Ständig alles Mögliche

Vergangenes Jahr im Großen Festspielhaus: Das Solistenkonzert von Evgeny Kissin war ein Erlebnis. Für alle Anwesenden. Foto: SF/Marco Borrelli

Wäre man Max Reinhardts Vision einer Kultur für „das Volk“ wieder einen Schritt näher, wenn die Festspiele ihre Produktionen einem größeren Publikum zugänglich machen würden?

Verursacht der im Wald umstürzende Baum auch ein Geräusch, wenn niemand da ist, um es zu hören? Die Antwort darauf kennt jedes Kind: Stell ein Mikrofon hin und zeichne es auf. Aber würden wir damit nicht so tun, als ob wir vor Ort wären, obwohl wir es gar nicht sind? Eine Frage, die in den vergangenen Wochen vor allem die Kulturwelt beschäftigte: Macht es einen Unterschied, ob man ein abgesagtes Kulturereignis live, also selbst anwesend, erlebt hätte – zum Beispiel das Konzert von Larkin Poe im WUK, irgendein österreichisches Filmfestival oder den Zigeunerbaron in der Volksoper –, oder ob man sein technisches Equipment, sozusagen das Mikro im Wald, in fremde Hände auslagert und zuhause konsumiert?

Es war höchste Quarantänezeit, und alle schwärmten vom Streaming. Nicht nur von Kinofilmen und TV-Serien, für die man nun – falls mit entsprechenden sozialen und finanziellen Privilegien ausgestattet – endlich Zeit hatte, sondern auch vom unüberschaubaren Angebot zahlreicher Kulturinstitutionen und Festivals. Hier war der neueste österreichische Film plötzlich online zu sehen, den man sich im Kino niemals angeschaut hätte; dort führte ein Kurator durch eine Ausstellung und zwang einen dazu, sich das Bild genauso lang anzusehen, wie er davorstand. Und aus der Perspektive der Kamera. Der ständige Hinweis aller, dass das ohnehin nur vorübergehend sei und selbstverständlich kein Ersatz sein könne für den echten Kulturgenuss, wurde bald zu Leerformel.

Als „Ersatz für die Träume“ bezeichnete indes schon Hofmannsthal vor hundert Jahren das Kino und lag damit natürlich auch deshalb daneben, weil er nur den Stummfilm („stumm wie Träume“) kannte. „Der Eingang zum Kino“, so der Mitbegründer der Salzburger Festspiele, „zieht mit einer Gewalt die Schritte der Menschen an sich, wie – wie die Branntweinschänke.“ Als mit dem sogenannten Lockdown hundert Jahre später fast alles Vergnügliche geschlossen wurde – Theater, Kinos, Museen und Branntweinschänken –, führten die Ausweichmanöver rasch ins Internet. Und man hörte von ungeahnten Möglichkeiten, dem Volk derart Kultur vermitteln zu können. Wer sich bislang keine Karte für die Staatsoper leisten konnte, durfte allabendlich kostenlos Aufzeichnungen aus dem ersten Haus am Ring genießen, zwar zuhause, aber fußfrei. Und darf es nun weiterhin gratis, wie es der Staatsoperndirektor den Steuerzahlern versprach. Das abgesagte renommierte Theatertreffen, zu dem man nie anreiste, konterte mit Bildschirmtheater, und auch die Berliner Schaubühne öffnete ihr Archiv. Peter Steins Brecht-Inszenierung Die Mutter aus dem Jahr 1970 wollte man doch schon immer gesehen haben.

Beglückende Zusammenkünfte

„Die Festspiele sollen allen zugänglich sein. Allen, die sich aus der Zerrissenheit dieser Zeit sehnen nach der beglückenden Einheit der Kunst. Ich glaube, die Zeit ist reif dafür. Ich will in diesem Sommer anfangen.“ Max Reinhardt wusste sehr genau, was er wollte, auch noch Ende der Dreißigerjahre im amerikanischen Exil. Doch seine Vision einer Zugänglichkeit für alle war eine ganz andere als die in den vergangenen Monaten beschworene. Denn selbst wenn man dem Gedanken, dass das Internet den Zugang zur Kultur erleichtern könnte, etwas abgewinnt – die Idee vom „Theater als Ereignis“, wie Reinhardt es vor Augen hatte, die Vorstellung von einer „beglückenden“ Zusammenkunft von Künstlern und Zuschauern lässt sich so nicht verwirklichen. Ebenso wenig, wie Reinhardt seine Pläne von theatralischen Großprojekten vor den Toren Hollywoods verwirklichen konnte. Seine Idee des lebendigen Theaters für „das Volk“ wurde zusehends zu einem fantastischen Konstrukt.

Die vergangenen Monate haben aber auch gezeigt, dass anstelle des Live-Ereignisses – da braucht der kulturelle Notstand noch gar nicht ausgerufen sein – sofort die Selbstverständlichkeit des ständigen Angebots tritt. Und der Imperativ, dass man nicht aufhören dürfe, Kultur zu produzieren und nicht aufhören solle, Kultur zu konsumieren. Die Frage nach der Notwendigkeit hat sich nicht gestellt.

„Salzburg online“ mag verlockend klingen, mit der Vision Reinhardts hätte ein ins Internet ausgelagertes Streaming-Ereignis nichts zu tun. Auch nicht, wenn das Mikrofon statt im Wald auf der Bühne des Festspielhauses aufzeichnet.

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