Welche Perspektiven hat die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen nach dem Krieg? Yaakov Amidror, profunder Kenner des strategischen Umfelds Israels, über die verschiedenen Alternativen.
Von Martin Engelberg
Immer wieder wird die Frage gestellt, was mit dem Gazastreifen in der Zukunft geschehen soll. Für die Beantwortung dieser Frage gibt es nicht viel Befugtere als Yaakov Amidror. Ich erreiche ihn telefonisch in seiner Wohnung in Ra’anana, einer Stadt in Zentralisrael am Rande des Großraums Tel Aviv, die keine zehn Kilometer von der Grenze zum Westjordanland entfernt liegt.
Es gäbe für den Gazastreifen sechs Optionen für „den Tag danach“, analysiert Amidror, und bei allen gibt es starke Für und Wider. Momentan sei nicht absehbar, welche der Alternativen letztlich zum Zug kommt. Dies würde stark vom weiteren Verlauf des Krieges abhängen und vor allem davon, ob die Hamas vollständig zerschlagen werden kann oder nicht. Lapidar beschreibt Amidror folgende Szenarien:
- Die Palästinensische Autonomiebehörde übernimmt die Kontrolle.
- Arabische Staaten stellen eine Ordnungstruppe zusammen.
- Die USA und europäische Staaten entsenden einen „Hohen Repräsentanten“ (analog zu Bosnien und Herzegowina).
- Lokale palästinensische Organe übernehmen die Verwaltung.
- Israel verwaltet bis auf weiteres den Gazastreifen.
- Es entwickelt sich eine chaotische Situation und der Gazastreifen wird zu einem „Failed State“ – ähnlich wie zum Beispiel Somalia.
Option 1. wird stark von den USA favorisiert. Dazu wurde mit Mohammed Mustafa ein neuer Ministerpräsident bei der Palästinensischen Autonomiebehörde ernannt. Er soll diese reformieren und vor allem die weitverbreitete Korruption in den Griff bekommen. Ist das realistisch, frage ich Amidror. „Mit einem Wort beantwortet: Nein!“ Die Behörde sei durch und durch korrupt, sie lebe davon. Eine Demokratisierung und Abhaltung von Wahlen, die ja eigentlich seit über 20 Jahren fällig wären, sind momentan gar nicht wünschenswert, brächten sie ja womöglich die Hamas an die Macht.
Option 2. wäre ein Szenario, bei dem eine Koalition arabischer Staaten, zum Beispiel bestehend aus Ägypten, Saudi-Arabien und den Emiraten bereit und imstande wäre, eine Ordnungstruppe für den Gaza-Streifen zusammenzustellen. Amidror ist auch bei dieser Option skeptisch. Jedenfalls müssten davor die Strukturen der Hamas von Israel völlig zerstört worden sein. „Die arabischen Staaten können die Hamas nicht bekämpfen.“ Obendrein haben sich diese arabischen Staaten im Kampf gegen die Huthis im Jemen, einer weiteren vom Iran unterstützten Truppe, keine Lorbeeren verdient.
Dass europäische Staaten gemäß der Option 3. eine Ordnungsmacht für den Gazastreifen zur Verfügung stellen, halte ich für völlig unrealistisch. Amidror widerspricht nicht und meint dazu, dass es zumindest eine theoretische Möglichkeit wäre.
Wäre es denn, gemäß der Option 4., sinnvoll und möglich, lokalen palästinensischen Organen die Kontrolle über den Gazastreifen zu überlassen? Schließlich wären es dann letztlich örtliche Clans, die korrupt sowie teilweise kriminell und mafiös agieren würden. Bei dieser Option, meint Amidror, müsste Israel die Oberhoheit behalten und ebenfalls wieder vorab die Hamas-Strukturen völlig und nachhaltig zerstört worden sein. Ansonsten: „Kennen Sie denn irgendwelche anderen Strukturen in arabischen Staaten auf lokaler Ebene, die anders funktionieren als so?“, fragt Amidror zurück.
Diese vierte Option geht über in die Option 5.: Israel behält die Oberherrschaft über den Gazastreifen und übergibt Palästinensern die lokale Verwaltung. Ähnlich wie im Westjordanland in den Areas A und B, in denen die Palästinensische Autonomiebehörde die zivile Verwaltung innehat, die Kontrolle über die Sicherheit jedoch gemeinsam mit Israel ausgeübt wird.
Die Option 6., jene des Gazastreifens als „Failed State“, ist natürlich die am wenigsten wünschenswerte. Aber auch mit dieser muss im schlimmsten Fall gerechnet werden.
Amidror wiederholt immer wieder, dass zum jetzigen Zeitpunkt nicht absehbar ist, welche der Optionen schlagend werden, oder ob sich irgendeine Mischform bilden wird. In der aktuellen Situation geht es um die Erringung der Kontrolle über den gesamten Gazastreifen. Danach wird es, seiner Meinung nach, noch zumindest ein weiteres Jahr dauern, bis die Hamas-Strukturen endgültig und nachhaltig zerstört sein werden. Erst dann wird sich weisen, wie der „Day After“ aussehen wird.
Yaakov Amidror war Generalmajor in der israelischen Armee (IDF), hatte eine leitende Funktion im „Military Intelligence Directorate“ und war 2011–2013 Nationaler Sicherheitsberater der israelischen Regierung. Heute lehrt er am Jerusalem Institute for Strategic Studies. Amidror gilt als einer der profundesten Kenner des strategischen Umfelds Israels, der palästinensischen Gebiete und des Nahen Ostens insgesamt.