Auge um Auge

Die Bewohner des jüdischen Viertels von Boston haben auf ihn die Namen ihrer ermordeten jüdischen Verwandten in Europa geschrieben: Der berühmte Baseballschläger des berüchtigten „Bear Jew“ aus „Inglourious Basterds“ (Originalrequisit, Jüdisches Museum Wien). © LUKAS PICHELMANN

Die Ausstellung „Rache. Geschichte und Fantasie“ im Jüdischen Museum Frankfurt thematisiert die Kulturgeschichte jüdischer Rachefantasien sowie die wenigen tatsächlichen Racheakte an nationalsozialistischen Tätern. Dazu ist ein lesenswerter und vorzüglich gestalteter Begleitband erschienen.

VON MICHAEL PEKLER

Wer Rache übt, handelt nicht gerecht. Und wer gerecht sein will, darf deshalb keine Rache nehmen. Doch schließen Recht und Rache einander tatsächlich kategorisch aus, wie es der moderne Rechtsstaat voraussetzt? Anders gefragt: Kann und darf es so etwas wie gerechte – oder wenigstens gerechtfertigte – Rache überhaupt geben?

Die Antwort ist, wie könnte es anders sein, so schwierig und komplex wie der Begriff Rache selbst, besonders wenn es sich – und damit wird es noch komplizierter – um jüdische Rache handelt. Nicht nur um Fantasien in historischen, literarischen und filmischen Erzählungen, sondern auch und vor allem in den seltenen Fällen tatsächlicher jüdischer Vergeltung.

Wahrheit und Legende

Das Jüdische Museum Frankfurt hat sich nun mit der groß angelegten Ausstellung „Rache. Geschichte und Fantasie“ des Themas angenommen und einen Begleitband vorgelegt, der dieses um zahlreiche Facetten erweitert und vertieft.

Da treffen die Erzählungen über Judith und Simson, der den Tempel der Philister zum Einsturz brachte, auf Texte, die das Rachemotiv innerhalb der jüdischen Tradition aufgreifen; neben biblischen Geschichten stehen Berichte über jüdische Outlaws und sogar Piraten; die kabbalistische Erzählung vom aus Lehm erschaffenen Golem samt antisemitischer Implikationen ist ebenso Thema wie die Legende von den sogenannten Roten Juden, den Rächern der Endzeit. Nicht zuletzt sind Texte vertreten, die sich der Rache an den Tätern des Holocaust widmen, sowohl Berichte über vereinzelte reale Racheakte als auch fiktionale Fantasien von jüdischer Vergeltung in der Populärkultur.

Hier betritt man nun jenes weite Feld von Kunst und Trash, Comics und Videospielen, Autorenfilm und Schundliteratur, in dem die Frage nach der jüdischen Rache als einer „gerechten“ Strafe anders gestellt wird als noch in den biblischen Schriften – und die deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil sie von enormer Breitenwirksamkeit und medialer Aufmerksamkeit bestimmt wird. An Quentin Tarantinos erfolgreichem Blockbuster Inglourious Basterds (2009) – als kontrafaktischer Meta-Film konzipiert – führt etwa nach wie vor kein Weg vorbei. Doch was bedeutet es, wenn das Motiv jüdischer Rache endgültig in den Mainstream einsickert? Soll eine Serie wie Hunters mit Al Pacino, die sich als plakative Gegenerzählung versteht und in der eine US-jüdische Geheimorganisation in den 1970er Jahren Nazis jagt, von der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau für die sogenannte „Schachspielszene“ kritisiert werden? „Living well is not the best revenge“, behauptet etwa Pacino zum neuen Mitglied der Jagdgesellschaft. „You know what the best revenge is? Revenge.“

„Wollen Sie Wasser?“

Aufschlussreich ist vor allem jene Frage, die sich als roter Faden durch zahlreiche Textbeiträge zieht: Warum wird jüdische Rache – ob real oder fiktiv – nicht als ausgleichende Gerechtigkeit verstanden und wiederholt eine Form von „Versöhnung“ eingefordert? „Der Wunsch nach Rache wird selten in den Kontext einer verwehrten Gerechtigkeit durch unzureichende Strafverfolgung gestellt“, schreibt die Medienwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg in ihrem Beitrag, weshalb vor allem Fernsehfilme mitunter das Bild entstehen ließen, dass Vergeltung falsch sei, weil „auf anderem Wege Gerechtigkeit gefunden werden könnte. Dass dem mitnichten so war, muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.“

Warum dem mitnichten so war, beantwortet Co-Herausgeber und -kurator Max Czollek in seinem Textbeitrag über die Rache als Topos jüdischer Selbstermächtigung: Vor allem für das (west-)deutsche – und man müsste einfügen: österreichische – Schweigen spielte die „Suche nach Vergessen, Entlastung und Neuerfindung“ eine zentrale Rolle, „konnte das nichtjüdische Deutschland untröstliche, auf Rache sinnende Jüdinnen und Juden nicht gebrauchen. (…) Die Rezeption der Werke Nelly Sachs’, Ilse Aichingers oder Rose Ausländers, aber auch der Tagebücher Anne Franks, können das auf ihre jeweils eigene Weise bestätigen.“

Umso größere Bedeutung kommt also einem deutsch-israelischen Rachedrama wie Plan A (2021) zu, inszeniert vom Brüderpaar Doron und Yoav Paz, in dem Max (August Diehl) als Überlebender der Shoah auf die jüdischen Widerstandskämpfer der Nakam trifft, die nach Kriegsende beschließt, sechs Millionen Deutsche zu töten, indem Gift durch die Wasserversorgung großer deutscher Städte fließen soll.

„Wollen Sie Wasser?“, fragt wiederum Yehuda Maimon, genannt „der Rächer“, seinen deutschen Gast zu Beginn des im Band veröffentlichten Interviews. Maimon, im November 2020 im Alter von 93 Jahren gestorben, beteiligte sich als Weggefährte von Abba Kovner an eben diesem Racheplan. „Er schob die Schüssel mit Schokoladekugeln zu mir, ich nahm eine, wickelte sie langsam aus, steckte sie in den Mund und dachte, während sie dort zerging, was für eine Pointe es wäre, jetzt noch vergiftet zu werden.“

Neben rabbinische Schriften geht der Rundgang auch auf biblische Figuren ein: Zu sehen ist etwa „Judith und Holofernes“ von Jacopo Ligozzi.
FOTO: NORBERT MIGULETZ/JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT
Jüdische Rachefantasien in der Popkultur: In zahlreichen US-Comics finden sich Figuren, die Rache an ihren Peinigern üben. FOTO: NORBERT MIGULETZ/JÜDISCHES MUSEUM FRANKFURT

„Rache. Geschichte und Fantasie“
Jüdisches Museum Frankfurt
Bis 17. 7. 2022

Max Czollek, Mirjam Wenzel, Erik Riedel (Hg.)
Rache. Geschichte und Fantasie
Begleitband zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt
Hanser, 2022
176 S., EUR 26,80

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