„Das Unsichtbare sichtbar machen“

Steven Steinman vor seiner seriellen Arbeit „The Shrouds of Berlin“: Die Frottagen stellen für den US-Künstler einen Teil seiner jüdischen Geschichte dar. © STEVEN STEINMAN

In Greater Los Angeles leben mehr als eine halbe Million Jüdinnen und Juden. Die jüdische Gemeinde der kalifornischen Metropole ist damit die drittgrößte außerhalb Israels und New Yorks. Eine Begegnung mit dem Maler, Zeichner und Fotografen Steven Steinman.

Von Michael J. Reinprecht

Der soeben siebzig Jahre alt gewordene Künstler lebt in Hollywood. Sein Atelier aber liegt in einem kleinen Haus im Süden der kalifornischen Metropole. Täglich fährt Steven Steinman in dieses ärmere, ehemals von Bandenkriminalität gekennzeichnete Stadtviertel. In den langgezogenen Straßen reihen sich kleine Einfamilienhäuser mit schlichten Vorgärten aneinander, bewohnt hauptsächlich von People of Color aus der unteren Mittelschicht.

Hier, versteckt hinter grauen Mauern, würde man die Arbeitsstätte des kreativen Einzelgängers und Intellektuellen nicht erwarten. Das Atelier mit dem großen Arbeitstisch ist voll von Farben, Pinseln, Kunstbüchern. An den Wänden Ölbilder und Zeichnungen aus jüngster Produktion. Nichts deutet darauf hin, auch keine Mesusa an der Tür, dass Steven Jude ist und dass seine Vorfahren aus dem Schtetl kamen. Abgesehen von den wenigen orthodoxen Juden gehören die meisten jüdischen Bewohner von Los Angeles Reformgemeinden an oder bezeichnen sich selbst, so wie Steven Steinman, als säkular.

Wie aber erlebt er das jüdische Leben von L.A.? Beeinflusst seine jüdische Identität seine Kunst, fühlt er sich eingebettet in eine Jewish Artist Community und gibt es die überhaupt? Woher kam seine Familie und welche Bedeutung hat für ihn die Biografie seiner Eltern und Großeltern?

NU: Ihre allerneuesten Bilder wie „Pagan Poetry“ oder „Bloom“, die man auch auf Ihrer Website sehen kann, wirken fast transzendent, strahlen Ruhe und Gelassenheit aus. Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit ausdrücken?
Steinman:
Meine Arbeit beruht auf der Natur, der Zeit und der Musik, obwohl sie nichts davon direkt darstellt. Ich interessiere mich für die Strukturen der Natur und des täglichen Lebens, um zu zeigen, was manchmal übersehen wird. Dynamische Oberflächen zu schaffen, dem Begriff der Zeit eine visuelle Form zu geben und das Unsichtbare sichtbar zu machen, ist mein Ziel.

Ältere Arbeiten, vor allem aus Ihrer Berliner Zeit, scheinen auch Ihr Interesse an der Zeitgeschichte widerzuspiegeln. Hat das etwas mit Ihrer jüdischen Identität zu tun?
Ich fuhr 1995 erstmals nach Berlin und wohnte bei einem Freund am Prenzlauer Berg im ehemaligen Ostteil. Die Gegend war damals noch nicht saniert und renoviert worden. Die schlammbraunen Wohnhäuser waren fast alle mit Einschusslöchern übersät. Ich war schockiert, es sah aus, als wäre der Krieg erst vor kurzem zu Ende gegangen. Jahre später, als ich mit meiner Frau in Berlin lebte, war der Prenzlauer Berg bereits vollständig renoviert. Alle Überreste der Einschusslöcher waren verschwunden, die Wohnhäuser in hellen Pastellfarben gehalten. Ich wurde dann zu einer Ausstellung nach Graz eingeladen, deren Thema das Turiner Grabtuch war. Das war die perfekte Gelegenheit, um über meine Wahrnehmungen als amerikanischer Jude in Berlin und über katholische Ikonografie zu reflektieren.

Wie das?
Ich wollte Frottagen, also Abreibungen, von diesen Einschusslöchern machen und hatte Glück, weil ich im Pergamonmuseum noch einige fand, die von Panzergranaten stammten. Ein Kurator gewährte mir den Zugang. Also machte ich eine Serie von Frottagen und nannte sie The Shrouds of Berlin, also Die Leichentücher von Berlin.

 Und diese stellen …
… einen Teil meiner jüdischen Geschichte dar. Einige meiner Verwandten wurden von den Nazis ermordet. Diese Spuren in den Wänden waren für mich eine emotionale Erinnerung. Ich wollte diese eingebettete Erinnerung sichtbar machen.

Hat Ihr Jüdischsein auch sonst einen Einfluss auf Ihre künstlerische Arbeit?
Nicht bewusst, außer eben bei der Leichentücher-Serie.

Aus früheren Gesprächen mit Ihnen weiß ich, dass Ihre Vorfahren aus Osteuropa stammen. Möchten Sie uns ein wenig über Ihren familiären Hintergrund erzählen?
Meine Großeltern stammten alle aus einem kleinen Schtetl in der Nähe von Kiew namens  Bilopillja. Ich weiß nicht allzu viel über ihre Geschichte, nur, dass mein Großvater mütterlicherseits, Abraham Levin, ein regimekritischer Künstler war. Er wurde ins Gefängnis geworfen, weil er Plakate gegen den Zaren gemacht hatte. Es heißt, dass er in einem Sarg aus dem Gefängnis entkam, sich im Haus seiner Familie versteckte und dann 1910 über Deutschland in die USA auswanderte. In Los Angeles lernte er einige Jahre später meine Großmutter Bessie Buch kennen. Sie war 1913 über Deutschland in die USA gekommen. Abraham, der als Grafikdesigner für das Kaufhaus Bullocks arbeitete, und Bessie hatten zwei Kinder, meine Mutter Charlotte und meinen Onkel Jack. 1920 wollte mein Großvater sein Auto für eine Lieferung starten. Es war eines mit einer Kurbel vorne. Er bemerkte nicht, dass der Gang eingelegt war, und als er kurbelte, sprang der Wagen an. Großvater wurde zwischen zwei Autos eingeklemmt und tödlich verletzt. Meine Großmutter, die hauptsächlich Jiddisch und Russisch sprach, musste einen Weg finden, um mit ihren zwei kleinen Kindern in Los Angeles zu überleben. Sie eröffnete den kleinen Lebensmittelladen Levin’s Groceries. Ihr Englisch war immer noch nicht sehr gut, aber sie konnte Lebensmittel verkaufen.

Und Ihre Eltern?
Meine Mutter wurde 1914 in Los Angeles geboren, mein Vater 1914 in Montreal. Er zog als junger Mann nach L.A. Mitte der 1950er Jahre beschloss er, sich selbstständig zu machen: Seine Firma importierte Blumentöpfe und Vasen, die in Japan hergestellt wurden. Das Unternehmen hieß Ruben’s Originals. Man kann diese Keramikstücke immer noch auf eBay finden. Ich hatte zwei Brüder, die beide verstorben sind, und eine vierzehn Jahre ältere Schwester. Ich war bei weitem der Jüngste. Mein Vater wollte mich unbedingt in seinem Geschäft haben, aber ich wusste, dass ich Künstler werden wollte, was für ihn nicht leicht zu akzeptieren war.

Ist die Herkunft Ihrer Familie aus dem russischen Schtetl für Sie von Bedeutung?
Oh ja, ich denke oft an sie und die furchtbaren Pogrome, die sie zur Flucht zwangen. Meine Großmutter, Baba Bessie, war wunderbar. Sie starb an Krebs, als ich etwa 14 Jahre alt war. Sie lebte die letzten Jahre ihres Lebens bei uns im Haus. Ich wünschte, ich hätte ihr mehr Fragen über ihre Herkunft gestellt. Ich wünschte auch, ich hätte meinen Großvater kennengelernt, aber er ist bereits 1920 gestorben.

Kommen wir zurück in die Gegenwart. Sie betrachten sich selbst als nicht religiös – gibt es dennoch jüdische Traditionen, die für Sie von Bedeutung sind? Wie erleben Sie das jüdische Leben in Los Angeles?
Ich nehme nicht viel am jüdischen Leben in L.A. teil. An den hohen Feiertagen gehe ich manchmal zu Freunden, und meine Frau und ich zünden zu Chanukka unsere Menora an. Aber wir haben auch einen Weihnachtsbaum. Eigentlich bin ich mit Menoras und Christbäumen aufgewachsen, denn meine Eltern waren auch nicht sehr religiös. Oder vielleicht waren sie superreligiös, weil wir alles gefeiert haben … Das war natürlich ein Scherz.

Ist es in L.A. von Bedeutung, dass man Jude ist?
Das hängt davon ab, wie man sich definiert. Ich wohne in einem Teil der Stadt, in dem es viele chassidische Juden gibt. Man sieht sie jeden Freitagabend und Samstag in ihren traditionellen Gewändern zum Tempel gehen. Für sie spielt es also eine Rolle.

Verbergen Sie Ihr Jüdischsein?
Nein, überhaupt nicht! Seit wir im früheren Haus von Onkel Jack wohnen, der 2019 im Alter von 103 Jahren gestorben ist, haben wir sogar eine Mesusa am Hauseingang.

Ist es in Los Angeles von Bedeutung, ob man sich als Mann, Frau oder binär versteht, oder ob man schwarz oder weiß ist, Christ, Muslim, Jude oder Atheist?
Es gibt noch immer eine gewisse Diskriminierung von Juden in den USA und auf der ganzen Welt. Die Neonazi-Aufmärsche und die Ereignisse in Charlottesville sind ebenso wie andere Angriffe auf Juden eine traurige Erinnerung an einen überwunden geglaubten Antisemitismus.

Spielt Cancel Culture eine Rolle?
Ich denke, es ist wichtig, sich der Geschichte bewusst zu werden, die man vorher nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte und der man heute aufmerksam begegnet. Der Mord an George Floyd hat viele Menschen wachgerüttelt. In dieser Corona-Zeit haben wir ein Schild für unseren Vorgarten gebastelt, auf dem zu lesen steht: „Rassismus ist auch eine Pandemie“. Neulich hörte ich einen Vertreter der Anti-Defamation League, der sagte, wir bräuchten mehr Wokeness als Cancel Culture. Dieser Gedanke gefällt mir.

Erleben Sie Unterstützung für Ihre künstlerische Arbeit durch die jüdische Gemeinde von L.A., oder ist das für Sie nicht von Bedeutung?
Ich sehe keine Unterstützung und erwarte sie auch nicht. Meine Arbeit hat nichts mit Religion oder mit meinem Jüdischsein zu tun.

In Europa wird Antisemitismus oft hinter Israelkritik versteckt. Beobachten Sie Ähnliches auch an der US-Westküste?
Ich kann nicht sagen, dass ich in meiner Umgebung Antisemitismus wahrnehme. Viele unserer Freunde sind jüdisch und meist säkular. Die Situation in Israel und in Palästina ist komplex. Aber wenn man die Nachrichten verfolgt, sieht man Antisemitismus überall. Es ist beschämend. Juden und Schwarze scheinen immer die Sündenböcke zu sein.

Doch ich möchte noch etwas Wichtiges hinzufügen: Durch die Arbeit meiner Frau Doris, die ich Mitte der 1990er Jahre in Wien kennenlernte, habe ich viel über jüdische Exilanten und Emigranten und deren erstaunlichen Beitrag zu Hollywood erfahren. Sie hat als Kuratorin am jüdischen Skirball Cultural Center und jetzt als Vizepräsidentin für kuratorische Angelegenheiten am Academy Museum of Motion Pictures viel davon in unsere abendlichen Gespräche nach Hause gebracht. Durch ihre Arbeit erhielt ich Einblicke in die Widerstandsfähigkeit von Jüdinnen und Juden und wie es einigen von ihnen gelang, nicht nur zu überleben und ein neues Leben zu beginnen, sondern auch, in Los Angeles aufzublühen und zu gedeihen. Es ist so inspirierend, von ihnen zu lernen und zu sehen, wie man durch Kreativität und harte Arbeit Notlagen überwinden kann.

Die Einschusslöcher in den Häusern am Prenzlauer Berg werden bei Steinman zu Berliner Leichentüchern. © STEVEN STEINMAN
Arbeit beruht auf der Natur, der Zeit und der Musik“: Steven Steinmans blühende Strukturen in „America Deserta 2021“.
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