Im Westen viel Neues

Sind stets um alle Gemeindemitglieder bemüht: Präsident Günter Lieder und seine beiden Vizepräsidenten Emil Chamson (li.) und Yitzhak Feuerstein (re.) © IKG TIROL UND VORARLBERG/FLORIAN LECHNER

Die Geschichte der Jüdinnen und Juden in Tirol und Vorarlberg war wie in Österreich üblich: geduldet, verachtet, vertrieben und wieder angesiedelt. Doch in den westlichen Bundesländern entwickelt sich ein neues jüdisches Selbstbewusstsein. Ein Lokalaugenschein.

Von René Wachtel

In einem unscheinbaren Haus in der Sillgasse mitten in Innsbrucks Zentrum empfangen mich Günter Lieder, seit 2016 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg, und Stefan Gritsch, Sekretär der IKG. In dem Gebäude, das schon vor dem Krieg Sitz der IKG war, befand sich auch der Betsaal, der in den Novemberpogromen 1938 verwüstet wurde. Das Haus selbst wurde während des Krieges durch einen Bombentreffer komplett zerstört und erst in den 1990er Jahren wieder aufgebaut. Jetzt befinden sich dort die Synagoge, ein Veranstaltungsraum und die Büroräumlichkeiten der Gemeinde.

Die Geschichte der Juden in Tirol und Vorarlberg war wie in Österreich üblich: geduldet, verachtet, vertrieben und wieder angesiedelt. Die ersten Juden kamen im 13. Jahrhundert mit den Görzer Grafen in die Grafschaft Tirol. Um 1617 entstand eine jüdische Gemeinde in Hohenems in Vorarlberg, die bald zum jüdischen Zentrum der Region wurde. Doch im 19. Jahrhundert wurde Innsbruck immer wichtiger, und viele Juden zogen hierher. Auch der Rabbiner Josef Link übersiedelte 1914 von Hohenems nach Innsbruck. Zu dieser Zeit lebten schon an die fünfhundert Juden in der Tiroler Landeshauptstadt. Es gab eine Synagoge; doch das jüdische Gemeindeleben endete mit dem Anschluss an Hitler-Deutschland jäh. Während der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Räumlichkeiten in der Sillgasse verwüstet und Innsbrucker Juden ermordet.

Nach 1945 kehrten einige Juden wieder zurück, und 1952 wurde die Kultusgemeinde Innsbruck für Tirol und Vorarlberg neuerlich gegründet. Es entwickelte sich ein neues Selbstbewusstsein, vor allem ab den späten 1980er Jahren unter der IKG-Langzeitpräsidentin und nunmehrigen Ehrenpräsidentin Esther Fritsch. Gemeinsam mit Bischof Reinhold Stecher gründete sie 1989 das Tiroler Komitee für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Stecher veranlasste 1994 per Dekret das Verbot des Anderl-Kultes“, der seine Grundlage in einer seit dem Mittelalter kursierenden Ritualmordlegende um das „Anderl von Rinn“ hatte. Im März 1993 schließlich konnte die Synagoge in der Sillgasse eingeweiht werden.

Menora im Zentrum

Innsbruck zählt auch zu den wenigen mitteleuropäischen Städten, in denen an einem zentralen Platz eine Menora steht, um an die Schrecken der Schoa und an die Toten der Novemberpogrome zu erinnern. „Die IKG Tirol und Vorarlberg ist die flächenmäßig größte Kultusgemeinde in Österreich“, erläutert Präsident Lieder, „sie umfasst das Gebiet von Osttirol bis zum Bodensee.“ Die rund hundert Mitglieder sind über das gesamte Gebiet verstreut, „sie leben in Lienz, Reutte, Wattens bis nach Hohenems, Bregenz, Feldkirch, Dornbirn.“ Der Vorstand spiegelt dies wider, einige Mitglieder sind aus Tirol, einige aus Vorarlberg, das mache ein klassisches Gemeindeleben wie in Graz oder Wien unmöglich. Dennoch bemühe man sich, stets für die Gemeindemitglieder da zu sein. Das Verhältnis zu den öffentlichen Stellen bezeichnet der Präsident als ausgezeichnet, „wir werden mit unseren Sorgen nicht alleine gelassen.“ Das zeigt sich beispielsweise auch beim jüdischen Teil des Westfriedhofs in Innsbruck. Hier wird der Platz knapp, weshalb man sich mit der Stadt darauf geeinigt hat, dass es auch am Pradlerfriedhof mitten in Innsbruck einen jüdischen Teil geben wird.

Große Familie

In der Öffentlichkeit ist die jüdische Gemeinde durch viele Veranstaltungen, durch Kooperationen mit Museen und anderen Institutionen präsent. Besonders stolz ist Präsident Lieder auf die Chanukka-Ausstellung im Ferdinandeum sowie das kleine, aber feine Jüdische Filmfestival in Innsbruck im November. Es sei schön, wie die Gemeindemitglieder die Veranstaltungen annehmen; und zu den hohen Feiertagen ist die Synagoge immer gut besucht. In den letzten Jahren vor der Pandemie haben die Besuche vom österreichischen Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg zu Rosch Haschana und Jom Kippur große Freude bereitet. Zu Pessach wird immer in einem Hotel gemeinsam der Sederabend veranstaltet, an dem bis zu hundert Gäste teilnehmen: „Das ist eine richtige große Familie“, erzählt Lieder. „Da kommen die Gemeindemitglieder aus der gesamten Region.“ Andererseits geht man auch aus Innsbruck hinaus in die Gemeinde. So fand das Kerzenzünden zu Hanukka im vergangenen Jahr in Hohenems statt; auch Purimumzüge hat es schon in Hohenems gegeben. Mit der IKG in Wien sei man in freundschaftlichem Kontakt; besonders gut verstehe man sich mit Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister, der einmal pro Monat nach Innsbruck kommt und Schiurim veranstaltet.

Wenig Zuwanderung

Antisemitismus sei kaum wahrnehmbar, beantwortet IKG-Sekretär Stefan Gritsch meine diesbezügliche Frage. Eine Begebenheit nennt Präsident Lieder dann aber doch: „Nach einer Veranstaltung, in der ich über jüdisches Leben erzählte, kam ein junge Frau zu mir und fragte mich sehr genau über jüdische Riten. Sie war sehr interessiert. Am Ende wollte ich mich mit einem Handschlag bei ihr verabschieden. Sie verweigerte ihn mit dem Hinweis, ihr Großvater habe ihr beigebracht, keinem Juden die Hand zu geben.“

Doch je informierter eine Gesellschaft ist, umso weniger Antisemitismus gibt es. Um auch nichtjüdischen Menschen jüdisches Leben nahezubringen, werden deshalb viele Führungen sowie in Innsbruck und Umgebung auch Vorträge an Schulen veranstaltet. Doch wie viele andere Gemeinden kämpft auch die IKG in Innsbruck mit zu wenig Zuwanderung – und zu den vielen Israelis, die in der Region leben, ist der Kontakt gering. Auch Übertritte sind faktisch unmöglich. Als Beispiel führt Präsident Lieder eine Familie an, die aus beruflichen Gründen in den Bregenzer Wald übersiedelt ist und um Übertritt angesucht hat. „Bei einem Termin mit dem damaligen Oberrabbiner aus Wien, Arie Folger, wurde der Familie in dreißig Sekunden die Unmöglichkeit eines Übertritts erklärt. Weil jüdisches Leben im Bregenzerwald nicht möglich sei, sollte sie nach Wien übersiedeln. Hier wurde der Wunsch, ein jüdisches Leben zu führen, wegen räumlicher Argumente ignoriert.“ Allerdings erhält die Gemeinde seit Inkrafttreten des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes speziell aus Großbritannien vermehrt Anfragen von Schoa-Überlebenden oder deren Nachkommen. Die IKG in Innsbruck kann schnell behilflich sein, denn sie hat die Matrikeldaten aus der Zeit vor dem Krieg. Vielleicht, so hofft Günter Lieder, entschließen sich die neuen Staatsbürger, Mitglied der IKG für Tirol und Vorarlberg zu werden und in den schönen Westen des Landes zu ziehen.

René Wachtels Bericht aus Innsbruck ist der dritte Teil seiner Rundreise durch die jüdischen Gemeinden Österreichs. Bisherige Stationen waren die Steiermark (NU 88) und Oberösterreich (NU 89).

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