Wie Figuren auf einer Bühne

„Mein persönliches Gefühl von Jüdischsein wurzelt darin, nirgendwo zugehörig zu sein“, so Brigid Grauman in ihrer Familiensaga. © privat

Mit „Onkel Ottos Papiertheater“ hat die Journalistin Brigid Grauman ihre Familiensaga festgehalten. Und erweist sich dabei vor allem als hervorragende Erzählerin.

Von Michael Pekler

Die Familienkomödie beginnt am Klosterneuburger Strand. Kleine Pappfiguren werden auf einer Miniaturbühne herumgeschoben, dafür gibt es ein Libretto und sogar Livemusik einer Konzertpianistin. „Das Papiertheater und die Erinnerungen und Bilder, die ich gesammelt habe, sind kleine Bruchstücke unserer Herkunft“, schreibt Brigid Grauman. „Aus diesen habe ich lebendige Menschen herausgekitzelt, doch mir ist bewusst, dass ich sie neu erfunden habe und sie Dinge denken ließ, von denen ich glaube, dass sie sie gedacht hätten.“

Zum ersten Mal begegnet man dem in einem Döblinger Atelier entstandenen Theater in einer dreistöckigen Villa in Klosterneuburg im Jahr 1932. Es dient zu einer heiteren Privatvorstellung, über die sich Brigid Graumans Vater Robert, genannt Bob – der später in Frankreich und den Vereinigten Staaten leben sollte –, noch als kleiner Bub freuen kann. Doch mit dem Ende der Vorführung setzt mit Onkel Ottos Papiertheater eine andere Geschichte ein: eine außergewöhnliche jüdische Familiensaga.

Gleich im ersten Kapitel Ein lustiger Nachmittag, achtzig Jahre lang konserviert beschreibt die 1953 geborene Journalistin Grauman, wie sie die vielen Verwandten, die ihre Familiengeschichte bevölkern, betrachtet: nicht nur als Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Brüder und Schwestern der beiden Familien Flatter und Grauman – sondern eben auch als Figuren. „Mir ist klar, dass sie sich selbst oder einander in meinen Rekonstruktionen vielleicht nicht wiedererkennen würden.“

Das mag auf den ersten Blick despektierlich klingen, zumal nicht weniger als sieben von ihnen Memoiren hinterlassen haben. Doch wie es nicht nur in einer „typischen“ jüdischen Familie oft der Fall ist, haben sie alle im Laufe der Jahrzehnte eben auch eine Rolle übernommen. Vielleicht sogar eine ähnliche wie die ausgeschnittenen Figuren im Papiertheater von Graumans Onkel Otto.

Es ist eine Familiengeschichte, die zurückführt ins 19. Jahrhundert nach Lomnice in Mähren, wo Graumans Urgroßvater Siegmund aufwuchs („Ich stelle mir vor, dass der Boden im kleinen Haus aus gestampfter Erde bestand“). Graumans Schilderung, immer wieder von ihren eigenen persönlichen Betrachtungen durchzogen, lässt den politischen und soziokulturellen Wandel im Hintergrund vorüberziehen: von den 1870er Jahren in Wien, wo Siegmund „mit zwei Groschen in der Tasche“ ankam, die Große Depression durchtauchte und bis zu seinem Tod ein Anhänger von Kaiser Franz Joseph blieb; über das Fin de Siècle und das Gefühl der Sicherheit, mit dem die Familie in der Brigittenau lebte („In dem Jahr, in dem Emma geboren wurde, 1895, wählte Wien die erste antisemitische Stadtregierung Europas“); die Geschichte geht weiter zum Zusammenbruch der Monarchie und zu den Zwischenkriegsjahren mit der Sympathie der jüdischen Familie für die österreichischen Sozialisten und setzt sich fort mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten.

Bereits in diesen ersten Kapiteln – die Familiensaga reicht bis in die frühen 1970er Jahre, blickt nach Genf, Frankreich, Kuba, die Vereinigten Staaten und Cardiff – beweist Grauman, dass sie eine hervorragende Erzählerin ist. Sie verdichtet und erweitert die fremden und ihre eigenen Erinnerungen, schildert voller Empathie das scheinbar Alltägliche, ohne den Blick aus der Distanz auf das Ganze aus den Augen zu verlieren. Vor allem aber ist auch die Gegenwart – durch viele Reisen an die diversen Schauplätze – immer greifbar: Grauman erzählt vom Friedhofsbesuch mit dem Vater und später mit den Schwestern in Lomnice („Wir tranken Bier und aßen Gulasch im Gasthaus, von dem aus er und ich den Rabbi gesehen hatten“) ebenso wie von ihrem Besuch bei jenem Onkel, der in der Freien Tschechischen Armee kämpfte, nach Wales auswanderte und das Papiertheater verwahrte („Ich war nie religiös, obwohl ich eine stattliche Anzahl an Kippas besitze“).

Was oft als „lebendige Erinnerung“ bezeichnet wird, hier kann man sie lesen, etwa jene an das Jahr in Tel Aviv, nachdem sich die Eltern getrennt hatten und Grauman mit ihrer katholisch-irischen Mutter Aislinn zu deren damaligem Partner, einem in Palästina geborenen Juden, nach Israel zog („Aislinn brachte uns in ein jüdisches Jugendzentrum, und ich gewann ein Buch für die Schnelligkeit, mit der ich Kartoffeln schälte“).

„Mein persönliches Gefühl von Jüdischsein wurzelt darin, nirgendwo zugehörig zu sein – eine von vielen Definitionen, was es bedeutet, Jude zu sein“, schreibt Grauman. Auch davon erzählt diese sich über ein Jahrhundert erstreckende, mit zahlreichen Fotografien versehene und ausnehmend schön gestaltete Saga.

Brigid Grauman
Onkel Ottos Papiertheater
Eine jüdische Familiensaga
Edition Konturen, Wien/Hamburg 2020
232 S., EUR 24,80

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