Kein Wunder ohne das Natürliche

Die einen glauben an das Wunderbare, die anderen an das Wundersame. Gedanken über den Unterschied zwischen den Wundern der Religion und jenen der Wissenschaft.

Von Rabbi Geoffrey A. Mitelman

Wenn es um Wissenschaft und Religion geht, sind „Wunder“ eine heikle Angelegenheit. Wir sprechen oft von einer „wundersamen Genesung“ oder beschreiben die Geschwindigkeit, mit der Covid-19-Impfstoffe entwickelt wurden, als „Wunder“. Doch als Donald Trump im Februar 2020 sagte: „Eines Tages wird das Coronavirus wie durch ein Wunder einfach wieder verschwinden“, wurde er zu Recht verspottet.

In der Religion aber gehören Wunder dazu. Am Sederabend beispielsweise singen wir Juden Dayenu: „Es hätte gereicht.“ Wir betrachten dieses Lied hauptsächlich als Dank an Gott für jeden Schritt der Israeliten in die Freiheit. Doch fast jeder dieser Schritte handelt von einer wundersamen Intervention: die Erschlagung der Erstgeborenen in Ägypten mit Ausnahme der Israeliten; die Teilung des Meeres; dass Er die Juden trockenen Fußes ziehen ließ und in der Wüste Manna regnen ließ.

Wie also sollen wir Wunder betrachten? Als moderne, wissenschaftliche Menschen neigen wir dazu, nur naturwissenschaftliche Erklärungen zu akzeptieren. Die Wissenschaft aber kann Gott weder beweisen noch widerlegen, da verschiedene religiöse Traditionen – und sogar Menschen in derselben Tradition – Gott völlig unterschiedlich definieren oder erfahren. Menschen wie der Evolutionsbiologe Richard Dawkins, die Religionen und ihre Erklärungen von Gott verspotten, sprechen oft von einer sehr engen und spezifischen Definition. Sie nähern sich der Gottesfrage mit einer Reihe überprüfbarer Hypothesen. Für mich (und für viele andere religiöse Menschen) hat das nichts mit dem Göttlichen zu tun, wie ich es sehe und mich ihm nähere.

Von Göttern und Forschern

Der Physiker Alan Lightman geht in einem Artikel im Atlantic auf die Frage der Wunder ein und kommt zum Schluss, dass es in der Menschheitsgeschichte lange keinen Unterschied zwischen „Religion“ und „Wissenschaft“ gab.

Das Wundersame erlangt nur im Vergleich zum Nichtwundersamen Bedeutung und seine Festlegung. Um ein Ereignis als „übernatürlich“ zu klassifizieren, müssen wir zunächst einen Begriff, eine Vorstellung vom „natürlichen“, gewöhnlichen Ablauf von Geschehnissen haben. Früher hatten Menschen keine solche Vorstellung, ausgenommen vielleicht für individuelle Todesfälle oder das regelmäßige Auf- und Untergehen der Sonne. Phänomene sind einfach passiert. Die Natur war seltsam, manchmal schön, weitgehend unvorhersehbar und oft beängstigend. Der Begriff des „Übernatürlichen“ ist in den Kräften zu sehen, die den Göttern und Geistern früherer Zivilisationen zugeschrieben werden.

Wissenschaftliche Wunder – wie Impfstoffe, die Mondlandung oder die Genesung von schweren Krankheiten – brauchen keine übernatürlichen Erklärungen. Religiöse Wunder hingegen scheinen sich den Naturgesetzen zu widersetzen. Jeder Versuch, die Teilung des Roten Meeres, das Geschenk der Tora, die Auferstehung Jesu zu erklären oder zu verstehen, scheint Religion und Wissenschaft In Gegensatz zueinander zu bringen.

Das Rote Meer sehen

Doch bei Wundern geht es meiner Meinung nach um ganz etwas anderes. Das hebräische Wort „nes“ bedeutet „ein Zeichen“. Es bringt uns dazu, anders zu handeln. Rabbi Lawrence Kusher erzählt in seinem Buch Gott war an diesem Ort und ich, ich wusste es nicht die Geschichte von zwei Israeliten, die das Rote Meer zu Fuß durchquerten – aber das Wunder nicht bemerkten. Die jüdische Tradition besagt ja, dass die Teilung des Roten Meeres das größte Wunder war, das jemals vollbracht wurde. Es war so außergewöhnlich, dass an diesem Tag sogar ein gewöhnlicher Diener mehr Wunder erkennen konnte als Jesaja, Jeremia und Hesekiel zusammen. Und doch haben wir einen Midrasch, in dem zwei Israeliten erwähnt werden, Reuven und Shimon, die diese Erfahrung nicht gemacht haben.

Anscheinend war der Meeresboden zwar sicher zu begehen, aber nicht völlig trocken und daher ein wenig schlammig, wie ein Strand bei Ebbe. Reuven rümpfte also die Nase: „Was ist das für ein Dreck?“ Auch Shimon blickte finster: „Es gibt überall Schlamm!“ – „Das ist genau wie in den Schleimgruben Ägyptens!“, antwortete Reuven. „Was ist der Unterschied?“ beschwerte sich daraufhin Shimon. „Schlamm hier, Schlamm dort, alles das Gleiche.“ In der Tonart ging es weiter, während die beiden durch das geteilte Meer schritten. Und weil sie nie aufschauten, verstanden sie auch nicht, warum am fernen Ufer Loblieder gesungen wurden. Für Reuven und Shimon geschah das Wunder nie.

Freiheit und Befreiung

Als jemand, der gerade geimpft wurde, bin ich den Wissenschaftlern, Forschern, Ärzten, Krankenschwestern und Geldgebern, die dazu beigetragen haben, zutiefst dankbar. Die Geschwindigkeit, mit der dieser Impfstoff entwickelt und unter die Menschen gebracht wurde, ist wirklich wunderbar – aber eben nicht übernatürlich. Wie andere wissenschaftliche Wunder ist auch das Impf-„Wunder“ das Ergebnis abertausender großer und kleiner Handgriffe und Tätigkeiten von tausenden Menschen vor und hinter den Kulissen.

Nach einem Jahr Covid können wir das Ufer auf der anderen Seite des Roten Meeres sehen. Wir sind noch nicht da, es werden noch Fallstricke und Herausforderungen vor uns liegen. Wir haben viel zu viele Menschen verloren und zu viele von uns haben sich einsam gefühlt. Aber lassen Sie sich von den Wundern von Dayenu leiten: dass jeder Schritt auf dem Weg zu Freiheit und Befreiung etwas ist, das Sie ehren und für das Sie dankbar sein müssen.

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