„Erinnerungskultur hat eine wichtige gesellschaftliche Funktion“

Persönliches Jubiläum im nächsten Jahr: Johanna Rachinger leitet seit 2001 die Österreichische Nationalbibliothek. Foto: ©Hauswirth

Eines der vielen diesjährigen Jubiläen begeht die Österreichische Nationalbibliothek: Vor hundert Jahren wurde aus der kaiserlichen Hofbibliothek die Nationalbibliothek, vor 75 Jahren erfolgte die erneute Umbenennung mit Augenmerk auf die österreichische Nation. Ein Gespräch mit Generaldirektorin Johanna Rachinger über die sinnstiftende Funktion von Gedenktagen.

NU: Warum feiern wir überhaupt Geschichte? Wie wichtig sind Jubiläen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft?

Johanna Rachinger: Das sind zwei spannenden Fragen, die zunächst einmal zu denken geben: Kann man Geschichte tatsächlich feiern? Oder sind es nicht eher gesellschaftlich konstruierte Erinnerungen an die Vergangenheit, die wir feiern oder glauben, feiern zu müssen?

Wir feiern Jubiläen und Gedenktage, wir feiern religiöse und nationale Feiertage, wir gestalten Denkmäler und Feste, und alle diese Manifestationen unserer Erinnerungskultur haben eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Sie fördern den Zusammenhalt, aber sie sind nicht „wertfreie“ Einladungen, sondern sie sagen uns, woran wir uns erinnern sollen. Sie definieren, welche Aspekte der Vergangenheit für uns heute wichtig sind und bestimmen damit unser gegenwärtiges Selbstverständnis. In diesem Sinne sind sie identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend.

Woran sich eine Nation, eine politische Gruppe oder soziale Gemeinschaft erinnern will, welche historischen Ereignisse sie besonders wichtig nimmt, welche Gedenktage und Gedenkstätten sie pflegt, welche Vergangenheitsbezüge sie andererseits aus der Erinnerung zu verdrängen versucht, darin drückt sich ihr Selbstverständnis, ihr Weltbild aus.

Wir leben in einem gesellschaftlichen Umfeld einer immer dichter werdenden Erinnerungskultur. Die einen erleben Jubiläen als Gedenk-, die anderen als Bedenktage. Wie trennend – und mitunter dann auch beängstigend – sind Jubiläen für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen?

Jubiläen, Geschichtsfeiern und Gedenktage vermitteln immer eine Botschaft. Sehr oft wirken sie identitätsstiftend für ein Volk, eine Religion, eine Nation und befördern eine nationale Erinnerungskultur. Diese moderne Form der affirmativen nationalen Geschichtsfeier ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Aber auch die Konflikte zwischen gesellschaftliche Gruppen, Parteien und Klassen wurden seit dem 19. Jahrhundert in Massenaufmärschen und Paraden, mit Feiern und Gegenfeiern ausgetragen.

Nach den verheerenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah, wurden weltweit neue, übernationale Gedenktage geschaffen, die vor allem von einem völkerverbindenden und humanitären Gedanken geleitet wurden: so etwa der internationale Holocaust-Gedenktag am 27. Jänner, jener Tag, an dem 1945 die Vernichtungslager Auschwitz und Birkenau durch die Rote Armee befreit wurden. Es sind dies Versuche, über nationale Gegensätze hinweg die Basis für eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur zu schaffen. Eine ganz ähnliche Rolle spielt auch der internationale Roma- und Sinti-Gedenktag, der seit 2015 am 2. August begangen wird.

Dahinter steht eine klare Botschaft: Nur wer sich zu diesen gemeinsamen negativen Erinnerungen bekennt, wer diese Erinnerungskultur mit uns teilt, kann Teil dieses gemeinsamen Europas sein.

Gibt es etwas, das die Jubiläen des Jahres 2020 verbindet?

Ich denke, es ist heuer ein Bündel von sehr unterschiedlichen Jubiläen, die wir begehen, wobei sich aber zusammenhängende Themen zeigen. Das 100-jährige Verfassungs-Jubiläum steht im Zusammenhang der Entstehung der Ersten Republik, deren Jubiläum wir ja schon 2018 gefeiert haben. Das Ende der Donaumonarchie machte eine völlige Neuordnung der politischen und kulturellen Landschaft in Österreich notwendig. Und zwar vor dem Hintergrund einer extremen politischen Verunsicherung und großer wirtschaftlicher Not. Daraus ist die Suche nach einer neuen kulturellen Identität zu verstehen.

Auch die Umwandlung der kaiserlichen Hofbibliothek in die Nationalbibliothek fällt übrigens in das Jahr 1920 und stand unter ähnlichen Vorzeichen: Eine traditionelle, imperiale, jahrhundertealte Sammlung musste in ihrem Selbstverständnis ganz neu definiert werden.

Hans Kelsen ist natürlich ebenso wie der Mitbegründer der Salzburger Festspiele, Hugo von Hofmannsthal, ein Kind der Donaumonarchie, und sein beispielgebendes Verfassungswerk von 1920 ist durchaus auch als Teil dieser Kultur zu verstehen. Das von seinen Auswirkungen her wichtigste Themenfeld im heurigen Gedenkjahr bildet sicherlich das Ende des Zweiten Weltkrieges und der endgültige Sieg über die nationalsozialistische Schreckensherrschaft im Mai 1945. Die Befreiung von Mauthausen ist ein Teilaspekt davon, und auch die Gründung der Zweiten Republik ist natürlich als eine unmittelbare Folge davon zu sehen.

Dazu kommen auch noch Jubiläen im Umkreis der Europäischen Union: 2020 ist auch der 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung am 9. Mai 1950. Die mutige Rede von Frankreichs Außenminister Robert Schuman war der erste Nukleus einer letztlich so erfolgreichen Entwicklung hin zu einem gemeinsamen Europa. Vor 25 Jahren, also 45 Jahre später, konnte Österreich bereits einer institutionell gut etablierten Europäischen Union beitreten.

Gab es, als die Verfassung entstand, bereits so etwas wie eine „österreichische Identität“?

Das Problem der Ersten Republik war ja gerade, dass man eine österreichische Nation oder Identität beim besten Willen nicht sehen konnte – und zwar quer durch alle politischen Parteien. Auch dafür ist die Nationalbibliothek ein gutes Beispiel. Auf der Suche nach einem neuen Namen war man 1920 in großer Verlegenheit, man wollte unter keinen Umständen von einer „österreichischen Nationalbibliothek“ sprechen, da es ja eine „österreichische Nation“ bekanntermaßen nicht gäbe, wie es der damalige Präfekt der Bibliothek ausdrückte. Man entschied sich für den seltsam unbestimmten Ausdruck „Nationalbibliothek“, den das Haus bis 1945 dann auch trug, und der wohl eher auf eine deutsche Nation anspielte, als auf eine österreichische. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte dann sofort der Antrag auf Umbenennung in „Österreichische Nationalbibliothek“. Plötzlich also war jenes Nationalbewusstsein erwacht, das in der ganzen Zwischenkriegszeit gefehlt hatte.

Was bedeutete diese Zeitenwende für Jüdinnen und Juden?

Bekannt und unumstritten ist, dass in dieser kurzen kulturellen Hochblüte der Wiener Jahrhundertwende der Beitrag der jüdischen Persönlichkeiten ein ganz außerordentlicher war: von Karl Kraus über Adolf Loos und Sigmund Freud bis zu Schnitzler, Hofmannsthal, Wittgenstein, Weininger, Gustav Mahler und Arnold Schönberg ließe sich die Reihe herausragender jüdischer Persönlichkeiten und Genies fast beliebig fortsetzten, auch Hans Kelsen entstammte ja einer jüdischen Familie.

Es ist sehr traurig und beschämend, dass Österreich durch die Auslöschung der jüdischen Kultur im Dritten Reich diesen enormen kulturellen Reichtum mit einem Schlag verloren hat und nie wieder zurückholen konnte.

Ein wesentlicher Aspekt ist für mich das lange hinausgeschobene Bekenntnis zur Mitschuld der Österreicherinnen und Österreicher an den Verbrechen des Dritten Reiches, zusammen mit den spät, aber doch erfolgten gesetzlichen Maßnahmen zur Restitution und Entschädigung von Opfern des NS-Regimes. Es war dies ein ungeheuer wichtiger Schritt, gerade auch in der Wahrnehmung Österreichs im Ausland.

Das Problem von latentem Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Österreich ist damit aber noch nicht gelöst, darüber sollten wir uns keine Illusionen machen.

Als wichtigste Faktoren, um hier nachhaltig Dinge zu verändern, sehe ich den Unterricht in den Schulen und auch das allgemeine Gesprächsklima in den Medien und der Politik. Wir dürfen hier nicht die geringste Toleranz gegenüber einer sich wieder einschleichenden Sprache der Verhetzung, Verleumdung und Gewalt erlauben.

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