Vertrauensvoll aus der Distanz

Mit „Waltz with Bashir“ geht über einen hervorragend animierten Dokumentarfilm weit hinaus. Er stellt die Frage nach der Inszenierung von Gewalt und Krieg im Kino. Und nach dem, was dahinter seht. © Stadtkino Filmverleih

Ob „Waltz with Bashir“ oder „Das Tagebuch der Anne Frank“: Der israelische Filmemacher Ari Folman und der Illustrator David Polonsky erzählen ihre gemeinsamen Filme und Bücher stets auf bemerkenswerte Weise.

Von Michael Pekler

„Du kannst einfach alles machen, was dir einfällt.“ Das ist schon mal ein guter Anfang, wenn man einen Film drehen möchte. Oder noch besser: zeichnen. Denn ein Filmemacher, so Ari Folman, habe „nirgendwo mehr Freiheit als bei Zeichentrickfilmen“. Bei Waltz with Bashir, Folmans mehrfach preisgekröntem Film über den Libanonkrieg aus dem Jahr 1982, der auf realen Ereignissen und Interviews basiert, war es zwingend notwendig, auf diese Freiheit zurückzugreifen: für die verdrängten Erinnerungen und Traumata, die in den Köpfen der israelischen Soldaten noch fünfundzwanzig Jahre später als Albträume nachhallen.

Als hypnotischer Comicstrip auf der Leinwand wurde der Film zu Recht bezeichnet, doch zugleich war sich Folman – und mehr noch sein Hauptillustrator David Polonsky – der Gefahr sehr bewusst, dass man das Ergebnis als zu schmissig bezeichnen könnte: Soldaten, die in sattem Orange aus dem Schwarz auftauchen und palästinensische Dörfer überfallen, Raketenwerfer und Hubschrauber in Zeitlupe können schnell zum reinen – und noch dazu ideologisch aufgeladenen – Affekt werden.

Das Gegenrezept hieß: Erbarmen. So jedenfalls beschreibt Polonsky, ein begnadeter beidhändiger Zeichner, der rund drei Viertel aller Bilder von Waltz with Bashir anfertigte, den Zugang zu seiner Arbeit: „Die ganze Zeit versuchen zu empfinden, wie Dinge sich anfühlen. Was das genaue Gegenteil ist von dem Drang, alles möglichst groß zu machen.“ Denn auch darin besteht die Kunst der Animation: Nicht alles zu machen, was einem einfällt, nur weil es möglich ist und der künstlerischen Freiheit fast keine Grenzen gesetzt sind. Weshalb Waltz with Bashir mit seinen flächigen, immer leicht verwischt wirkenden Zeichnungen noch heute eine eindringlichere Wirkung entfaltet als jeder zweite hyperrealistische 3D-Animationsblockbuster.

Im Nirgendwo

Doch wie gelingt es einem als Zeichner und Dokumentarfilmemacher zu empfinden, wie Dinge sich anfühlen? Indem man sich nicht nur – ohnehin eine Voraussetzung – für die Menschen interessiert, mit denen man zu tun hat und deren Geschichten man auch fühlen können muss; sondern indem man versucht, diesen Lebensgeschichten auch in ästhetischer Form gerecht zu werden. So hatten Folman und Polonsky zwar von Anfang an die Absicht, einen animierten Dokumentarfilm zu machen, nachdem Folman schon zahlreiche Dokumentationen für das israelische Fernsehen gestaltet hatte – und Videos für die Armee. Doch was die ehemaligen Soldaten von ihrer Militärzeit erzählten („Junge Männer, die ins Nirgendwo gehen, die auf Menschen schießen, die sie nicht kennen, und die dann nach Hause gehen und zu vergessen versuchen“), spiegelte auch Folmans persönliche Erfahrungen als einfacher Soldat wider. Am Ende des Films weiß er schließlich, wo er am Tag des Massakers von Sabra und Schatila war.

Seit den frühen Neunzigerjahren, als er seine ersten Arbeiten über den Nahostkonflikt drehte, zählt Ari Folman als politischer Filmemacher. Nicht nur weil er sich, wie viele andere, auf politische Themen spezialisierte, sondern weil er dabei das Kino als Medium stets politisch dachte. Das zeigt sich in der Auswahl der Mittel, am Ausschöpfen von Möglichkeiten, sprich an der Form. Vor allem aber an der Frage, wie weit „wirklichen“ Bildern überhaupt zu trauen ist.

Ist den Meldungen der Nachrichtenoffiziere denn eher zu glauben als den Erinnerungen, die uns andere Geschichten erzählen? Sind die „echten“ Bilder des Krieges damit wahrer als die gezeichneten? Und kann uns eine so bekannte Geschichte wie die der Anne Frank, würde man sie in gezeichneten Bildern festhalten, überhaupt noch etwas Neues erzählen?

Nur für Kitty

Seine Mutter habe sie geliebt, so Ari Folman über seine Idee, mit Polonsky die Graphic Novel Das Tagebuch der Anne Frank zu entwickeln. Doch seine Mutter sei kein seriöser Maßstab, so Folman in einem Interview anlässlich der Präsentation des Buches, als es nach langer Vorbereitung endlich erschien. Nicht weil sie ihren Sohn schon als Kind für ein Genie gehalten habe, „als ich mir endlich die Schuhbänder knüpfen konnte“; sondern weil sie jahrzehntelang ihre „üblichen Geschichten“ über Auschwitz erzählt habe. Was er ihr schließlich verboten habe, als sie begann, ihren damals siebenjährigen Enkelsohn damit zu konfrontieren. Im Zuge der Recherche habe er herausgefunden, dass seine Mutter und Anne Frank am selben Tag im Vernichtungslager ankamen. Die Mutter aus Polen, das Mädchen aus den Niederlanden.

Doch so wie es für seine Mutter wichtig war, ihre Geschichte zu erzählen, so wichtig war es für Folman, diese andere über Anne Frank zu erzählen. Noch einmal, aber eben anders, in einem neuen Medium, mit dem sich andere Möglichkeiten auftun: der Zeichnung. Nachdem der Anne-Frank-Fonds das Projekt selbst in Auftrag gegeben hatte, war die Frage also nicht mehr ob, sondern wie eine Graphic Novel diesem Stoff gerecht werden kann. Was kann dieses Medium, was Theater, Film und Malerei – mithin sämtliche Kunstformen, die sich der berühmten Geschichte bisher gewidmet haben – nicht können? Dass Folman als oscarnominierter Filmemacher, der auf dem Gebiet der Animationskunst im Kino Pionierarbeit geleistet – und fünf Jahre später seine Technik mit der Stanislaw-Lem-Adaption The Congress (2013) noch weiterentwickelt – hatte, hier einen neuen Zugang finden würde, durfte erwartet werden.

Grünkarierte Innenwelt

Und tatsächlich ist Folman und Polonsky ein bemerkenswerter Band geglückt. Wie kann man also in Anne Frank eine Lebenswelt entwerfen, die der überlieferten Wahrheit des zeithistorischen Dokuments – ähnlich der Oral History in Waltz with Bashir – entsprechen muss und dennoch vieles von dem einfängt, was sich nur in der Fantasie eines Mädchens ereignet? Folman und Polonsky gelingt diese Umsetzung in beeindruckender Weise: subtil und dennoch direkt, voller Empathie, aber mit der nötigen Distanz. Vor allem aber, indem sie sich der Mittel des Mediums bedienen, wie sie nur dieses zur Verfügung stellt. Indem jedes Bild zum verdichteten Moment wird und zugleich erweitert, etwa wenn die Augenblicke der Verzweiflung zu Fantasieszenen gerinnen, während andere Passagen – wie etwa über Annes Liebe zu Peter – als ganze Textseiten abgedruckt sind. Es ist die Welt einer Dreizehnjährigen, die im Frühling 1942 beginnt, ihre Innenwelt mit einem rosa-grün karierten Tagebuch zu teilen, das ihre beste Freundin namens Kitty sein wird. Auf einer ganzseitigen Zeichnung schauen Kittys Kopf und Arme zwischen den Seiten des aufgeklappt stehenden Tagebuchs hervor, und Anne flüstert der Silhouette der Freundin ins Ohr: „Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es bei niemandem gekonnt habe.“ Sie konnte es.

„An keiner Stelle haben wir Mutmaßungen darüber angestellt, wie Anne ihr Tagebuch gezeichnet hätte, wenn sie eher Illustratorin denn Schriftstellerin gewesen wäre“, schreibt Folman im Nachwort. Das wäre wohl auch kaum möglich gewesen. Aber auch nicht nötig.

Sind die „echten“ Bilder des Krieges wahrer als die gezeichneten? Ari Folman denkt das Kino stets als politisches Medium. © Stadtkino Filmverleih
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