Von gestrandeten Juden in einer lebenswerten Stadt: Jüdisches Leben in Wien

Chalake von David Liska, Tempelgasse, Juni 1981. © Jüdisches Museum Wien

Von den mehr als 170.000 Wiener Juden vor der Schoah sind vielleicht einige hundert zurückgekommen. Die österreichischen Nachkriegsregierungen fanden lange nicht die richtigen Worte – oder gar Taten. Anstatt die vertriebenen Juden zur Rückkehr einzuladen, legte man ihnen bis in die 1980er Jahre eher Steine in den Weg.

Vor der Schoah war Wien eine Stadt mit einer großen jüdischen Gemeinde – mehr als 176.000 Menschen waren laut Volkszählung 1934 mosaischen Glaubens. Auch in anderen Städten in Österreich sowie in den berühmten sieben Gemeinden im Burgenland waren Juden ansässig. Dann kam die NS-Zeit und die Schoa. Und die blühenden jüdischen Gemeinden in Österreich wurden, wie in vielen anderen Ländern in Europa, vernichtet. Rund zwei Drittel der österreichischen Juden konnten fliehen, aber 65.000 wurden von den Nationalsozialisten und ihren Schergen während der sieben Jahre ermordet. Schätzungsweise überlebten nur etwa 500 Menschen jüdischen Glaubens als U-Boote in Wien.

Nach 1945 lebten zunächst nur wenige Juden hier, etliche zählten zu den sogenannten Displaced Persons, so wie auch mein Vater Ignatz, sein Bruder Mundek, die beide Mauthausen überlebt hatten, und Sascha, der dritte Bruder, der aus Auschwitz befreit worden war. Eigentlich wollten alle in Wien Gestrandeten weiterziehen, nach Palästina oder in die USA, und nur die wenigsten hier sesshaft werden. Nicht allen gelang es, auch mein Vater blieb in Wien, gründete eine Familie und eröffnete im Textilviertel am Salzgries sein Textilgeschäft.

Zwischenziel als Heimat

Langsam begann sich in Wien wieder eine kleine Gemeinde zu etablieren, zuerst waren es vor allem Juden aus Polen, Rumänien und Ungarn, die nach dem Krieg hierblieben. Wiener Juden, die vor den Nazis geflüchtet waren, kehrten indes nur sehr zögerlich zurück. Die Trendwende kam zugleich mit Rabbiner Akiba Eisenberg, der Ende der 1940er Jahre aus Ungarn nach Wien emigrierte. In Wiens einzigem erhaltenen Tempel in der Seitenstettengasse – alle anderen Synagogen waren von den Nazis zerstört worden – entfaltete sich jüdisches Leben.

Auch die Israelitische Kultusgemeinde nahm wieder ihre Arbeit auf. Anfang der 1950er Jahre zählte die jüdische Gemeinde in Österreich immerhin schon etwa drei- bis viertausend Menschen, die meisten davon lebten in Wien. Als Folge des Ungarnaufstandes 1956 wurde Wien zum Zwischenziel, die meisten Juden allerdings reisten in die USA oder nach Israel weiter.

In den 1970er Jahren wurde Wien für russische Juden das Tor zu Israel. Einige der mehr als 300.000 Juden, die von der Sowjetunion nach Israel auswandern durften, fanden sich im Gelobten Land nicht zurecht und kehrten nach Wien zurück, in der Hoffnung, von hier wieder in ihr ehemaliges Heimatland gelangen zu können. Doch die UdSSR nahm sie nicht mehr auf, sie blieben hier.

Trotz Anfangsschwierigkeiten wurden sie bald in die Gemeinde integriert, nicht zuletzt dank der Initiative einzelner Wiener Juden. Seit den 1980er Jahren bemüht sich Rav Biedermann von der Chabad-Bewegung intensiv um die bucharischen Juden. Er überzeugte sogar den damaligen US-Botschafter und nunmehrigen Präsidenten des World Jewish Congress, Ronald Lauder, die jüdische Gemeinde in Wien, aber auch viele jüdische Gemeinden in den ehemaligen Ostblockstaaten finanziell zu unterstützen, damit im „alten Europa“ wieder jüdisches Leben entstehen könne. Unter anderem wurde mit Lauders großzügiger Hilfe die Lauder-Chabad-Schule im zweiten und später der Lauder-Chabad-Campus im 19. Bezirk errichtet.

Heute leben in Österreich rund 15.000 Juden, die überwiegende Mehrheit davon in Wien, die Israelitische Kultusgemeinde zählt etwa 8.000 Mitglieder. Kleinere Gemeinden mit etwa je hundert Juden pro Stadt gibt es noch in Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck.

Im Herzen der Stadt

Die jüdische Gemeinde ist vielfältig und bunt: rund 4000 Aschkenasen, also Juden aus Nord- und Osteuropa; 2500 Bucharen, Juden aus der ehemaligen UdSSR, vor allem aus Tadschikistan und Usbekistan; sogenannte „Bergjuden“ aus Kaukasien und Juden aus Georgien, denen die IKG auch eigene Bethäuser eingerichtet hat. Auch die orthodoxe Gemeinde ist relativ groß, schätzungsweise betrachten sich etwa tausend Menschen als orthodox. Vor allem im zweiten Bezirk entfalten sie ein lebhaftes Gemeinwesen mit Bethäusern, Mikwe, koscheren Geschäften. Erst vor einigen Jahren errichtete Wien für orthodoxe Juden einen etwa 25 Kilometer langen Eruv, also eine Umgrenzung, innerhalb dessen die Schabbat-Regel, nichts zu tragen, außer Kraft gesetzt ist. Nach London und Antwerpen ist es erst der dritte Eruv in Europa.

Welche Bedeutung Österreich als Transitland für Juden aus der ganzen Welt hat, lässt sich auch an den persischen Juden ablesen: Sie flohen Ende der 1970er bis Anfang der 1990er Jahre aus dem Iran über Wien weiter in die USA und Israel. Einige haben sich auch in Wien niedergelassen. Gerade in den letzten Jahren siedelten sich etliche jüdische Familien aus der Ukraine in Wien an, wobei die Männer weiterhin ihren Geschäften in der Ukraine nachgehen, während die Frauen und Kinder aus Sicherheitsgründen in Wien leben. Diese Gruppe feiert die jüdischen Feiertage in Wiener Hotels, lässt dazu Rabbiner aus Israel oder aus den USA einfliegen und hat, ebenso wie die in Wien lebenden Israelis, wenig bis gar keinen Kontakt zur IKG.

Die IKG, die offizielle Vertretung der Juden in Österreich, blieb bis in die 1970er Jahre eher unbedeutend; die damals bestimmende Gruppierung war der sozialistische Bund, der viele Vermögenswerte der IKG verschleudert hatte. 1981 kam mit der politischen Gruppierung „Die Alternative“ unter den Präsidenten Ivan Hacker (1981–1987) und Paul Grosz (1987–1998) und deren Bemühungen um den Aufbau einer modernen Infrastruktur die Wende. Der Stadttempel wurde aufwändig saniert, das Gemeindezentrum in der Seitenstettengasse gebaut, ein jüdisches Restaurant mitten in der Stadt eröffnet und die Administration von der Außenstelle in der Bauernfeldgasse im 19. Bezirk in die Seitenstettengasse transferiert, sodass die wichtigsten Abteilungen und Einrichtungen wieder im jüdischen Herzen der Stadt waren. Der Komplex in der Bauernfeldgasse hingegen wurde zu einem modernen jüdischen Altersheim umgebaut, das erste nach dem Krieg. In der Castellezgasse im zweiten Bezirk eröffnete die Zwi-Perez-Chajes-Schule, Synagogen wurden, so es ging, restauriert oder neu installiert. Die sephardische Gemeinde erhielt ein eigenes Gemeindezentrum im zweiten Bezirk. Ja, es gibt in Wien Einrichtungen, von denen andere jüdische Gemeinden Europas nur träumen können: das psychosoziale Zentrum Esra beispielsweise, oder JBBZ, ein jüdisches berufliches Bildungszentrum, die beide weit über die Grenzen unserer Gemeinde und unseres Landes hinaus einen hervorragenden Ruf genießen.

Je mehr sich die Israelitische Kultusgemeinde im politischen Diskurs zu Wort meldete, umso mehr Gewicht gewann sie auch außerhalb der jüdischen Gemeinde. So begannen unter Präsident Paul Grosz die Verhandlung über die Restitution von arisierten Vermögen.

Auch unter der Präsidentschaft von Ari Muzicant wurde viel in die Infrastruktur der Gemeinde investiert: In den 2000er Jahren entstand auf dem restituierten Gelände des Hakoah-Sportklubs im Prater ein jüdischer Campus mit Kindergarten, der Zwi-Perez-Chajes- Schule und einem Sportzentrum; das Maimonides-Seniorenheim komplettiert den Campus der IKG.

Das jüdische Leben in Wien ist vielfältig, pro Monat finden oft mehr als zwanzig größere Events statt, es gibt karitative Organisationen, Schulen, Sportklubs, Vereine: Die Gemeinde in Wien bietet eine Infrastruktur für mehr als 30.000 Juden, doch sie zählt nur knapp 8000 Mitglieder.

Der große Wunsch der IKG unter Muzicants Präsidentschaft, Juden aus der ganzen Welt nach Wien zu locken, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil, es gab kaum jüdische Zuwanderung in den letzten Jahren. Anders als Berlin, wo schätzungsweise 30.000 Israelis leben, gilt Wien nicht als hip genug. Auch Versuche der IKG, Juden aus Ungarn zur Übersiedlung nach Wien zu bewegen, schlugen fehl. Und für Juden aus den ehemaligen Sowjetstaaten verunmöglicht es derzeit die Rot-Weiß-Rot-Card, in Wien sesshaft zu werden, während die deutsche Bundesregierung sogar ein eigenes Programm für die Ansiedlung russischer Juden organisiert hat.

Auch französische Juden, die wegen des steigenden Antisemitismus zu Tausenden emigrieren, haben als Ziel Israel, die USA oder Kanada, nicht aber Wien. Im Gegenteil ist es so, dass die junge Generation der Wiener Juden auswandert. Auch in meiner Familie sind drei meiner Neffen und Nichten nach Israel und in die USA ausgewandert; nur eine Nichte blieb und gründete hier ihre Familie.

Vielleicht hilft ja die Absicht der amtierenden Bundesregierung, ehemaligen österreichischen Juden, die durch den Holocaust ihre Heimat verloren, sowie ihren Nachkommen die österreichische Staatsbürgerschaft zu verleihen, dass Wiens jüdische Gemeinde wieder wächst.

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