„Die Kunst wurde schon lange nicht mehr so gebraucht wie jetzt“

Seit 1995 Präsidentin der Salzburger Festspiele: Helga Rabl-Stadler. Foto: ©Doris Wild & Team

Nach Wochen der coronabedingten Unsicherheit war erst Ende Mai klar, dass die Salzburger Festspiele ihren hundertsten Geburtstag zwar kleiner als geplant, aber dennoch feiern können. Ein Gespräch mit dem Führungsduo, Präsidentin Helga Rabl-Stadler und Intendant Markus Hinterhäuser.

19 Uhr. Verabredung zum Skype-Interview. Salzburgs Festspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler und Intendant Markus Hinterhäuser kommen von einer der unzähligen Sitzungen, die alle nur ein Thema haben: Wie werden, wie können die Festspiele diesen Sommer, hundert Jahre nach ihrer Gründung, aussehen? Dass sie auch mitten in der Coronakrise nicht den Glauben an einen Festspielsommer aufgegeben hätten, mache sich jetzt bezahlt, „doch die wirkliche Arbeit liegt noch vor uns“, sagt die Präsidentin wohlgelaunt. Was auf dem Programm stehen wird, könne man zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht verraten, nur so viel: Jedes Genre – Oper, Schauspiel, große Konzerte, Kammermusik und Neue Musik – wird vertreten sein. Allerdings seien noch viele Hürden zu überwinden, es brauche noch Genehmigungen der Behörden. „Aber wenn es uns gelingt“, fügt Markus Hinterhäuser hinzu, „gibt es noch eine große Überraschung.“ Welche? Präsidentin und Intendant lächeln geheimnisvoll.

Die Wahl der Eröffnungsrednerin, des Eröffnungsredners war stets ein kulturpolitisches Statement. Dieses Jahr fällt das Eröffnungsfest Covid-19 zum Opfer, das ist betrüblicher, wenn man weiß, wer die Eröffnungsrede halten hätte sollen: die deutsch-britische Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz. Am letzten Wochenende vor dem Shutdown besuchten Rabl-Stadler und Hinterhäuser die Musikerin, die am 17. Juli – dem ursprünglich geplanten Eröffnungstag der Festspiele – ihren 95. Geburtstag feiert, in ihrer Londoner Wohnung. Dort steht, wie Rabl-Stadler erzählt, ein Klavier von Stefan Zweig. „Das ist eine so unglaubliche Frau, klar, unsentimental. Wir haben etliche Stunden bei ihr zu Hause verbracht, es war eine der großen Begegnungen, die man nie mehr vergisst.“ Nun wird Anita Lasker-Wallfisch, die voriges Jahr für ihren Einsatz gegen Judenhass und Ausgrenzung mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet worden ist, zwar nicht die Eröffnungsrede halten. Aber sie wird nach Salzburg kommen und an einem reflexiven Diskurs über unsere Zeit, unser Jahrhundert teilnehmen.

NU: Herr Intendant, waren Sie, ebenso wie die Präsidentin, immer davon überzeugt, dass die Festspiele stattfinden werden?

Hinterhäuser: Die Präsidentin ist grundsätzlich eher mit Optimismus ausgestattet, das ist ein Naturgesetz. Ich war nicht immer zuversichtlich. Ich kam mir vor wie auf einer Wippe: Meist war ich unten, dann schnellte ich hinauf, wusste aber, dass ich ganz bestimmt wieder unten landen würde. Erst seit wir wirklich die Perspektive auf Festspiele haben, geht es mir besser.

Rabl-Stadler: Trotz der löblichen Streamingangebote und Performances im Netz ist die Sehnsucht groß, etwas gemeinsam zu genießen. Ohne zu wissen, was auf uns zukommen würde, haben wir im Vorwort für das diesjährige Programm den Begriff „Begeisterungsgemeinschaft“ von Bazon Brock übernommen: Festspiele sind eine Begeisterungsgemeinschaft verschiedenster Menschen.

Ähnelt das gesellschaftspolitische und soziale Klima der Gegenwart jenem im Gründungsjahr 1920? Auch damals herrschte eine große Krise.

Hinterhäuser: Ich glaube nicht, dass man eine Nähe zwischen 1920 und 2020 herstellen sollte. 1920 gab es eine soziale, eine wirtschaftliche, eine politische Krise. Jetzt haben wir es mit einer Pandemie zu tun, mit einem unsichtbaren Gegner. Das ist doch eine andere Situation. 1920 wurde eine Utopie Wirklichkeit, ein Gegenentwurf zu Verarmung, politischen Krisen, Gewalt und Bedrohung, mit den Mitteln der Kunst, des Schauspiels, der Musik. Heute müssen wir modifizieren, weil die Bedrohung eine andere ist. Die Art und Weise, wie die Festspiele letztlich stattfinden werden, muss den Besuchern ebenso wie den Künstlern eine Form von Sicherheit geben.

Wie sind die Reaktionen Ihres Stammpublikums?

Rabl-Stadler: Ich habe nur positive Rückmeldungen bekommen. Vermutlich schreiben mir ja nur Menschen, die glücklich sind.
Hinterhäuser: Es geht über das Stammpublikum hinaus, wir werden auf der Straße permanent angesprochen, es herrscht aufrichtige Freude! Wenn diese Coronakrise etwas Positives hervorgebracht hat, dann ein stärkes Bekenntnis zur Wichtigkeit von Kultur.

Seit ihrer Gründung haben die Festspiele bis auf 1944 immer stattgefunden, oder?

Rabl-Stadler: Auch 1924 fielen sie aus. Damals standen die Festspiele am Rande des Konkurses; eine Wiener Zeitung schrieb, es habe sich gezeigt, dass diese größenwahnsinnige Idee zu Recht stirbt. Es hat sich Gott sei Dank nicht bewahrheitet. 1944 gab es keine Festspiele, das größte Wunder ist allerdings, dass sie schon 1945 wieder stattgefunden haben. Das verdanken wir den Amerikanern. Sowohl 1920 als auch 1945 herrschte das erleichternde Gefühl: Wir leben noch! Wir leben wieder! Dieses Gefühl gibt es auch jetzt, aber es mischt sich auch Angst dazu: Dürfen wir überhaupt zusammen sein?

Macht es Ihnen Sorgen, dass Salzburg zum Ischgl der Hochkultur werden könnte? Viele Ihrer Besucherinnen und Besucher gehören altersmäßig vermutlich zur Risikogruppe.

Rabl-Stadler: So wie ich auch! Aber ich wehre mich gegen diesen Begriff, er bedeutet nur eine weitere Spaltung unserer ohnehin schon gespaltenen Gesellschaft. Außerdem war ich bisher der Überzeugung, dass ich für die Festspiele etwas Positives bin und kein Risiko.

Hinterhäuser: Die Lockerungen, die nun sukzessive stattfinden, hätte man vor ein paar Wochen noch für undenkbar gehalten. Doch uns muss klar sein, dass dieses Virus nicht verschwunden ist. Die Gefahr gibt es weiterhin, aber sie ist beherrschbar. Diese Beherrschbarkeit wird uns in allem, was wir tun, beeinflussen. Seitens des Gesundheitsministeriums gibt es strenge Vorgaben und Gesetze, die wir respektieren. Und das heißt nicht, dass wir sie ausreizen, bis sie kaum mehr erkenntlich sind. Sondern wir beschäftigen uns mit dem Sinn des Gesetzes, und der lautet: Sicherheit! Wir haben einen Maßnahmenkatalog, mithilfe dessen wir das Risiko minimieren. Fraglos kann trotzdem etwas passieren. Das Leben ist so beschaffen, dass unentwegt etwas passieren kann, nicht nur Covid-19 und nicht nur in Salzburg. Natürlich muss man bei Corona ganz besonders auf der Hut sein. Aber wir können garantieren, dass wir sehr genau wissen, warum – und wie! – wir etwas machen.

Rabl-Stadler: Markus ist noch strenger vorgegangen, als er laut Verordnung hätte müssen, damit wir nicht nur künstlerisch, sondern auch sicherheitstechnisch top sind. Deshalb wird es nur Vorstellungen ohne Pause geben, um Schlangen vor dem Büffet und den Toiletten zu vermeiden. Natürlich mindert das ein wenig das Gefühl der Attraktion, denn das Zusammenstehen in der Pause gehört zum Theatererlebnis.

Sie sehen Festspiele nicht als Aneinanderreihung von Veranstaltungen, sondern sprechen gern von einer Temperatur des Außerordentlichen. Wie schwierig ist es, nun aus dieser fein abgestimmten, außerordentlichen Programmkomposition einzelne Teile herauszuschälen?

Hinterhäuser: Es ist die mit Abstand schwierigste Unternehmung, der ich je ausgesetzt war. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber einfacher wäre es gewiss gewesen, alles ausfallen zu lassen. Ich habe mich sehr intensiv mit den Künstlerinnen und Künstlern ausgetauscht, nun bricht das, was wir gemeinsam geschaffen haben, auseinander. Die Entscheidung, etwas nicht zu Wort kommen zu lassen, ist ungleich schwieriger als jemanden zu ermuntern, etwas zu realisieren. Es ist eine extrem herausfordernde Situation, an die man mit Taktgefühl und Empathie, aber auch mit Pragmatismus herangehen muss. Wir werden deutlich weniger Besucher haben, daher auch weniger Einnahmen. Die Aufführungen kosten, wenn sie denn stattfinden, genauso viel wie sonst. Es ist also auch eine Frage der Kosten, wir können hier ja nicht Geld drucken. Aber ich bin glücklich, dass wir einen Großteil der wichtigen Opern- und Schauspielproduktionen fast zur Gänze ins nächste Jahr transferieren und unter unbeschwerteren Bedingungen stattfinden lassen können.

Rabl-Stadler: Dazu zählt auch die Ouverture Spirituelle, die dieses Jahr, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, das Motto „Pax“, also „Friede“, hatte. Max Reinhardt sprach schon 1917, während des Ersten Weltkriegs, von den Salzburger Festspielen als Friedensprojekt. Nun wird sie nächstes Jahr stattfinden. Apropos Kosten: Bis zum Lockdown haben wir 180.000 Karten verkauft und 24,5 Millionen Euro eingenommen. Der Kartenverkauf muss rückabgewickelt, die Neuvergabe kommuniziert werden. Das sind extreme Herausforderungen, die wir alle nicht gekannt haben.

Den Gründern der Festspiele, Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal, war vor allem der europäische Gedanke wichtig. Doch im Zuge der Coronakrise ist auch Europa in eine Krise geraten.

Rabl-Stadler: Dass ist so traurig, dass der europäische Gedanke nicht mehr wahrnehmbar ist. Der Nationalismus hat durch Corona wieder Nahrung bekommen. Daher kann ich nicht hören, wenn jemand sagt, Corona sei eine Chance.

Hinterhäuser: Traurig ist, dass gerade in einem Moment, in dem Zusammenhalt wichtig wäre, die Kleinstaaterei wieder Einzug hält.

Rabl-Stadler: Deshalb wurde die Kunst schon lange nicht mehr so gebraucht wie jetzt. Schon voriges Jahr haben wir gesagt, wir wollen in einer Zeit der vorschnellen Antworten Fragen stellen. Das ist heute noch wichtiger als je.

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