Für mehr Achtsamkeit

Also, the boy and his mother aren't pleased with this photo.

Die überhitzte Debatte über Wokeness und Cancel Culture erlaubt kaum noch einen neutralen Blick auf viele der ihr zugrunde liegenden Ursachen. Und sie wird dann gefährlich, wenn über sogenannte Sonderrechte für Minderheiten geklagt wird.

Von Michael Pekler

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Früher diskutierte man in philosophischen Runden darüber, wovon man eigentlich sprechen könne – und mit Wittgenstein war dann, ganz im Sinne des Genies, der Schlusspunkt der Debatte erreicht. Dabei ging es natürlich um die Wichtigkeit – und also Bedeutung – der Sprache für das Dasein des Menschen. Klingt komplizierter, als es ist: Im Prinzip könnte man sich, salopp formuliert, das ganze metaphysische Gequatsche auch sparen, weil – wie schon der eigenwilligste Grundschullehrer Österreichs wusste – es einfach galt, „nichts zu sagen, als was sich sagen lässt.“

Die aktuelle Debatte über sogenannte Cancel Culture könnte so beschrieben werden: Was man nicht mehr sagen darf, darüber muss man reden. Sprechen können ist nämlich keine Kunst, schließlich hat jeder eine Meinung. Zu allem und vor allem in sozialen Netzwerken. Sag mir deine Meinung, und ich bestimme dir deine Identität beziehungsweise – wenn schon nicht, wer du bist – zumindest wo du hingehörst. Jedenfalls nicht zu mir.

Doch es ist eine Diskussion, die sich immer weiter von ihrer eigentlichen Ursache entfernt. Das merkt man daran, dass sich ein „Beispiel“ an das nächste reiht, ohne die entsprechenden Hintergründe zu beleuchten. Wobei es vor allem den Kritikern der Cancel Culture offensichtlich ein Anliegen ist, die Begriffe willentlich zu vermischen. Auch mit dem inflationären Einsatz der Zuschreibungen Wokeness und Political Correctness hat man der Debatte bislang keinen guten Dienst erwiesen. Denn ähnlich wie mit den Zuschreibungen Populismus und Neoliberalismus wird auch hier allzu oft bewusst ideologisches Kleingeld gewechselt.

Für Ausgewogenheit und Abwägung ist kein Platz, ein Für und Wider ist selten gefragt. Hier die prinzipielle Ablehnung von allem, dem scheinbar der Geruch von vorauseilender Selbstzensur oder gar indirekter Zensur anhaftet; auf der anderen Seite oft ein wenig ausgeprägtes Verständnis dafür, dass sich Menschen schnell gemaßregelt sehen, wenn sich soziale Verhaltensweisen und Perspektiven ändern und zu ungeschriebenen Vorschriften werden, die eben nicht im Gesetzbuch stehen. Wobei schon gesagt werden muss: Von Begriffen wie Zensur und Diktatur (aktuell: „Corona-Diktatur“) für einen geänderten Sprachduktus und für neue soziale Verhaltensregeln sollte jeder Abstand nehmen, der derartigen Herrschaftsformen und -instrumentarien noch nicht unterworfen war.

Was man noch sagen darf

Gemeinsam ist Gegnern und Befürwortern – aber wovon eigentlich konkret? – allenfalls eine selten zu beobachtende Emotionalisierung. In den sozialen Medien wird befeuert, im internationalen Feuilleton wiederum liest man, wie Gastautoren die Debatte stimmungstechnisch aufheizen, Gegenkommentare verfasst werden, Anlässe als Präzedenzfälle betrachtet und dazwischen kleine nationale Strohfeuer abgefackelt werden – und seien es solche rund um eine österreichische Kabarettistin, die sich mit antisemitischen Witzen hervortut. Und damit eine deutliche Steigerung der Verkaufszahlen ihres aktuellen Buchs vorweisen kann. Unter dem Strich steht dann meist die Frage, ob man denn eigentlich etwas Bestimmtes noch sagen oder tun darf, worauf die einen mit ja antworten („Das wird man wohl noch sagen dürfen“ oder „Das hab ich schon immer gesagt, aber nie so gemeint“) und die anderen mit nein („Du weißt aber schon, dass sich das nicht mehr gehört“). In Wahrheit ist es so, dass man, so man sich in einer liberalen Demokratie bewegt, nach wie vor alles sagen kann, was keine strafrechtlichen Konsequenzen nach sich zieht. Man muss nur gegebenenfalls mit Widerspruch rechnen. Tatsächlich jedoch ist die ganze Aufregung – und das ist nicht ganz unwichtig – den an der Debatte Unbeteiligten, also den meisten anderen Leuten, egal. Das ist gesellschaftspolitisch prekär, weil als Anstifter der Diskussion eine sogenannte liberale Elite ausgemacht wird, mit der man nichts zu tun habe. Doch dazu später.

Das größte Problem der Wokeness- und Political-Correctness-Kritik, die dann meist flott in den Vorwurf des Canceling mündet, besteht darin, dass von ihren Vertretern zunächst geglaubt wird, was in die eigene Erwartungshaltung passt. Das ist weder neu noch spezifisch. Konkret auffällig ist jedenfalls, dass vor allem europäische Kritiker mit Blick auf die USA, wo man die Wurzel des Übels zu erkennen glaubt, gerne die Dinge nach der eigenen Außenperspektive beurteilen. Etwa wenn das Klischee vom politisch korrekten US-Campus so lange strapaziert wird, bis es sich in der allgemeinen Vorstellung festgesetzt hat – ohne zu berücksichtigen, dass dieses Vorurteil faktisch nicht bestätigt werden kann. Dennoch diskutiert man lieber darüber, dass angeblich an einer Eliteuni ein Professor nicht mehr allein mit einer Studentin denselben Lift benützen darf, selbst wenn von tausenden vergleichbaren Institutionen keinerlei derartige Beobachtungen gemacht werden können. Nicht so schlimm, könnte man nun behaupten, doch gefährlich wird es, wenn man Betroffene (hier: Frauen) mit dem Argument in Misskredit bringt, es ginge nur um private Begehrlichkeiten. Genau das ist aber jene zentrale Perspektive, die in der Diskussion längst untergegangen ist – so sie überhaupt je eine Rolle gespielt hat. Denn tatsächlich geht es fast immer um etwas anderes: um sogenannte Identitätspolitik.

Gründe und Grundrechte

Nicht zufällig sprechen Kritiker der sich angeblich epidemisch verbreitenden Cancel Culture deshalb oft von zunehmend bizarren Sonderrechten und skurrilen Privilegien, die im Zuge von Wokeness eingefordert werden würden. Die Nutznießer wären jene „dauerbeleidigten Minderheiten“ – zu denen bizarrerweise oft Frauen gerechnet werden –, die der Mehrheit ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen aufoktroyierten und sich als Opfer darstellten, obwohl ausgerechnet sie mit ihrer Intoleranz gegenüber der Mehrheit längst zu Tätern geworden seien.

Dass die Kritik an diesen Bewegungen, die – wenig erstaunlich – hauptsächlich aus dem konservativen Lager kommt, sich vornehmlich auf „Auswüchse“ konzentriert – hier eine Absage einer Kulturveranstaltung, da eine Ausladung von einer Lesung, dort eine fragwürdige Hollywood-Besetzung –, ist dem Umstand geschuldet, dass man eben lieber auf medienwirksame Einzelfälle blickt, über die man sich sehr praktisch aufregen kann. Das nennt man Durchlauferhitzer. Doch das hat Folgen. Denn es sollte nicht bewusst missachtet werden, worum es bei Wokeness eigentlich geht: nicht um die Gurtpflicht beim Autofahren oder rauchfreie Lokale – dagegen kann man ja mehrheitlich, sieht man sich in seiner persönlichen Freiheit von einer Minderheit eingeschränkt, ein Volksbegehren einbringen. Sondern ganz pragmatisch zunächst einmal um das Einfordern von Grundrechten.

Betrachtet man etwa die beiden wesentlichen, von den USA ausgehenden gesellschaftspolitischen Bewegungen der jüngsten Zeit, die mit der Debatte unmittelbar in Zusammenhang stehen, nämlich Black Lives Matter und MeToo, geht es hier jedoch keineswegs um irgendwelche absurden identitätspolitischen Begehrlichkeiten, sondern zuvorderst um das legitime Einfordern und die Aufrechterhaltung eben dieser Grundrechte. In der Diskussion rund um Identitätspolitik bleibt das jedoch fast immer ausgespart. Dass man nicht von der Polizei erschossen oder erstickt werden darf, weil man als Schwarzer zufällig am falschen Ort ist; dass man als Frau nicht von Männern belästigt oder gar vergewaltigt werden darf, wird dabei selbstverständlich nicht in Abrede gestellt, aber in den Hintergrund gerückt – so lange und wissentlich, bis „Wokeismus“ mittlerweile aufgrund einer ihm zugeschriebenen „ideologischen Reinheit“ vereinzelt gar mit Islamismus verglichen wird.

Das antiliberale Spiel

„Wir müssen uns vor einer Gesellschaft furchtsamer Menschen fürchten“, so der politische Theoretiker Jan-Werner Müller, Autor des Buchs Furcht und Freiheit „Wenn Mehrheiten vermittelt wird, dass sie eigentlich so etwas wie gefährdete Minderheiten seien, dass sie sich zur Wehr setzen müssen gegen die Minderheiten, die wirklich verwundbar sind, dann kommt die Grausamkeit ins Spiel.“ Soll heißen: Wer ständig gesagt bekommt, dass er mittlerweile eine gefährdete Minderheit sei – als Weißer in den USA, als nationalbewusster Österreicher in Europa, als Wiener in Favoriten – wird Unterdrückung, Diskriminierung und Grausamkeit gegenüber tatsächlich Schwachen eher tolerieren. Wenn diejenigen, die hier für entsprechende Wachsamkeit plädieren, überdies als Vertreter einer liberalen Elite gebrandmarkt werden – man erinnere sich an die beiden vergangenen US-Wahlkämpfe mit entsprechenden Aussagen Donald Trumps und jene zahlreicher europäischer Rechtspopulisten –, der nicht am Wohl des „wahren Volkes“ gelegen sei, das eigentlich die Mehrheit bildet, aber diesem vorschreibe, was es zu sagen habe oder nicht mehr sagen dürfe, dann spielt man bewusst die antiliberale Karte.

Wenn etwa die Plattform cancelculture.de ein Register gecancelter Personen und Institutionen erstellt, das von ACU-Austria (Außerparlamentarischer Corona Untersuchungsausschuss Austria) über das rechtsextreme, antisemitische Videospiel Heimat Defender bis zum offen rassistischen und homophoben Sänger Xavier Naidoo reicht, ergibt sich folgende Frage: Geht es hier tatsächlich noch um „Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt“, wie die Betreiber behaupten? „Jeder, der frei und vollständig sagt, was er denkt, leistet dem Ganzen einen Dienst. Wir sollten ihm dafür danken, dass er schonungslos unsere liebsten Meinungen angreift“, zitiert die Plattform als Motto ausgerechnet John Stuart Mill. Das spiegelt ein grundlegendes Problem der Debatte wider: die unterschiedliche Auffassung dessen, was „das Ganze“ eigentlich sein soll bzw. die Vereinnahmung des „Ganzen“, zu dem manche nicht dazugehören (sollen). Mill („experiments in living“), Utilitarist und Ökonom, hatte als liberaler Vordenker des 19. Jahrhunderts keine Scheu vor Nationalismus und Kolonialismus. Das „Ganze“, dem man dieser Interpretation zufolge einen Dienst leiste, indem rücksichtslos alles gesagt und getan werden kann, meinte Mill mit Sicherheit aber nicht.

Rassistische Ausdrücke zu kommentieren (oder Literatur, Bücher und Denkmäler zu „kontextualisieren“) ist also keine Besserwisserei der Spätgeborenen, sondern demokratiepolitischer Fortschritt. Sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen bedeutet weder sie umzuschreiben noch sie ins museale Eck des Vergessens zu räumen. Dass man etwa auf einer Kinoleinwand kein Blackfacing mehr ertragen muss, bei dem sich Weiße schwarze Schuhcreme ins Gesicht schmieren, und weiße Hollywoodstars nicht mehr mit Federschmuck um ein Lagerfeuer tanzen, hat nichts mit politischer Korrektheit oder Cancel Culture zu tun, sondern mit der Überwindung von Rassismus, Menschenverachtung und Diskriminierung – und sollte als Schritt in die richtige Richtung gesehen werden. Natürlich kann man international agierenden Konzernen, vorwiegend mit US-amerikanischem Firmensitz, vorwerfen, mit vorgetäuschter Wokeness in Wahrheit nur die Marketingkarte zu spielen. (Der Streaminganbieter Netflix hat etwa kulturelle Diversität in seiner Programmgestaltung perfektioniert und kann sich gar den Vorwurf eines „positiven Rassismus“ gefallen lassen). Es kann einem auch widerstreben, dass altehrwürdige Institutionen wie die für die Oscarverleihung zuständige Academy oder das Nobelkomitee der Schwedischen Akademie sich dem identitätspolitischen Druck „gebeugt“ haben und eine Änderung von Besetzung und Statuten zugelassen haben. Doch auch hier gilt: Benachteiligt waren bislang einzig jene, die keine Stimme hatten und diskriminiert wurden – und nicht jene, die nun meinen, ihre Stimme zu verlieren, weil sie ihnen genommen oder gar verboten werden würde.


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