Von Aneignungs- und Abkanzelungskultur

GAL GADOT as Diana Prince in the action adventure “WONDER WOMAN 1984,” a Warner Bros. Pictures release.

Freiheit der Kunst – guter wie schlechter – war einmal ein hohes Gut, für das Kunstschaffende und Intellektuelle auf die Barrikaden stiegen. Jetzt steigt man auf die virtuellen Barrikaden, um zu verbieten, was nicht den eigenen moralischen Ansprüchen genügt. Zuletzt kassierte „Wonder Woman“ Gal Gadot einen veritablen Shitstorm, als bekannt wurde, dass Paramount sie als Kleopatra besetzen möchte.

Von Andrea Schurian

Eine Israelin als Kleopatra? Als Paramount bekanntgab, das Wonder Woman-Dream-Team, die Regisseurin Patty Jenkins und die Schauspielerin Gal Gadot, für den Historienschinken Cleopatra neuerlich zusammenzuspannen, brach Wirbel los. Von Whitewashing und kultureller Aneignung war die Rede, eine Rassismusdebatte brandete auf. Die Filmjournalistin Hanna Flint wetterte im britischen Guardian von „Rückschritt“ und einer „vergebenen Chance“: Gadot sei zwar eine „nicht ganz so westliche Wahl“ wie ihre Vorgängerinnen Vivien Leigh oder Elizabeth Taylor, aber mit ihr werde der „weiße Standard“ fortgesetzt.

Auch durch die sozialen Medien fegte der bei solchen Angelegenheiten sowieso unvermeidliche Shitstorm. Eine in New Jersey beheimatete Ex-Miss witterte vielleicht ihre Chance auf überregionalen Ruhm, als sie twitterte: „Welcher Hollywood-Trottel hält es für eine gute Idee, eine israelische Schauspielerin (die noch dazu sehr farblos aussieht) als Kleopatra zu verpflichten anstatt einer umwerfenden arabischen Schauspielerin wie Nadine Ndschaim? Und Gal Gadot, schäm’ dich! Dein Land stiehlt arabisches Land und du stiehlst ihnen die Filmrollen.“ Die schwarze US-Schriftstellerin Morgan Jenkins formulierte deutlich versöhnlicher: „Ich bin mir sicher, Gal Gadot wird einen wundervollen Job als Kleopatra machen. Aber ich persönlich würde eine Kleopatra lieben, die dunkler ist als eine braune Papiertüte, weil das historisch genauer wirken würde.“

Andererseits hat Gadot angeblich griechische Wurzeln, was sie mit Kleopatra gemein hätte, denn auch deren Vater war griechisch-mazedonischer Herkunft. „Insofern“, schlussfolgerte der Bayerische Rundfunk, „wäre Gadot unabhängig von ihrem schauspielerischen Können sogar eine überraschend stimmige Kandidatin für die Titelrolle – ganz abgesehen davon, dass Kenner der nahöstlichen Geschichte nicht müde werden, auf die kulturelle Vielfalt im Römischen Reich hinzuweisen, die nationale Abgrenzungen, wie sie heute von einigen angestrebt werden, rückblickend völlig anachronistisch erscheinen lässt.“ Und in der Welt schrieb Alan Posener: „Galten die Juden den rechten Antisemiten als ‚Orientalen‘, die gefälligst nach Palästina zu verschwinden hatten, gelten sie heute linken Antisemiten als ‚Weiße‘, die gefälligst aus Palästina zu verschwinden haben – und aus Filmen, in denen sie ‚people of colour‘ darstellen. Es ist hochgradig dégoutant.“

Besonders empört waren freilich Ägyptens Intellektuelle – nicht zuletzt, weil Gal Gadot, die überhaupt erst die Idee zur Cleopatra-Verfilmung aufbrachte, in der israelischen Armee gedient hat – weshalb in Tunesien, Katar und Libanon Wonder Woman verboten wurde (im deutschsprachigen Raum ist der eher mäßig kritisierte Film Wonder Woman 1984 seit Mitte Februar auf der Streamingplattform Sky abrufbar).

Von der Hoch- über die Pop- bis zur Alltagskultur: Längst schwappt die Diskussion über Cultural Appropriation, kulturelle Aneignung, in sämtliche Bereiche. Ist es kulturelle Aneignung, wenn europäische Fashion-Designer afrikanische Stoffmuster verwenden, nicht-schwarze Musiker Blues, Jazz und Hip-Hop machen, Angehörige der sogenannten weißen „dominierenden“ Kultur mit Rastazöpfchen, Bindis, Saris und Kimonos herumlaufen?

Der US-Schriftstellerin Jeanine Cummins (übrigens Enkelin einer Puertoricanerin) wurde kulturelle Aneignung vorgeworfen, weil sie eine vor dem Drogenkartell flüchtende Mexikanerin zur Hauptfigur ihres Romans American Dirt machte. Diese Thematik sei mexikanischen Autorinnen und Autoren vorbehalten, so der Protest. Diese Ethnisierung, warnt denn auch Zeit-Feuilletonist Thomas Assheuer, spiele allerdings eher den Rechten in die Hände, die Gesellschaft wäre dann nur noch eine Ansammlung aus isolierten Identitätsbesitzern, die in ihren Gated Communities und in spektakulärer Sprachlosigkeit aneinander vorbeilebten: „Ein jeder wäre der Eingeborene einer Gefühlskultur, die in Erwartung ihrer jederzeitigen Kränkbarkeit eifersüchtig bewacht und unter Naturschutz gestellt wird. Es ist nicht leicht, dieses Denken vom Essentialismus rechter Ideologen zu unterscheiden.“

Die an der Uni Klagenfurt lehrende Schweizer Philosophin Ursula Renz hält die Idee des „kulturellen Eigentums“ eher für problematisch. Kultur sei immer auch Kulturtransfer, Elemente anderer Kulturen zu übernehmen stelle an sich keine moralische Verfehlung dar. Kulturen, so Renz weiter, seien nie unveränderlich, sie ließen sich nicht auf feststehende Eigenschaften reduzieren: „Das Aneignen selber ist Kultur. Das finden wir in der ganzen Kulturgeschichte immer wieder: in der Literatur, in der Musik, in der Philosophie.“

Verbale Neophyten

 Cancel Culture, Wokeness, Political Correctness, Critical Whiteness Movement, Safe Spaces oder Cultural Appropriation: Verbale Neophyten verdrängen das Widerständige, Tabulose in der Kultur. Meist kommt der Protest von rechts, neuerdings kommt der Kunst- und Bildersturm aber oft von der eher links verorteten Wokeness-Bewegung, also von jenen woken (= wachen) Menschen, die Diskriminierung von Minderheiten, Intoleranz, Rassismus bekämpfen. Wer oder was einem nicht passt, soll von der Bildfläche verschwinden, presto und rückstandsfrei. Tatsächlich können manche gar nicht so schnell schauen, wie sie kulturell abgekanzelt und gecancelt werden.

Harry Potter-Erfinderin Joanne K. Rowling beispielsweise wurde buchstäblich unter einem Shitstorm begraben, ihre Todesanzeige wurde fleißig in der weiten Twitterwelt verteilt. Grund für die Empörung: Der Serienkiller in ihrem (unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlichten) Krimi Trouble Blood verkleidet sich als Frau, ehe er ans Mordhandwerk geht, die Unterwäsche der Opfer dient seiner sexuellen Befriedigung. Das sei transphob, lautet das twitteröse Todesurteil über die Autorin und deren Plot (der an Brian De Palmas Psychothriller Dressed to Kill aus den 1980ern erinnert, in dem Michael Caine als psychopathischer Therapeut mit blonder Perücke und in Damenkleidern sein mörderisches Unwesen treibt). Man empfahl, ihre Bücher sofort zu verkaufen und den Erlös an Transgender-Organisationen zu spenden. Immerhin ein gütigerer Vorschlag als der zur Bücherverbrennung. Gab’s nämlich auch; und das müffelt, auch wenn es von links kommt, ziemlich braun.

N-Wort

Hollywoodstar Viggo Mortensen wurde einmal in einem Kurier-Interview gefragt, was er Kritikern entgegne, weil er in einer Filmszene das „N-Wort“ in den Mund genommen habe. Freilich ist das N-Wort zu Recht verpönt, weil es diskriminierend und herabwürdigend ist. Aber in einer Filmszene! Der Film, um den es ging, war Green Book – Eine besondere Freundschaft, ein mit drei Oscars prämiertes Roadmovie durch den Rassismus im Amerika der 1960er Jahre mit hollywoodeskem Happy End. Und, ja, ganz gewiss war das N-Wort damals gebräuchlich. Bekanntlich sprach auch Martin Luther King 1963 in seiner berühmten Rede „I have a dream“ noch von „negroes“. Ein Jahr später wurde in den USA die Rassentrennung in allen zivilen Bereichen durch den Civil Rights Act abgeschafft, nicht aber das N-Wort. 1984 thematisierte der Duden endlich dessen abwertende Bedeutung, aber erst zwanzig Jahre später, nämlich 2004, empfahl er in einem Newsletter die endgültige Eliminierung aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. Nur tief im Ewiggestrigen steckengebliebene Menschen empfinden es auch noch im 21. Jahrhundert als „ganz normales deutsches Wort“ (© Andreas Mölzer).

Musiker Doc Shirley (Mahershala Ali) und sein Chauffeur Tony Lip (Viggo Mortensen) 1962 in „Green Book“ unterwegs durchs amerikanische Hinterland. Das im Film verwendete „N-Wort“ kam 2018 trotz Oscar nicht mehr so gut an. ©UNIVERSAL PICTURES/DREAMWORKS

Doch abgesehen von solch doch einigermaßen irritierender Unbelehrbarkeit und auch abgesehen von dem Hollywood-Roadmovie Green Book: Muss zeitgeschichtliche Authentizität künftig politisch korrekter Nachbearbeitung geopfert werden? Wie kann künstlerische oder wissenschaftliche Auseinandersetzung mit damaligem (und teils noch heutigem) Rassismus überhaupt aussehen, wenn man die inkriminierten Wörter verschweigt, als ob sie nie existiert, nie verletzt, nie diskriminiert hätten?

Gibt es dann an Universitäten, so wie es angeblich in den USA bereits der Fall ist, Safe Spaces und Trigger Warnings, damit Studenten nicht mit harten Tatsachen der Geschichte, der Literatur, der Kunst konfrontiert werden? Darf ohne Triggerwarnung im Unterricht nicht mehr über Sklaverei, Rassismus, Holocaust, Kolonialismus, Unterdrückung gesprochen werden? Von Rubens über Schiele bis zum Wiener Aktionismus müssten allerhand Akte und verstörende Werke aus der Kunstgeschichte gestrichen werden. In der Zeit schrieb ein Professor einer amerikanischen Uni, Studentinnen und Studenten der Columbia University verlangten, dass sie vor dem traumatisierenden Inhalt von Ovids Metamorphosen gewarnt werden müssten. Wird dann auch Philip Roths Roman Der menschliche Makel mit dem „weißen Neger“ Coleman Silk als Protagonisten vom Literaturlehrplan gestrichen oder wenigstens umgeschrieben – so wie schon Astrid Lindgrens Neger – zum Südseekönig mutierte?

Diverse Oscars

Wie dem auch sei, zumindest die Oscars sollen ab 2024 diverser werden – und zwar vor und hinter der Kamera: mehr Frauen, mehr Menschen mit Behinderungen, mehr Angehörige von Minderheiten und der LGBTQI-Bewegung. Wahlweise muss sich der Film um Frauen, LGBTQ-Menschen, eine unterrepräsentierte Gruppe oder Menschen mit Behinderung drehen; oder einer der Hauptdarsteller muss einer ethnischen Minderheit angehören, also beispielsweise eine dunkle Hautfarbe haben; oder mindestens 30 Prozent der Darsteller gehören zu einer der aufgezählten Minderheiten. Zumindest bei der sexuellen Orientierung klingt das äußerst problematisch: Muss man das, was gemeinhin unter „Privatangelegenheit“ firmiert, künftig öffentlich machen?

Gal Gadot hat übrigens schon das nächste Projekt in Planung. Und das klingt ganz so, als würde es wieder einigen Staub aufwirbeln: Sie möchte Dorit Rabinyans Roman Gader Chaija (Wir sehen uns am Meer) verfilmen. Anhand der Liebesgeschichte zwischen der israelischen Studentin Liat und dem palästinensischen Maler Chilmi verhandelt Rabinyan politische, ethnische und religiöse Konflikte. Das Buch wurde übrigens vom israelischen Bildungsministerium als Schullektüre verboten, weil es die „getrennten Identitäten von Juden und Nichtjuden“ gefährde. Ja, auch das ist Cancel Culture – von oberster Instanz. Früher nannte man es Zensur.

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