„Die Leute sagen einem das auch ins Gesicht“

Eva Zeglovits (IFES) präsentiert die „Antisemitismus-Studie 2020“ in der Wiener Hofburg und erklärt die gestiegene Sensibilität in der Bevölkerung. ©APA/HELMUT FOHRINGER

Die Studie „Antisemitismus 2020“ kommt zwar zum Schluss, dass die Abneigung gegen Juden etwas zurückgegangen ist, doch an den Rändern der Gesellschaft wird es schriller. Ein Gespräch mit der Studienleiterin Eva Zeglovits (IFES) und dem Koordinator der Studie, Thomas Stern (Braintrust).

Von Michael J. Reinprecht

NU: Der aktuelle Antisemitismus-Bericht der IKG spricht von einer starken Zunahme antisemitischer Vorfälle, insgesamt werden 585 Fälle dokumentiert. Ihrer Studie zufolge sind antisemitische Einstellungen aber zurückgegangen. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Eva Zeglovits: Ein Erklärungsansatz dürfte am Zeitpunkt der Befragung liegen, die vom 10. November bis Mitte Dezember 2020 stattfand. Das war kurz nach dem islamistischen Terroranschlag in Wien. Das Thema war also noch sehr präsent. Wir vermuten, dass die Menschen deshalb ihr Vorurteil nicht so deutlich geäußert haben.

Und das heißt?

Zeglovits: Dass das Attentat, das ja in unmittelbarer Nähe zur Synagoge stattgefunden hat, zu sozial gewünschtem Antwortverhalten geführt hat, weil man nun nicht mehr daran anstreifen wollte, was man vor zwei Jahren vielleicht noch leichter gesagt hätte. Ich glaube nicht daran, dass Antisemitismus in zwei Jahren um etliche Prozente runtergeht. Sondern dass – positiv formuliert – die Sensibilität dafür steigt, dass Antisemitismus eben nicht in Ordnung ist.

Thomas Stern: Wir haben für unsere wissenschaftliche Studie 2000 Leute mit anerkannten Systematiken und Methoden befragt. Die IKG nimmt Meldungen zu Vorfällen entgegen, wir messen Einstellungen. Außerdem glaube ich, dass der IKG-Bericht nur eine minimale Fraktion des wahren Geschehens abbildet. In Wahrheit sind es tausende Vorfälle mehr, vor allem in der Kategorie „persönliche Beleidigung“, wenngleich ich davon überzeugt bin, dass sich in den letzten Jahrzehnten einiges geändert hat. Ich habe in meiner Schulzeit noch „Saujud“ gehört, meine Kinder hören das nicht mehr. Ob sich die Meinungslandschaft in Bezug auf Antisemitismus in Österreich auch abseits der Zeitfaktoren Terrorismus, Corona etc. geändert hat, werden wir in zwei Jahren wissen, wenn wir die Feldarbeit 2022 wiederholen.

Zeglovits: Vermutlich haben die gegensätzlichen Phänomene – die Anzeigen wegen Antisemitismus nehmen zu, während die Studie sinkenden Antisemitismus anzeigt – eine gemeinsame Ursache: Je mehr in der Gesellschaft über Antisemitismus diskutiert wird, umso mehr wird man sich dessen auch bewusst und das Antwortverhalten wird vorsichtiger. Antisemitismus wird offensichtlich lauter und sichtbarer, aber nicht notwendigerweise mehr. Auf Anti-Corona-Demos haben die Menschen eine Plattform, sie schreien ihre antisemitischen Einstellungen hinaus und werden gehört.

Aufgrund des Lockdowns mussten Sie die Interviews telefonisch oder online führen. Können sich die Leute da nicht leichter hinter Anonymität verstecken?

Zeglovits: Das haben wir ursprünglich auch befürchtet. Aber in der Studie 2018 haben wir alle Befragungsmethoden kombiniert (face-to-face, telefonisch, online), und es ist herausgekommen, dass gar kein Unterschied besteht.

Stern: Ich kann das bestätigen, es gab keine relevanten Abweichungen. Auch unsere anfänglichen Vermutungen, wir würden online viel extremere Antworten bekommen, haben sich nicht bestätigt. Es gibt keinen Unterschied zwischen online und face-to-face. Die Leute sagen einem das auch ins Gesicht.

Manche Statements der Studie klingen allerdings nicht so, als sei die Umfrage ergebnisoffen geführt worden. Einiges klingt nach Fangfrage, etwa: „Die meisten Juden sind außergewöhnlich intelligent und wohlhabend.“

Zeglovits: Diese Aussage klingt wirklich vermeintlich positiv. Wenn man das als Fangfrage bezeichnet, ja gerne. Allerdings haben wir bereits in der ersten Studie 2018 gesehen, dass viele Leute, die das abnicken, anderen antisemitisch konnotierten Feststellungen zustimmen. Dahinter steht eine Tendenz: Nämlich, dass man einer Gruppe gemeinsam Attribute zuschreibt, was in der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ja genau das Problem ist: Diese Gruppe ist nicht „wir“, sondern „die anderen“. In der Nachfrage werden antisemitische Vorurteile wiederholt, und man merkt, dass jene, die der vermeintlich positiven oder neutralen Aussage zustimmen, dies auch bei rassistischen, negativen Verallgemeinerungen und abwertenden Aussagen tun.

Eine weitere Frage, die mich aufhorchen ließ: „Wenn ich jemanden kennenlerne, weiß ich in wenigen Minuten, ob dieser Mensch Jude ist.“

Stern: Unser Frageninstrumentarium wurde zu einem nicht unwesentlichen Teil bereits 2018 entwickelt. Und es ging uns auch darum, einen wissenschaftlich-historischen Kontext herstellen zu können. Eine ähnliche Frage wie jene, die Sie aufhorchen ließ, wurde schon 1968 von der sozialwissenschaftlichen Studiengesellschaft gestellt. Hier sehen wir eine Entwicklung: Die Zustimmung zu dieser Frage hat sehr deutlich abgenommen.

Wie sieht das im internationalen Vergleich aus?

Stern: Auch da haben wir unser Instrumentarium genau überprüft und unsere Fragen im Vorfeld mit einer umfassenden Oxford-Studie von 2019 verglichen. So stimmen beispielsweise der Aussage „Juden haben das Coronavirus erschaffen, um die Wirtschaft lahmzulegen und finanziellen Profit daraus zu ziehen“ sieben Prozent der Briten zu, aber nur drei Prozent der Befragten in Österreich. Und zur Zuschreibung „intelligent und wohlhabend“: Uns interessierte ein möglicher Zusammenhang mit verschiedensten Formen von rassistischem, christlichem, bis hin zu sekundärem und Israel-bezogenem Antisemitismus. Wir haben quasi Kontrollfragen entwickelt. Also etwa korrelierend zur Aussage „Die Juden haben international zu viel Einfluss“ die Feststellung „Die Juden haben in Österreich zu viel Einfluss“ abgefragt. Die Zuschreibung internationaler Macht ist viermal so groß wie die der lokalen Macht – was in gewisser Weise die Medienberichterstattung reflektiert.

Korreliert latenter Antisemitismus mit Bildung oder mit Alter?

Zeglovits: Bildung ist ein ganz starker Hebel. Das kann daran liegen, dass Menschen mit formal höherer Bildung viel sensibler sind bezüglich gemeinsamer gesellschaftlicher Werte und daher eher erkennen, was man besser nicht sagt. In sozialwissenschaftlichen Studien ist das immer wieder festgestellt worden. Formale Bildung heißt, dass man ein meist staatliches Institutionensystem durchlaufen und dessen Werthaltungen kennenlernt hat. Man weiß, was gut und was schlecht ist, was erlaubt ist und was nicht. Aber ich tu mir ein bisschen schwer zu sagen, dass Bildung vor Antisemitismus schützt. Ja, vielleicht. Vermutlich schützt Bildung zumindest davor, dass man sich antisemitisch äußert. Bezüglich des Alters hat sich bei den meisten Fragen eine Tendenz herausgestellt: Junge Menschen sind weniger antisemitisch, wenngleich das nicht für alle gilt.

Stern: Man kann sagen, junge Menschen sind grundsätzlich weniger antisemitisch, aber beim Israel-bezogenen Antisemitismus stimmt das nicht.

Was bedeutet die Kategorie des „Non-Antisemitismus“ in Ihrer Studie?

Zeglovits: Beim „Non-Antisemitismus“ handelt es sich um eine Grundhaltung, die ein normales, entspanntes Verhältnis zu Jüdinnen und Juden abbildet. Wir haben es hier mit zwei Aussagen zu tun, nämlich bezüglich des jüdischen Beitrags zur Kultur Österreichs und der Verantwortung gegenüber der Geschichte. Unabhängig davon kann man auf andere Fragen antisemitisch reagieren, also gleichzeitig auf pseudo-rationale antisemitische Aussagen hineinfallen. Nur weil jemand der Meinung ist, dass wir eine historische Verantwortung haben, heißt das nicht zwingend, dass er oder sie nicht auch der Meinung ist, dass es die große Weltverschwörung gibt. Das macht es so brisant.

Es heißt oft, dass der rechte Antisemitismus weniger wird, während der aus dem arabisch-türkischen Raum „importierte“ Antisemitismus zunimmt. Stimmt das?

Zeglovits: Wir haben bereits in der Studie von 2018 gesehen, dass Gruppen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund deutlich höhere Zustimmungsraten zu antisemitischen Aussagen haben – und zwar phasenweise um einen Faktor von drei, vier, fünf. Die Frage ist nur: Wie kann das sein bei Menschen, die hier in die Schule gegangen sind?

Stern: Man spricht oft von einem importierten Antisemitismus. Das ist nach unserer Untersuchung nicht wirklich der Fall. Bei der Umfrage 2018 haben wir hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund befragt und nicht solche, die erst 2015 eingewandert sind. Also Menschen, die hier aufgewachsen oder geboren sind. Da kann man nicht von importiertem Antisemitismus sprechen. In diesen Gruppen mit Migrationshintergrund ist es zu einer Verfestigung eines in Österreich erworbenen antisemitischen Narrativs gekommen. Das finde ich eigentlich schlimmer als einen importierten Antisemitismus. Wir haben 2018 auch gesehen, dass es teils einander scheinbar widersprechende Antworten gab. Durchaus Zustimmungen zur historischen Verantwortung, obwohl die meisten dieser Befragten oder deren Eltern 1938 gar nicht in Österreich gelebt haben, und trotzdem Zustimmung zu pseudorationalen Antisemitismus-Aussagen.

Wie lautet die Conclusio der Studie?

Zeglovits: Ich würde die Studie so zusammenfassen, dass antisemitische Aussagen, die dem affektiven Antisemitismus zuzuordnen sind, im niedrigen einstelligen Bereich rangieren. Aber bei den pseudorationalen Aussagen ist der Prozentsatz schon viel höher, was damit zu tun hat, ob und wie stark Menschen zu Verschwörungsmythen tendieren.

Das deckt sich mit dem, was man so im täglichen Leben wahrnimmt.

Stern: Richtig. Im Zusammenhang mit den Verschwörungsmythen möchte ich noch ergänzen: IFES hat zwei Fragebatterien entwickelt, um den Hang zu Verschwörungsmythen zu messen, die ursächlich mit dem Antisemitismus-Thema aber nichts zu tun haben. Also zum Beispiel „Geheime Organisationen bestimmen unser Leben“ oder „Politik und Medien stecken unter einer Decke“. Oder: „Das Corona-Virus wurde als biologische Waffe erfunden und freigesetzt“. Die Studie weist nach, dass es eine Korrelation zwischen Verschwörungsmythen und Antisemitismus gibt: Je höher der Hang zu Verschwörungsmythen, umso größer ist auch der Antisemitismus der Befragten. Mit „Juden haben das Coronavirus erschaffen“ oder „Eine mächtige und einflussreiche Elite (Soros, Zuckerberg, Rothschild) nützt die Coronapandemie, um ihren Einfluss auszubauen“ haben wir den Komplex Macht, Einfluss und Elite näher betrachtet. Es ist spannend, wie sich das Antwortverhalten verändert. Wenn ich also Verschwörungsmythen mit Antisemitismus zusammenbringe, dann habe ich sechzig Prozent Zustimmung.

Zeglovits: Und diese Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, sind auch unzufrieden mit unserer Demokratie. Sie wollen den „starken Mann“ und glauben auch nicht den etablierten Medien, sondern informieren sich auf alternativen Plattformen.

Sind Konsumenten sozialer Medien eher anfällig für Antisemitismus als Nutzer klassischer Medien?

Zeglovits: Das Medienvertrauen ist ein wichtiger Punkt. Und wir konnten die allgemeine Vermutung mit Zahlen belegen: Wenn Menschen Vertrauen in alternative Medien haben, Influencern folgen und deren Aussagen vertrauen, sind sie viel antisemitischer eingestellt – was wiederum mit dem Glauben an Verschwörungstheorien zusammenhängt.

Stern: Wenn man die Geschichte der Verschwörungsmythen nimmt, dann liegt der Antisemitismus als Urmutter der Verschwörungsmythen da. Das trifft sich dann halt.


Alle Ergebnisse, ein ausführlicher Analysebericht und internationale Vergleiche sind unter www.antisemitismus2020.at zugänglich.

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