Zwei Juden, drei Meinungen

© KURIER/Gerhard Deutsch

Es gibt einen bekannten Witz, den man in einem Satz erzählen kann: Zwei Juden haben drei Meinungen.
Während manche glauben, dass wir Juden eine monolithische Religionsgruppe sind, ist die Realität leider anders: Es gibt kaum ein Gebiet, auf dem alle Juden einer Meinung sind. Und es ist ein bisschen spitz, zu sagen, dass zwei Juden sogar mehr als zwei Meinungen vertreten können. Eine sehr klassische Anekdote zu diesem Thema lautet: Ein Jude war einmal schiffbrüchig und lebte einige Jahre allein auf einer Insel. Durch Zufall kam ein Schiff in die Nähe. Die Leute sahen den Mann und boten ihm an, ihn wieder zurück in die Zivilisation zu bringen. Der Jude sagte: „Ich komme gern mit euch, möchte euch aber vorher zeigen, was ich auf dieser Insel alles gebaut habe.“ Er zeigte ihnen ein Haus und eine Synagoge, dann ein Feld und noch eine Synagoge. Verwundert fragten die Retter, wozu ein Mensch zwei Synagogen brauche. Und er antwortete, indem er auf eine der beiden zeigte: „In diese gehe ich nicht.“
Die Quelle dieser Erzählung ist aber eine ganz ernste, nämlich, dass für viele gesetzliche Fragen Diskussionen unter den Talmud-Gelehrten entstanden sind. Es handelte sich dabei immer wieder um Auslegungen von biblischen Vorschriften. Kein Rabbiner kann diese außer Kraft setzen und beispielsweise sagen, dass man am Schabbat arbeiten darf. Aber darüber, was genau eine Arbeit am Schabbat ist, könnte es Diskussionen geben.
Wählen wir ein leichteres Beispiel.

Acht Tage, acht Kerzen

Zum Chanukka-Fest werden Lichter in einem Leuchter entzündet, um an das Wunder zu erinnern, dass ein Krüglein Öl, das nur für einen Tag gereicht hätte, acht Tage lang Licht spendete. So sagte der berühmte Rabbiner Schamai: „Man zündet am ersten Abend acht Kerzen, am zweiten sieben, und so immer weniger, bis man am letzten Tag nur mehr eine Kerze anzündet.“ Sein klassischer Kontrahent Hillel hingegen meinte, man zündet am ersten Tag eine Kerze und an den folgenden Tagen zwei, drei, vier, bis man am letzten Tag acht Kerzen entzündet.
Beide begründen ihre Meinung. Schamai sagt: „Auch wenn das Licht so lange brannte, so ist es doch eindeutig, dass es immer weniger wurde.“ Hillel wiederum sagt: „Bei geweihten Dingen soll man nicht reduzieren, daher heißt es immer mehr Kerzen.“
Für den Normalsterblichen ist das wahrscheinlich alles ein wenig zu spitzfindig. Aber so sind wir Juden eben.
Und es gab noch eine dritte Meinung, die allerdings von einer anderen Person stammt, dass nämlich an jedem Abend nur eine Kerze gezündet wird.
Die jüdische Welt entschied sich, so wie Hillel zu verfahren, und so werden heute in allen jüdischen Häusern zum Chanukka-Fest eine, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Kerzen angezündet. Warum muss der Talmud diese ganze Diskussion so detailliert bringen? Wäre es nicht einfacher, nur Hillels Meinung zu erwähnen?
Eine Antwort dafür könnte sein: Was macht ein Jude, der allein auf einer Insel ist – kommt uns das nicht bekannt vor? –, wenn er vor Chanukka feststellt, dass er nur acht Kerzen hat? Wenn er am ersten Abend eine Kerze anzündet, am zweiten zwei, am dritten drei – dann bleiben ihm nicht genug Kerzen und er muss an den anderen Abenden auf das Anzünden der Kerzen verzichten. In diesem Fall kann er die dritte Meinung in Betracht ziehen, wonach man an jedem Tag nur eine Kerze zündet.

Wann es Abend wird

Sogar was den Schabbat betrifft, hat ein solcher Gelehrtenstreit zu einer wichtigen Entscheidung geführt, die heute überall so praktiziert wird: Jeder Tag, so auch der Schabbat, beginnt bei uns Juden am Abend davor, also am Freitagabend, und er endet am Samstagabend. Es ist aber überraschenderweise so, dass der Schabbat nicht 24, sondern 25 Stunden dauert, nämlich von Freitag, Sonnenuntergang (da gibt es noch ein wenig Licht) bis Samstag (Sternenaufgang bzw. volle Dunkelheit). Diese unlogisch klingende Regel entstand aus einem Gelehrtenstreit.
Die Juden können sich über nichts einigen, nicht einmal, wann eigentlich Abend ist.
Ein Rabbi war der Meinung, es sei Abend, wenn die Sonne untergeht. Ein anderer Rabbi war der Meinung, Abend sei erst bei voller Finsternis. Würden wir nach Rabbi eins gehen, würden wir den Schabbat von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang feiern und könnten Samstagabend nach Sonnenuntergang wieder arbeiten. Dann würden wir aber, nach der Meinung des zweiten Rabbi, am Schabbat arbeiten, denn bei ihm endet er ja erst circa eine Stunde später, nämlich nach Einbruch der vollen Dunkelheit.
Wenn wir nach der Meinung des zweiten Rabbi den Schabbat feiern würden, dann könnte ein Jude am Freitagabend vor Einbruch der vollen Dunkelheit noch arbeiten, würde dann aber den Schabbat nach der Meinung des ersten Rabbiners entweihen. Und so wurde entschieden, den Kompromiss zu wählen: Wir beginnen Schabbat bei Sonnenuntergang und enden nach Einbruch der Dunkelheit. Damit können beide leben, auch wenn sie schon lange tot sind …

Gelehrte Gründe

Ein moderneres Beispiel, wo der Kompromiss nicht ganz gelungen ist: Dieser betrifft das Pessach-Fest, das ja in diesen Tagen gefeiert wird. Zu Pessach essen Juden kein Brot, sondern Mazzes, also ungesäuertes Brot, weil die Thora berichtet, dass die Juden so schnell aus Ägypten auszogen, dass der vorbereitete Teig nicht zu Brot wurde. Jahrtausende wurde dieses Brot selbstverständlich mit der Hand gerührt und geknetet und in einem Ofen gebacken, wobei vor allem auf die Geschwindigkeit Wert gelegt wird, damit der Teig nicht womöglich doch gärt.
Im 19. Jahrhundert erfanden jüdische Ingenieure eine Maschine zum Mazzesbacken. Sofort entstand ein Gelehrtenstreit darüber, ob man diese Maschine verwenden darf. In Osteuropa haben sehr viele, vor allem chassidische, Rabbiner die Benützung dieser Maschine aus verschiedenen, auch technischen, Gründen verboten. Sie befürchteten in erster Linie, dass in dieser Maschine das Gären des Teiges nicht überprüft und vermieden werden könnte. Vor allem deutsche Rabbiner, die vielleicht die Technik besser verstanden, argumentierten umgekehrt: dass nämlich diese Maschinen besonders gut vermeiden konnten, dass der Teig zu gären begann.
Hier kam es, anders als beim Schabbat, zu keinem Kompromiss.
Ich habe zwei Schwiegersöhne, von denen einer aus Deutschland stammt, der andere aus Osteuropa. Der eine isst zu Pessach nur Handmazzes, der andere nur Maschinenmazzes. In dem Fall: zwei Juden – (nur) zwei Meinungen.
P.S.: Ein gutes Beispiel dafür, wie die Zerstreuung der Juden in der Diaspora, die in dieser NU-Ausgabe Thema ist, auch zu verschiedenen religiösen Gebräuchen geführt hat.

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