Die Feinde des Liberalismus

Amerikanische Armut: Millionen leiden an versagenden Schulen, löchriger Gesundheitsversorgung, zerfallenden Familien, Drogen und verschwindenden Industriejobs. © BETTERAID.ORG

Im Kulturkrieg ist die Gedankenfreiheit das erste Opfer. Liberale Denker ahnten früh, dass die Tyrannei des Gleichdenk in der Demokratie auch ohne Geheimpolizei siegt. Das Übel kommt aus der Gesellschaft.

Von Josef Joffe

Harvard, April 1969: Die Studentenrevolte hatte den akademischen Olymp erreicht. Jenseits der Vier-Meter-Mauer um den Harvard Yard marschierten die Pigs in Kampfmontur auf; drinnen lärmten die Studenten gegen Vietnam und Rassismus. Wir waren die Helden hinterm Schutzwall, die Bullen die Knüppelbrigade der Reaktion.

Eine der wichtigsten Theoretikerinnen des Liberalismus des 20. Jahrhunderts: Judith Shklar ließ der Fluch des Totalitären ließ nie los.
© HARVARD UNIVERSITY ARCHIVES

Fünfzig Jahre später läuft das Remake landesweit ab. Genauso unvergessen wie der Campuskrieg 69 ist Judith Shklar, Professorin für Politische Philosophie in Harvard, deren Werk nun auch im deutschen Sprachraum gefeiert wird. An jenem Frühlingstag quälte sie uns im Seminar mit den Feinheiten des Liberalismus. Von draußen drang das Getöse der Revolution herein. Sie befahl, die Fenster zu verrammeln. „Professor Shklar“, monierte ich unterwürfig, „diesen skandierenden Studenten geht es doch um unser Thema: Freiheit, Rechte, Grenzen der Staatsmacht.“

„Nein, nein!“, schoss sie zurück. „Philosophische Fragen werden nie durch Gebrüll gelöst, nur im bedachten Disput. Zu mit den Fenstern!“ Shklar kannte sich aus. 1928 in Riga geboren, war das jüdische Mädchen nur knapp der Ausrottung entronnen. Der Familie gelang die Flucht nach Kanada. „Dita“ (nie „Judith“) lehrte bis zu ihrem frühen Tod 1992 in Harvard und wuchs zur Ikone der politischen Theorie heran. (Auf die Thesen Judiths Shklars bezieht sich auch Jan-Werner Müller in seinem Essayband „Furcht und Freiheit“).

Was 1969 mit 2020 zu tun hat? Der Fluch des Totalitären ließ Shklar wie auch Hannah Arendt nie los. „Dita“ war weder links noch rechts, sondern eine klassische Liberale mit einem pessimistischen Weltbild. Utopien und Heilsversprechen waren in Europa zur Knechtschaft verkommen, daher ihr Buch After Utopia. Shklar ist hochaktuell in einer Zeit, da links wie rechts der eifernde Populismus grassiert, der Feind der liberalen Demokratie mit ihren geheiligten Prozeduren und austarierten Machtverhältnissen. Liberalismus in einem Satz? Er schützt Einzelne vor Willkür und sichert Meinungs- und Gewissensfreiheit.

Für Liberale seit John Locke war die ungezügelte Staatsmacht das größte Übel. Olle Kamellen, nicht wahr? Der liberale Staat ist doch seit Adolf Nazi die Norm im Westen. Shklar ahnte, dass es auch ohne Metternichs Geheimpolizei, NKWD und Gestapo geht. Auch freie Bürger können dem Gleichdenk verfallen, wo, wie heute, das falsche Wort Karrieren vernichtet, Widerspruch in die Verbannung führt und allein der Verdacht zum Schuldspruch gerät.

In einem zentralen Essay, The Liberalism of Fear (dt. Der Liberalismus der Furcht, 2013), dachte Shklar schon 1989 über den Zwangsstaat hinaus. Liberale müssten immer und überall die „kriegführenden Lager [sowie] Fanatismus und Dogmatismus bezähmen“. Freiheit sei die „Freiheit von Machtmissbrauch und Einschüchterung“, ob durch Staat oder Gesellschaft. Das Summum Malum, das größte Übel, sei die Grausamkeit in physischer wie moralischer Gestalt, dozierte sie in Ordinary Vices (dt. Ganz normale Laster, 2014).

„Physische Grausamkeit“ – Tortur und Terror – darf man den Killer-Polizisten von Minneapolis (und quer durchs Land) anlasten, aber auch den zivilen Heilsbringern, die im Namen der höheren Gerechtigkeit Geschäfte abfackeln und plündern. „Moralische Grausamkeit“ ist nicht nackte Gewalt, aber ebenfalls ein Summum Malum: die „vorsätzliche und systematische Erniedrigung“.

Den Opfern blüht die moralische Vernichtung wegen Falschdenk. Oder der Zwang zur Selbstbezichtigung. Das Opfer muss sich selbst an den Pranger ketten. Früher war die Todsünde der Verrat am „wahren Sozialismus“ oder am „deutschen Volk“. Heute begeht Frevel, wer wider die Wokeness, etwa: Wach- oder Bewusstheit, im Rassen- und Kulturkampf verstößt. „Black lives matter“ ist korrekt, „All lives matter“ gilt als kaschierter Rassismus.

„White male privilege“ ist der Inbegriff des Bösen, „Rassist“ die Verdammnis, die keinen Beleg erfordert. „Critical Whiteness“ ist eine akademische Disziplin, die sich kaum von Indoktrination trennen lässt. Ein Weißer sei lebenslang gebrandmarkt – wie einst der Sklave im Baumwollfeld. Erlösung gibt es nicht. Schwarze sind auf ewig Opfer, Weiße auf ewig schuldig. Ein Guru der Bewegung, Noel Ignatiev, fordert deshalb die „Abschaffung der weißen Rasse, somit der Privilegien der weißen Haut“.

„Wokeness“ signalisiert Kollektivschuld ohne Ausweg

Meine Identität gegen deine, und keine Brücke dazwischen. Dieser Kulturkampf ist wie immer ein Machtkampf um Deutungshoheit, aber auch um Vorherrschaft und materiellen Vorteil. Heute fällt es leicht, die Sechziger zu sentimentalisieren, obwohl damals Bürgerkrieg drohte. Schwarz und Weiß fochten damals gemeinsam gegen Entrechtung. Dieses Miteinander ist perdu.

Wie können alle We Shall Overcome – die Hymne der Bürgerrechtsbewegung – singen, wenn die einen ihre weiße Haut ebenso wenig abstreifen können wie die anderen ihre schwarze? Farbe ist Schicksal, Weiße dürfen mitlaufen, aber im Büßerhemd. Was zurückführt zur Unterscheidung zwischen körperlicher und moralischer Qual. Blake Smith von der Universität Chicago spricht vom „Theater moralischer Grausamkeit“. Die Beispiele sind Legion. Überall in Amerikas Hochschulen, Kulturinstitutionen und Konzernen werden „Weiße aufgefordert, ihre Schuld zu bekennen“. Oder sie knien freiwillig in der Black-Lives-Matter-Demo, um sich „selbst zu erniedrigen und die anderen zu besänftigen“. Unterwerfung ist nicht Solidarität.

Der Gestus ist zugleich moralisch fragwürdig. Er ist meilenweit entfernt von den Protesten der Sechziger, als Schwarz und Weiß Arm in Arm gegen knochenbrechende Polizisten marschierten. Der Kniende von heute trägt keine Schuld an der Sklaverei, die der Kongress 1865 per Verfassungszusatz ächtete. Der Preis der Emanzipation waren 600.000 gefallene Amerikaner, mehr als in allen Kriegen danach.

Wie kann der Bußfertige nach 150 Jahren den historischen Horror sühnen? In der Morallehre ist Schuld immer persönlich, deshalb wurden Nazi-Verbrecher einzeln in ordentlichen Verfahren verurteilt. Wokeness aber signalisiert Kollektivschuld ohne Ausweg. Wenn Rassismus „systemisch“ ist, hilft keine Reform, sondern nur die Revolution, die seit 1789 in neuer Unterwerfung mündet.

Den Vorgeschmack liefern existenzielle Strafen – Rufmord und Rauswurf. In Amerika vergeht kein Tag, an dem nicht jemand wegen Gedankenverbrechen aus der Universität, der Redaktion oder dem Unternehmen fliegt. Nicht das Tun – Herab- oder Zurücksetzung – ist die Sünde, sondern das Wort.

Bei der New York Times traf es jüngst die Nummer eins und zwei der op-ed-Seite, weil sie den Beitrag eines Senators abgedruckt hatten, der Bundestruppen zur Unterstützung der Polizei im Städteaufruhr gefordert hatte. Das ist in der US-Geschichte zwanzigmal geschehen und gesetzlich abgesichert. Doch war die Kolumne eine Todsünde. Bei Adidas USA musste die Personalchefin wegen eines einzigen Wortes gehen: Der Rassismus-Diskurs sei bloßer „Lärm“. Selbst ein korrekt Denkender, der sich mit Black Lives Matter solidarisiert hatte, wurde auf Facebook ausgepeitscht: „Als Weißer hast du nicht das Recht, zuzustimmen oder abzulehnen, was ein Schwarzer sagt. Beipflichten ist genauso arrogant wie Widerrede!“

Moralische Grausamkeit ist nichts Neues unter der Sonne. Während der chinesischen Kulturrevolution mussten sich die Bezichtigten der „Selbstkritik“ beugen, öffentlich abschwören. Wer Glück hatte, kam mit dem Umerziehungslager davon. In den Schauprozessen der Totalitären wurden die Opfer erst moralisch vernichtet, dann physisch.

Alexis de Tocqueville, ein großer Bewunderer der USA, kannte weder Facebook noch Twitter. Er pries die grenzenlosen Freiheiten als bestes Bollwerk gegen Despoten, die Allmacht der Gesellschaft bedrückte ihn.
© WIKICOMMONS

Das ist doch ein schiefer Vergleich? Nein, leider sind Demokratien nicht gefeit gegen moralische Grausamkeit. Alexis de Tocqueville (1805–1859) war ein großer Bewunderer der USA, nachzulesen in seinem Meisterwerk De la démocratie en Amérique (dt. Über die Demokratie in Amerika) von 1835. Er pries die grenzenlosen Freiheiten sowie die Checks and Balances als bestes Bollwerk gegen Despoten. Umso mehr bedrückte ihn die Allmacht der Gesellschaft. Denn sie ziehe eine „formidable Mauer um das Denken“. Drinnen herrsche ein „kommoder Spielraum“, aber „wehe dem, der sie durchbricht“. Dann werde er der „alltäglichen Verfolgung ausgesetzt“; die politische Karriere dürfe er ebenso vergessen wie die Hoffnung auf Verbündete. Seine Feinde „sprechen offen“, seine Freunde „verstummen und distanzieren sich“.

Solche „Allmacht“ fand Tocqueville „übel und gefährlich“; dabei kannte er weder Facebook noch Twitter oder „canceling“, das digitale Autodafé von Menschen, die wegen ihrer falschen Meinung oder Sprache verfemt werden. „Was mich am meisten stört“, grollte Tocqueville, „sind die bröckligen Wälle gegen die [nichtstaatliche] Tyrannei.“ Wer sich auflehne, müsse „sich beugen oder fliehen“.

Das Korrekte ist ein Elite-Phänomen

Nur in Amerika? Was dort angerührt wird, kommt etwas abgekühlt auf den europäischen Tisch. In Europa herrschten einst „Henker und Ketten“, aber solche „kruden Methoden“ seien passé, schrieb der Franzose. In der Demokratie finde die „Unterdrückung in den Köpfen“ statt. Deshalb gelte es, die „Übermacht der Gesellschaft einzuzäunen“. Nicht Stalin oder Xi sind das Problem. Es ist die Intoleranz im Namen des Guten und Gerechten.

Wir wissen, wie die alten Despoten die Tyrannei perfektionierten. Aber wie identifiziert man „gesellschaftliche Allmacht“ (Tocqueville), die im Gewande der unanfechtbaren Moral daherkommt? Wenn Widerspruch widerlich ist? Hier wartet eine Überraschung auf den großen Alexis, der so leidenschaftlich die „Tyrannei der Mehrheit“ geißelte. Denn im heutigen Amerika ist nicht die Mehrheit der Feind.

Eine Meinungsstudie des Thinktanks More in Common von 2018 zeigt, dass die große Mehrheit aller Amerikaner (82 Prozent) – auch der Schwarzen – glaubt, Political Correctness sei „zu weit gegangen“. Die Ausnahme sind die „progressiven Aktivisten“, die nur acht Prozent der Bevölkerung stellen. Eher weiß, gebildet und wohlhabend, fechten sie für Diversität und Sprachkontrolle. Der Rassismus trage die Hauptschuld am Schicksal der Minderheiten.

Ironischerweise teilen Schwarze und Braune dieses Weltbild nicht. Nehmen wir den aktuellen Schlachtruf „Defund the police!“, „Kein Geld für die Polizei!“. Nachdem 2014 ein weißer Polizist in Ferguson einen Schwarzen erschossen hatte, meldete Gallup: Doppelt so viele Schwarze wie Weiße wünschten sich eine „größere Polizeipräsenz“ in ihrer Nachbarschaft. 2019 gab eine Mehrheit von Schwarzen und Hispanics (59 Prozent) Gleiches zu Protokoll. Mithin: Das Korrekte ist ein Elite-Phänomen. Weder 1969 noch 2020 brannten die Villenviertel. Heute müsste Tocqueville die Kapitel über die „Tyrannei der Mehrheit“ umschreiben und eine privilegierte Minderheit ins Visier nehmen.

Amerika, die westliche Postmoderne überhaupt, hat ein zweifaches Problem. Das philosophische, das Shklar und Tocqueville erahnten, ist wieder einmal die Krise des Liberalismus unter der Fuchtel des Jakobinismus, hart rechts oder hart links. Verfassungsfundamente wie die Rede- und Meinungsfreiheit oder „Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils“ bröckeln im Angriff des Gutdenk. Das liberale Prinzip des Reformismus muss der Umerziehung weichen, damit der Neue Mensch entstehe – eine grausame Utopie, wie die Geschichte zeigt.

Das zweite Problem ist die praktische Gerechtigkeit. Wie schafft eine Ideologie der Intoleranz die alltägliche Benachteiligung ab, die People of Color nach wie vor erleben? Kulturkampf ist Symbolpolitik, die den Klassenkampf ignoriert. Kratzt man die Farbe ab, ist der so real wie die Kluft zwischen Ghetto und umgrüntem Vorort. Afroamerikaner sind statistisch eher arm und häufiger krank; ihre Kinder sind gefangen in kaputten Schulen, welche die „progressiven Aktivisten“ für ihre Kinder meiden wie den Beelzebub. Folglich fehlt die Ausbildung, die in der postindustriellen Wirtschaft Aufstieg verheißt. Nur trifft das auch auf die weißen „deplorables“ – die „Bedauernswerten“ – zu, die Hillary Clinton 2016 den Wahlsieg gekostet haben.

Diese Millionen leiden an ähnlichen Defiziten: versagende Schulen, löchrige Gesundheitsversorgung, zerfallende Familien, Drogen, verschwindende Industriejobs, die einst auch Ungelernten den Weg in die Mittelschicht öffneten – weißen wie schwarzen. Der Klassenkampf war kein unabänderliches Schicksal. Eine Sozialreform nach der anderen hat die Kluft zwischen Arm und Reich, Oben und Unten geschmälert.

White male privilege und Critical Whiteness sind dagegen reine Symbolpolitik, Waffen der acht Prozent, welche die „Kommandohöhen“ (Lenin) der Wissensökonomie erklommen haben. Die Kinder der Harvard-Revolutionäre müssen erklären, wie Wokeness und Bildersturm Ghettos schleifen, Bildung und Gesundheit verbreitern. Wie die Entmachtung der Polizei jenen hilft, die in prekären Vierteln leben. Also: Wie kann man die „Bedauernswerten“ wieder einfangen, die Trump zugelaufen sind?

Wokeness ist nicht Reform- und Sozialarbeit, ein zähes Geschäft voller Rückschläge. Wer den dunkelhäutigen Benachteiligten hilft, sollte die weißen Verlierer nicht rechts liegen lassen. Die haben 2016 gegen „die da oben“, die acht Prozent, gestimmt. Trump oder ein Epigone könnte abermals auf dem Ressentiment ins Weiße Haus reiten. Spaltung, Dünkel und Identitätspolitik summieren sich zu einer Strategie, die beide Seiten beherrschen – die „woke“ wie die „deplorables“. Ihre Stimmen wiegen alle gleich viel.

Erschienen in „Die Zeit“ (31/2020). Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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