Normal ist wirklich ziemlich kompliziert

Was der Kollege so alles über seinen Alltag im Krankenhaus schreibt: Die tragikomische Verfilmung „American Splendor“ (2003) erzählt die Lebensgeschichte von Harvey Pekar. © Xenix Filmdistribution

Wer das Gefühl hat, ein verdammt lausiges Leben zu führen, fühlt sich in „American Splendor“ von Harvey Pekar sicher richtig wohl. Meisterhafter Sarkasmus aus dem US-amerikanischen Untergrund.

Von Michael Pekler

Der alten jüdischen Dame im Supermarkt sei gedankt. Noch kann Harvey Pekar das nicht erkennen, noch überwiegt die pure Verzweiflung, wertvolle Tagesfreizeit in der Warteschlange zu verlieren. „Alte jüdische Damen debattieren an der Kassa immer über den Preis. Ich mein’, ich bin ja auch Jude“, brummt er vor sich hin, wohl wissend, dass sich ohnehin niemand für ihn interessiert – wie alle Menschen, die hauptsächlich mit sich selbst reden. Generell nicht und im Supermarkt, wo sich jeder selbst der Nächste ist, schon gar nicht. „Die Frauen in meiner Familie sind genauso, aber ich gewöhn’ mich einfach nicht daran. Ich knausere auch, aber das geht zu weit.“ Und während die eine über die Gültigkeit von Rabattmarken debattiert, lässt der andere seinen vollen Einkaufswagen stehen, geht nach Hause und schreibt seinen ersten Comic.

Schreiben wohlgemerkt, denn zeichnen konnte Harvey Pekar nie. Nicht in Wirklichkeit und deshalb auch nicht im kongenialen Biopic American Splendor (2003) von Robert Pulcini und Shari Springer Berman, in dem Pekar vom ebenso kongenialen Paul Giamatti gespielt wird und in dem er in einer Gastrolle das Geschehen – und den Film – kommentiert. Als alter Grantscherben natürlich. Es ist einer der intelligentesten, witzigsten und traurigsten Filme über Comics der letzten Jahrzehnte. Denn Harvey Pekar, der in der von ihm erdachten Gaphic Novel American Splendor sein eigenes Leben beschrieb, war einer der intelligentesten, witzigsten und traurigsten Comicautoren, die es je gab.

Falsche Verkleidung

Als Sohn jüdischer Einwanderer aus dem polnischen Białystok wurde Pekar 1939 in Cleveland, Ohio, geboren. Es gibt zwar Schlimmeres, aber Pekars erste Kindheitserfahrung – der Vater war Talmud-Gelehrter und besaß ein Lebensmittelgeschäft – blieb dennoch die des Außenseiters. Die Kindheit komprimiert der Film zu einer einzigen Szene, einem Prolog, in dem an Halloween eine Reihe von Schulkindern die Häuser abklappern und in Superheldenkostümen um Süßigkeiten schnorren. Die üblichen Langweiler – Superman und Konsorten – mit ihren Spitzenkräften, und ganz außen ein schmächtiger Junge ohne Verkleidung. Der kleine Harvey bekommt nichts Süßes, dafür dann vom Leben regelmäßig Saures.

Nach diversen Gelegenheitsjobs wird Pekar Archivar im städtischen Krankenhaus – er wird diesen Job nie aufgeben – und verdingt sich als Jazzkritiker, als er eines Tages auf die Idee kommt, sein eigenes Leben in Comicform zu erzählen. Langweilig? Mitnichten.

Mit dem zu diesem Zeitpunkt bereits erfolgreichen Robert Crumb befreundet, dem prominenten Protagonisten der Underground-Comics-Bewegung der Siebzigerjahre, hat Pekar nämlich einen illustren Illustrator an seiner Seite. „Mit anderen Texten und Bildern könnten Comics eine Kunstform sein“, meint er zu Crumb, „wie diese französischen Filme.“ Und gießt sich einen halben Liter Ketchup über die Pommes. Der gönnerhafte Freund erkennt das Potenzial dieser ungewöhnlichen Alltagsgeschichten – die Comicserie American Splendor ist geboren, der Rest ist populäre Kulturgeschichte. Beziehungsweise die Geschichte eines Losers, von dem alle glauben, er hätte ein weiches Herz, bis er bei David Letterman zu Recht beginnt, Moderator und Publikum zu beleidigen – und prompt weiterhin regelmäßig eingeladen wird.

Gute Gewissheit

American Splendor, das ab 1976 in unregelmäßigen Abständen bis 2008 erscheint, profitiert selbstverständlich von Pekars Sarkasmus, mit dem er sein Leben so unglamourös beschreibt, wie es ist. „So ein normaler Alltag ist eine wirklich komplizierte Sache.“ Und obwohl im Laufe der Jahre neben Crumb noch andere Zeichner für Pekar den Stift in die Hand nehmen, bleibt die Reihe stilistisch und ästhetisch ihrem Credo treu: Um zu verstehen, was in dieser Menschenseele vor sich geht, muss man schon sehr genau hinschauen können.

Als er an Krebs erkrankt, schreibt Pekar 1994 gemeinsam mit seiner Frau, der Autorin Joyce Brabner, die autobiografische Graphic Novel Our Cancer Year als Ableger von American Splendor. Pekar überlebt, und die Vorstellung, dass das Schreiben ihm das Leben gerettet haben soll, ist so schön wie in diesem Fall wahr.

Als er 2010 – selbstverständlich in Cleveland – stirbt, hat Harvey Pekar der Comicgeschichte mehr hinterlassen als die meisten ihrer prominenten Vertreter aus dem Land der begrenzten Möglichkeiten. Nämlich wahre Sätze wie „It’s my perspective: gloom and doom.“ Und die Gewissheit, dass man im Supermarkt immer in der falschen Warteschlange steht. Oder doch nicht?

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