Wien, wir haben ein Problem

ÖB Berlin, CC BY 2.0 , via Wikimedia Commons

Kommentar von Rainer Nowak

Verstehen wir es als alte österreichische Tradition. Nur eben als keine gute. Probleme werden möglichst lange ignoriert, verharmlost und kleingeredet. Politik, Publizistik und anders vermeintlich Verantwortliche hoffen auf die wundersame Selbsterledigung beziehungsweise Lösung. Fast wichtiger ist ihnen, die gesellschaftliche Stimmung nicht zu verschlechtern. Im Gegensatz zur vielzitierten Ingeborg Bachmann: Die Wahrheit ist den Menschen eben nicht zumutbar.

Das war zu beobachten, als vor fünf Jahren erstmals bei einer Antisemitismus-Studie (im Auftrag des österreichischen Parlaments) neben einem repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt Personen mit arabischem und türkischem Migrationshintergrund gesondert oder besser: zusätzlich befragt wurden. Rassistisch sei dies und impliziere vorab, dass es einen eigenen arabischen Antisemitismus gebe. In einem Land mit nationalsozialistischem und katholischem Antisemitismus sei dies besonders infam, tönte der Empörungschor. Gleich vorweg: Die Annahme, dass es im Vergleich zum durchschnittlichen Antisemitismus in Österreich eine höhere Judenfeindlichkeit unter den Befragten mit erwähntem Migrationshintergrund gibt, erwies sich als richtig. Seit 2018 hat sich das kaum verändert. Zumal der Antisemitismus immer auch mit seinen hässlichen Geschwistern Antiamerikanismus und Verschwörungstheorien auftritt. Das wiederum ist bei alten und neuen antisemitischen Österreichern gleich.

Die Krisen der vergangenen Jahre haben antisemitische Verschwörungsmythen „befeuert“, wie es bei der Präsentation des Antisemitismusreports des Parlaments hieß. 36 Prozent der Befragten glaubten in der IFES-Studie, dass Juden die „internationale Geschäftswelt“ beherrschen. 19 Prozent stimmten der Aussage, Juden hätten in Österreich zu viel Einfluss, zu. 18 Prozent sahen „jüdische Eliten“ für die aktuellen Preissteigerungen verantwortlich. Jüdische Eliten in der Energiewirtschaft, in der EZB oder in den Handelskonzernen? Darauf muss man einmal kommen.

Die Fakten: Zum dritten Mal – nach 2018 und 2020 – erhob IFES im Auftrag des Parlaments die Einstellung gegenüber Jüdinnen und Juden. Für die aktuelle Studie wurden von Mitte Oktober bis Ende November des vergangenen Jahres 2.000 Personen ab 16 Jahren telefonisch und online befragt. Auch diesmal wurde die Gesamtstichprobe aufgestockt, indem fast 1.000 in Österreich lebende Menschen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund in einer eigenen Stichprobe berücksichtigt wurden.

36 Prozent finden in der IFES-Studie, dass Juden heute „Vorteile“ aus der Verfolgung während des Nationalsozialismus ziehen wollen. 19 Prozent stimmen der Aussage zu: „Es ist nicht nur Zufall, dass die Juden in ihrer Geschichte so oft verfolgt wurden; zumindest zum Teil sind sie selbst schuld daran.“ Und elf Prozent finden, dass die Berichte über Konzentrationslager und Judenverfolgung übertrieben seien.

Weit mehr antisemitische Einstellungen finden sich in der Aufstockungsgruppe mit Migrationshintergrund, wobei Projektkoordinator Thomas Stern betonte, dass es sich hier um keinen „monolithischen Block“ handle. Vor allem der israelbezogene Antisemitismus sei hier stärker vertreten. 62 Prozent meinen etwa, dass sich Israelis in Bezug auf Palästinenser nicht anders verhalten würden als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Besonders absurd: In der breiten Befragung stimmen 15 Prozent der These zu, wonach „die Juden nach wie vor den Tod Jesu Christi zu verantworten“ hätten. Von den fast 1000 Befragten mit Migrationshintergrund glauben das 32 Prozent.

Studienleiterin Eva Zeglovits fand es laut Austria Presse Agentur zumindest „positiv“, dass jüngere Befragte von 16 bis 25 Jahren Antisemitismus durchaus in ihrem Umfeld identifizieren können – vor allem in sozialen Netzwerken, aber auch in deren eigenem Bekanntenkreis und in der Schule. Das könnte man auch anders sehen: 52 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben Antisemitismus in den sozialen Medien erlebt, 39 in der Schule, 31 unter Freunden und Bekannten, 24 im Familienkreis und 23 in religiösen Einrichtungen. Also eigentlich überall, wo sich diese Jugendlichen aufhalten.

Die Politik reagiert, wie die Politik reagiert: besorgt. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, immerhin Auftraggeber der Studie, sieht Antisemitismus ein weiteres Mal als Gefahr für die Demokratie. „Die Ergebnisse sind erschreckend, aber nicht überraschend“, sagt Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde. Und: „Es zeigt aber vor allem, dass es bessere Wissensvermittlung braucht – Wissen um die Schoa und Wissen über das Judentum selbst.“

Das eigentliche Problem zeigt sich wieder bei den Jungen: Während 50 Prozent der über 70-Jährigen der These zustimmen, dass Juden viel zum kulturellen Leben und zur Wissenschaft in Österreich beigetragen haben (und 40 Prozent der 56- bis 70-Jährigen), sehen dies bei den 16- bis 25-Jährigen nur 20 Prozent. Anders formuliert: Unser Bildungssystem hat in diesem konkreten Punkt klar und massiv versagt, die notwendige Vermittlung von historischen Tatsachen geht offenbar ausgerechnet in der Woke-Ära empfindlich zurück. Ganz konkret: In den Schulen muss dringend mehr getan und seitens der Lehrer mutiger unterrichtet werden. Wir bilden da offenbar gerade eine Generation von Antisemiten heran.

Natürlich darf der böse alte österreichische Antisemitismus nicht vergessen werden. Wieder Deutsch: „Antisemitismus gibt es auch in der Mitte der Gesellschaft, das zeigen die Daten eindringlich.“ Umso wichtiger sei es, „dass Kellernazis nicht politisch legitimiert werden, wie zuletzt durch eine ÖVP-Zusammenarbeit mit der FPÖ in Niederösterreich“. Da hat Deutsch zwar Recht. Nur: In den Umfragen liegen sie österreichweit auf Platz eins. Sie werden mit nicht sehr geringer Wahrscheinlichkeit in der nächsten Regierung sitzen. Oder anders formuliert: Der Antisemitismus wird nicht salonfähig, aber offenbar schulhof- und regierungsfähig.

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