Verkitschung von Befindlichkeiten

© Foto: Arye Wachsmuth; Aus der Rauminstallation "Im Schatten der Verdrängung", Arye Wachsmuth und Sophie Lillie, 2021 im Rahmen der Ausstellung "Dispossession" im Künstlerhaus, 2021

Kommentar von Andrea Schurian

100 Missverständnisse über und unter Juden im Jüdischen Museum also. Blöderweise ist allerdings das größte Missverständnis über (und eventuell auch unter) Juden die Ausstellung selbst, in der völlig unwissenschaftlich die Begriffe Missverständnis, Vorurteil und Klischee konstant verwechselt und zu einer maximal subjektiven Behauptungsschau gemixt werden. Man könnte es auch die Verkitschung von Befindlichkeiten nennen, wobei die Erklärungen etlicher Missverständnisse einander aushebeln. Und da reden wir noch nicht über die Katalogtexte, die, vorsichtig formuliert, mitunter Sympathien für die BDS-Bewegung formulieren (aus den Saalbeschriftungen wurden diese Texte entfernt). Ja, BDS, das wäre ein Missverständnis, über dessen antisemitische Grundierung aufzuklären eventuell einem jüdischen Museum anstünde.

Ist die Ausstellung antisemitisch? Sie reißt jedenfalls mehr Gräben auf, als sie Brücken zu schlagen imstande ist. Die Schoa, ihre historische Aufarbeitung, ihre furchtbare Einzigartigkeit beispielsweise ist – zumindest in der Ausstellung – ein immer wiederkehrendes Missverständnis. Missverständnis? Gleich daneben wird angeblich schlechter jüdischer Geschmack auf mehrere Missverständnisse aufgeteilt. Seit der Eröffnung herrschen jedenfalls: Aufregung. Angriff. Verteidigung.

Barbara Staudinger, die neue JMW-Direktorin, vermutet, dass der Skandal vorbereitet wurde. Von wem? Von der jüdischen Wienverschwörung? Die Direktorin kann den Entrüstungssturm nicht verstehen, einige, die sich kritisch äußern, hätten die Ausstellung gar nicht gesehen: „Es geht ihnen offensichtlich weniger um diese als um eine Weltanschauung, etwa um die Frage, darf eine Nichtjüdin ein jüdisches Museum leiten, wobei ich hier in Wien nicht die erste in einer solchen Position bin“, sagt sie in einem Standard-Interview und fügt noch ein wenig gekränkt an: „Was heißt überhaupt jüdisch? Und wer bestimmt darüber, wie richtig jüdisch man ist?“

Barbara Staudinger ist nicht jüdisch; ich, Chefredakteurin eines jüdischen Magazins, bin es auch nicht. Doch als nichtjüdische Direktorin eines jüdischen Museums sollte sie zumindest im Hinterkopf haben, was in der Halacha festgelegt ist: Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat. Tatsächlich wird vor allem im Reformjudentum auch die patrilineare Abstammung forciert, vorausgesetzt, das Kind wird jüdisch erzogen. Für Frau Staudinger und mich träfe selbst das nicht zu.

Die Idee, Missverständnisse wissenschaftlich aufzuarbeiten und im besten Fall auszuräumen, ist genial. Tatsächlich aber ist die Ausstellung völlig unwissenschaftlich, was, abgesehen vom seltsam geschwätzigen, aufgemotzten Plauderton, befremdlich ist. Jedes einzelne „Missverständnis“ ist Behauptung, nicht Analyse. Missverständnis 15 im flockig gehaltenen Ausstellungsparcours ist, dass israelische Soldaten besonders tapfer, Missverständnis 16, dass israelische Soldatinnen besonders schön und tapfer seien. Ui! Arg, oder? Sind die Soldatinnen und Soldaten also nicht tapfer, sondern besonders feige? Mir ist kein Land bekannt, das Schwäche und Hasenfüßigkeit zum Klischee erhebt. Und gibt es nicht zu jedem Land (und jeder Religion) Klischees, zum Beispiel das der jüdischen Mamme, die sicherlich engstens verwandt ist mit der italienischen Mamma? Die Ritualmordlegende hingegen ist weder Klischee noch Missverständnis, sondern ein massives Vorurteil, das zu Pogromen und Judenverfolgung geführt hat. Wie missverständlich kann doch eine Ausstellung über Missverständnisse sein. Missverständnis 27 lautet übrigens: „In Gedenkstätten muss man sich gut benehmen“ Aha. Nein? Muss man nicht?

Die Kunst muss die teils an Haaren herbeigezogenen, von den Kuratorinnen und Kuratoren aufgestellten Thesen bebildern. Das ist zumindest ein grobes Missverständnis darüber, was Kunst ist. Die ist nämlich vor allem eines: autonom. Schlag nach bei Nitsch, letztendlich gedeiht in Österreich provokante Kunst besonders gut.

Es sind etliche hervorragende, provokante, spektakuläre Kunstwerke in der Ausstellung, Boaz Arads Hitler als Kaminvorleger zählt mit Sicherheit dazu. Oder auch Tamir Zadok, dessen verstörendes Video Matza Maker das Missverständnis 45 Jüdinnen und Juden sind überempfindlich bebildern soll. Allerdings würde man die Kunstwerke, die nun im JMW ausgestellt sind, lieber nicht als beiläufige Belegartikel für zumindest fragwürdige Kuratorenthesen sehen, sondern man würde sie gern tiefenschärfer kennenlernen, im Kontext ihres anderen künstlerischen Schaffens.

Ein jüdisches Museum sei keine Heilanstalt gegen Antisemitismus, schrieb Anna Goldenberg in der Presse, und problematische Formulierungen über „zionistische Expansionspolitik“ seien gleich nach Beginn der Ausstellung von der Objektbeschreibung entfernt worden und sind nur noch im Katalog zu lesen. Nur noch? Ein Katalog ist das verschriftlichte Dokument des Ausstellungskonzepts, die Ausstellung wird abgebaut. Der Katalog bleibt (dass übrigens Ausstellungskataloge der Vorgängerin um einen Euro abverkauft werden, ist eine eher unelegante Geste, aber das ist eine andere Geschichte). Wenn sich die neue JMW-Direktion schon nicht dafür zuständig erachtet, Antisemitismus abzubauen, so wäre es ja immerhin erstrebenswert, ihn nicht noch zu befeuern.

Anm.: Danielle Spera, Staudingers Vorgängerin, ist NU-Herausgeberin und meine Freundin seit Studientagen. Man könnte also vermuten, dass ich bei der Beurteilung der Ausstellung nicht objektiv bin Also habe ich die Ausstellung mit drei Menschen besucht: zwei jungen Juden, einer Nichtjüdin, alle unter dreißig. In der Kritik –beliebig, unwissenschaftlich, ärgerlich– waren wir uns ebenso einig wie darin, dass Barbara Staudinger durchaus die Chance verdient, es beim nächsten Mal hoffentlich besser zu machen.

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