Angespanntes Verhältnis

Die israelische Außenministerin Golda Meir am 2. Oktober 1973 zu Gesprächen im Bundeskanzleramt bei Bruno Kreisky. Dieser beharrt auf der Schließung des Transitzentrums Schloss Schönau. ©VOTAVA/BRANDSTAETTER IMAGES/PICTUREDESK.COM

Der israelische Diplomat Daniel Aschheim widmet sich in „Kreisky, Israel and Jewish Identity“ einem bislang wenig erforschten Aspekt der Biografie des österreichischen Langzeitkanzlers.

Von Michael J. Reinprecht

Daniel Aschheim stellt den „Marchegg Incident“ ins Zentrum seines Buches. Diese „Geiselnahme von Marchegg“ ist auch Angelpunkt der Politik Kreiskys gegenüber Israel, gilt als Symbol seines komplizierten Verhältnisses zum jüdischen Staat. Seit 1964 hatte der von der Jewish Agency angemietete „abgewirtschaftete Schlossbau“ (© Spiegel) rund 70.000 Juden und Jüdinnen aus der UdSSR als Durchgangsstation zur Weiterreise nach Israel gedient. Goldene Zeiten der bilateralen Beziehungen, von der Jerusalem Post gar als „the best ever“ beschrieben, so Aschheim.

Dann zu Rosch Haschana, in den ersten Tagen des Monats Tishrei 5734, also am Freitag, dem 28. September 1973 vormittags – der Chopin-Express aus Moskau war gerade in der Grenz-/Zollstation Marchegg eingefahren – passierte es: Zwei palästinensische Terroristen brachten drei aus der Sowjetunion angereiste jüdische Fahrgäste sowie einen österreichischen Zollbeamten in ihre Gewalt und verlangten, mit den vier Geiseln Richtung Nahost ausgeflogen zu werden. Kreisky gab nach: Noch am selben Tag beschloss ein Sonderministerrat die sofortige Schließung von Schloss Schönau als Transitstation ausreisewilliger Sowjetjuden. Premierministerin Golda Meir, gerade zu Besuch beim Europarat in Straßburg, war empört: „There can be no deal with terrorists“. Sie kürzte ihren Aufenthalt im Elsass ab und flog nach Wien.

Daniel Aschheim gelingt es, diese Tage packend zu schildern, wie einen Thriller, der den Ablauf des nunmehr 50 Jahre zurückliegenden „Zwischenfalls“ in Erinnerung ruft. Denn während „Marchegg“ und die folgende schwere Krise in den Beziehungen Wien–Jerusalem im kollektiven Gedächtnis Israels fest verankert sind, scheint die Erinnerung daran im österreichischen historischen Narrativ verblasst. So auch das Gespräch mit Golda Meir, nur drei Tage später; Kreisky gibt nicht nach, beharrt auf der Schließung des Transitzentrums Schloss Schönau. Aschheim gibt selbst der ikonischen Anekdote, der sozialdemokratische österreichische Bundeskanzler habe der sozialdemokratischen israelischen Premierministerin nicht mal ein Glas Wasser angeboten, Raum.

Marchegg symbolisiert das komplizierte, angespannte, ja, teils widersprüchliche Verhältnis des österreichischen Langzeitkanzlers mit seiner Identität als Jude und vor allem in Bezug auf den Staat Israel. Deutlich wird dies von Aschheim auch mit der Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre aus 1975 vor Augen geführt, als Kreisky den „Nazi-Jäger“ Wiesenthal als Chef einer „konservativen jüdischen Mafia“ (©Aschheim) beschimpft.

Im Gespräch mit NU erklärt der österreichische Spitzendiplomat und Bruno Kreiskys Langzeit-Sekretär, Wolfgang Petritsch, das vergiftete Verhältnis Wiesenthal–Kreisky mit deren diametral entgegengesetzten Lebensmodellen: Kreisky sei als nicht-religiöser, assimilierter, bürgerlicher Jude antizionistisch eingestellt gewesen und habe daher für die von Wiesenthal eingenommene Opferrolle so gar kein Verständnis aufbringen können. „Kreisky war sein Leben lang ein Jude aus der Vor-Holocaust-Zeit“, wird Petritsch von Aschheim zitiert.

Vor der Tatsache, dass 21 seiner Familienmitglieder Opfer der Schoa waren, hat Kreisky die Augen verschlossen. Er war Antizionist und nicht-religiös, er sei Agnostiker, sagte er immer wieder. Um sein Jüdischsein baute er ein „gepanzertes Schild“. Oder, wie es der Wiener Historiker Oliver Rathkolb in Aschheims Buch ausdrückte: „Das Judentum war Kreiskys Achillesferse“. Die Qualität des Judentums als die eines Volkes sah Kreisky nicht. Israel war für ihn ein Land wie jedes andere. Das Faktum, selbst Jude zu sein, hatte keinerlei Bedeutung für seine Beziehung zu Israel. „So sehr ich mich auch bemühe“, zitiert Aschheim den ehemaligen österreichischen Bundeskanzler in seinem Buch, „ich kann nicht erkennen, warum mir das Land meiner Vorfahren (Österreich-Ungarn) weniger lieb sein sollte als ein Wüstenstreifen, zu dem ich keine Bindungen (keinen Bezug) habe“.

Kreisky spielte bewusst mit dem Antisemitismus; er wusste nur zu gut über die „österreichische Seele“ Bescheid und profitierte politisch davon. Durch seine Geringschätzung der „Ostjuden“ – und als einen solchen sah und bezeichnete er auch Wiesenthal – hat er den Antisemitismus in Österreich auch befeuert. Gleichzeitig diente Kreisky als „exzellentes Alibi“, wie der damalige Maariw-Korrespondent Menachem Oberbaum dem Buchautor gegenüber darlegte: Wie könne man behaupten, die Österreicher seien antisemitisch? „Wir haben doch einen jüdischen Bundeskanzler gewählt!“

Wie Aschheim schreibt, war Kreisky getrieben von antifaschistischer Überzeugung. Verständnis entwickelte er gegenüber NS-Genossen, mit denen er 1936 gemeinsam im Kerker saß. Sein Hass galt dem Ständestaat, dessen geistiger Vater die Christlichsoziale Partei war. Seine Gegnerschaft zur ÖVP als Nachfolgepartei der Christlichsozialen blieb zeitlebens Triebfeder seines politischen Handelns. Dass Wiesenthal ÖVP-Mitglied war, mag übrigens in Kreiskys Auseinandersetzung mit dem „Nazijäger“ eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben. Bruno Kreisky lehnte ein Einbekenntnis der österreichischen Mitschuld an den NS-Verbrechen ab, sondern machte die Mär von Österreich als dem ersten Opfer Hitlerdeutschlands gewissermaßen zur Staatsdoktrin.

Aschheim lässt die 1970er und 1980er Jahre wieder aufleben, weckt Erinnerungen. Beim Lesen wird man, je nach Neigung, die eine oder andere Facette dieses politischen Sachbuchs mit einem Lächeln oder einem Kopfschütteln wiedererkennen. Neben reichlichem Quellenmaterial aus Archiven und Literatur stützt sich Aschheim besonders auf Oral History, führt zahlreiche Gespräche und Interviews mit Weggefährten und Zeitzeugen, vor allem aus Österreich und Israel. Diese persönliche Note macht die Lektüre kurzweilig und leuchtet Aspekte aus Bruno Kreiskys politischem Leben aus, die man bisher in der Fachliteratur nicht so leicht zu finden vermochte.

Kreisky, Israel and Jewish Identity hat das Potenzial zum Standardwerk über die umstrittene Persönlichkeit Bruno Kreiskys. Über den Sonnenkönig, den österreichischen Bundeskanzler der Jahre 1970-1983, dem es gelungen ist, die österreichische Gesellschaft aus dem Mief der Fünfziger Jahre in die Moderne zu führen. Der aber, trotz seines Bemühens um den Frieden im Nahen Osten, das Verhältnis Wiens mit Jerusalem für Jahrzehnte beschädigt hat.


Daniel Aschheim
Kreisky, Israel and Jewish Identity (engl.)
University of New Orleans Press, 2022
18,95 $ (Paperback)

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