESS OFFICE

Die Anthologie „Konsens Dissens“ versammelt ein breites Spektrum an Beiträgen über innerjüdische und israelische Debatten.

VON MICHAEL PEKLER

Wer über Diskussionskultur diskutiert, sollte auch eine solche besitzen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch ein Konsens darüber, was man unter Diskussion versteht. Ebenso wie unter Meinungsfreiheit, Demokratie und Pluralismus.

Wie schwierig es ist, ein solches Einverständnis zu finden, haben die vergangenen Jahre bewiesen. Dabei wäre es den teilweise stark erhitzten Gemütern, auch der journalistisch tätigen Zunft, gut angestanden, andere Perspektiven als die eigene zuzulassen. Man braucht sich nicht ständig abwechselnd im Abwehr- oder Angriffsmodus zu befinden. Und sollte nicht die eigene Befindlichkeit als wichtigstes Argument begreifen. Außerdem ist das langweilig.

Spannend hingegen ist es, sich dem Dissens zu stellen. So wie jener eben erschienene Sammelband aus dem Jüdischen Verlag, der sich „nicht immer leicht zu identifizierenden Bruchlinien, ebenso wie deren Überwindung“ widmet, wie es im Vorwort zum Almanach Konsens Dissens heißt. In achtzehn Beiträgen liefern Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft, Forschung und Publizistik – u.a. Yehuda Bauer, Yuval Tal, Michael Wulinger und Noam Zadoff – neuen Diskussionsstoff zu innerjüdischen und israelischen Auseinandersetzungen, die in der jüngsten Vergangenheit teilweise erbittert geführt wurden.

Den Beginn macht Dan Diner (ein Gespräch mit dem deutsch-israelischen Historiker erschien in NU 3/21), der sich anlässlich des Kriegs in der Ukraine mit den jüdischen Gedächtnisbildern beschäftigt, die das Land in den vergangenen 200 Jahren prägten: dem Pogrom in Odessa 1921, der griechischen Präsenz im Süden des Landes, dem Krimkrieg, dem Naziterror und der Rolle der Ukraine in der Sowjetunion. Vor diesem „historisch kontaminierten Hintergrund“, so Diner, habe sich das jüdisch-ukrainische Verhältnis in der Gegenwart gänzlich gelöst. Für die Ukraine komme der Krieg einem Gründungsereignis gleich, mit dem das Land mit jener „vergifteten Vergangenheit“ abschließe, die im jüdischen Gedächtnis tiefe Spuren hinterließ.

Der Zeithistoriker Noam Zadoff schreibt über die in den 1950er Jahren – anlässlich der Besetzung der Sinai-Halbinsel durch Israel mit Unterstützung Frankreichs und Großbritanniens – gegründete „Semitische Aktion“, deren Mitglieder die Idee verfolgten, „dass die Basis des Staates Israels mehr sein sollte als die durch den jüdischen Partikularismus geprägte zionistische Ideologie“. Die Semitische Aktion setzte sich gegen die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung durch das Militärrecht ein, unter dem diese 1966 lebte und die einen lösungsorientierten Konsens forderte. Für Zadoff ein wahrscheinlicher Grund, warum „die Gruppe aus der israelischen Geschichte und Geschichtsschreibung verbannt wurde“.

Wie schnell die politische Gegenwart ihre Vergangenheit einholt, kann man anhand zweier Beiträge über die Regierungsbildungen in Israel lesen. Während Tal Schneider, politische Korrespondentin der Times of Israel, die vormalige Regierung unter der Doppelspitze von Naftali Bennett und Jair Lapid noch – kurz vor Drucklegung des Bandes – als außergewöhnliches, inklusives Experiment analysiert, widmet sich der Politikwissenschaftler Avi Shilon dem Phänomen des „Bibismus“ und analysiert scharfsinnig, wie die mittelständische Likud-Wählerschaft „die neoliberale Logik als zentralen Grundsatz sämtlicher Lebensbereiche verinnerlicht“ hat. Ein erhellender Beitrag, auch angesichts der Proteste in Israel in den vergangenen Wochen, gegen die rechtsreligiöse Regierung Netanjahus.

Texte über das Abraham-Abkommen als „Konsens-Brecher“, Bruno Kreisky, Henry Kissinger oder die Instrumentalisierung von Minderheiten – Juden und Muslimen – in Frankreich runden diese aufschlussreiche Textsammlung ab, über die sich treffend diskutieren lässt.

Gisela Dachs (Hg.)
Konsens Dissens
Jüdischer Verlag/Suhrkamp
220 S., EUR 23, –

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