„Wir wären eine amputierte Religion“

Die Bibelschule in Israel war für Dompfarrer Toni Faber eine wesentliche Erfahrung: „Durch den Besuch der Synagogen und der Gottesdienste habe ich viel von dem gelernt, was unsere christliche Identität ausmacht.“ ©Ouriel Morgensztern

Über viele Jahrhunderte hinweg war das Verhältnis des Christentums mit dem Judentum zumeist von Hass erfüllt. In den letzten Jahrzehnten hat sich das komplett geändert. Ein Gespräch mit Dompfarrer Toni Faber.

Von Danielle Spera

NU: Wie würden Sie die gegenwärtige Beziehung zwischen Christen und Juden beschreiben?

Toni Faber: Es ist ein ungeheuer belastetes Verhältnis, weil den Jüdinnen und Juden unsägliche Verbrechen im Namen des christlichen Glaubens angetan worden ist – in einer völligen Verdrehung all dessen, was biblische Geschichte im Gesamten bedeutet. Denn Jesus und die zwölf Apostel waren natürlich alle praktizierende Juden, die nicht daran dachten, die Synagoge zu verlassen sondern versuchten, eine messianische Richtung des Judentums zu leben. Glücklicherweise ist dies nach der Schoa im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgearbeitet worden. Endlich wurde betont, dass Jüdinnen und Juden unsere älteren Brüder und Schwestern sind, dass wir aus demselben Stamm gewachsen sind. Heute lesen wir die Bibel ohne diese schrecklich antisemitische Brille und wissen ganz genau, was wir dem jüdischen Volk schuldig sind. Für mich waren drei Monate Bibelschule in Israel ein wesentlicher Einschnitt. Da realisierte ich, dass Antisemitismus nicht nur etwas mit der Geschichte, sondern mit uns heute etwas zu tun hat. In dieser Zeit habe ich durch den Besuch der Synagogen, der Gottesdienste und in jüdischen Häusern viel von dem gelernt, was unsere christliche Identität ausmacht. Ich spreche daher von unseren jüdisch-christlichen Wurzeln, wenn ich versuche, unsere religiösen Wurzeln zu kennzeichnen

Woher kommt es, dass so viele Christen noch immer nicht wissen, dass das Judentum der Ursprung des Christentums ist?

Das war eine verdrehte Katechese, die sich über Jahrhunderte festgesetzt hat – durch die Gewalt, die Jüdinnen und Juden im Namen der Religion angetan wurde. Es wird vermutlich noch länger dauern, bis das aus allen Köpfen draußen ist. Aber gerade aus der schrecklichen Erfahrung der Schoah heraus muss jeder Mensch diese Barbarei begreifen und erkennen, dass der Antisemitismus mit uns zu tun hat. Niemand kann das leugnen. Niemand, der Mauthausen oder Auschwitz besucht. Ich kann es nicht leugnen, wenn ich am Riesentor des Stephansdoms die Darstellungen des Judenhutes sehe; wenn ich weiß, was in der Gesera, der Zerstörung der jüdischen Wiener Gemeinde im Mittelalter, passiert ist. Wenn ich weiß, wo unsere Synagogen niedergebrannt worden sind. Die Ächtung, die Diskriminierung und sogar das Töten wurden in dem Irrglauben verübt, Gott ein wohlgefälliges Opfer darzubringen. Da ist durch die Spannungen der Anfangszeit, die Abspaltung zwischen den vielen verschiedenen Gruppierungen. eine Feindschaft gewachsen. Heute sollte es durch den Religionsunterricht oder die Volksbildungsangebote in Theologie und Spiritualität selbstverständliches Wissen sein, dass wir aus demselben Stamm kommen.

Gibt es nicht große Wissenslücken? Man müsste ja eigentlich auch klarmachen, dass, wer einen Psalm liest, ein jüdisches Gebet spricht.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass unsere christliche Kirche im Gründungsdokument nur von jüdischen Frauen und Männern handelt und von nichts anderem. Die Heilige Schrift ist der erste Bund Gottes mit seinem Volk. Ich selbst habe nach Israel kommen müssen, um biblische Geschichte und Literatur zu studieren, damit ich endlich erkennen konnte, dass wir das Judentum nicht wie ein lebendiges Museum betrachten sollen, sondern dass es ein lebendiger Teil von uns ist. Ich erlebte Gottesdienste in Synagogen, habe hebräisch studiert, mit Freude die Heilige Schrift gelesen und eine Mesusa an meinem Türpfosten gehabt. Ich war sehr stolz, dass ich mich auch im israelischen Alltag beweisen und Wegweiser oder auch Fahrpläne lesen konnte.

Viele Christen wissen nicht, dass die Pflicht zur Nächstenliebe aus dem Alten Testament stammt. Woher kommt die These, dass dort nur vom strafenden Gott die Rede ist?

Auch ich hatte diese Bilder im Hinterkopf. Während des Studiums hatte ich einen sehr engagierten Professor, der mit diesen Schemen aufgeräumt hat und uns die vielen Gottesbilder im Alten Testament erschlossen hat. In der Seelsorge, im Katechismus ist da vielleicht lange vieles in Bruchstücken geblieben, die vielen verschiedenen Beschreibungen Gottes, des Erbarmens und der Nächstenliebe. Nehmen wir das „Aug um Auge“, denn es meint keinen ewig rächenden Gott, sondern im Gegenteil eine Eindämmung der Rache. Auf der akademischen Ebene ist das jedenfalls angekommen, sonst vielleicht nicht überall. Ich musste das sogar meinen Eltern klarmachen. In konservativen Kreis herrscht noch immer Antisemitismus. Wir müssen uns der fürchterlichen Leidensgeschichte des jüdischen Volks stellen, die wir als Christen mitgeschrieben haben. Wir müssen das in einen neuen Kontext stellen, auch was die künstlerischen Darstellungen am Dom anbelangt. Hier ist noch viel zu tun.

Das heißt, der religiöse, christliche Antisemitismus existiert noch immer?

Ja, in diesen diffusen Formen des sektiererischen, erzreaktionären Christentums, der verschrobenen Frömmigkeit. Dort gibt es überhaupt einen wissenschaftskritischen Ansatz, manche glauben tatsächlich daran, dass man Krankheiten gesundbeten kann. Aber was die Lehre des Papstes, der Bischöfe, des Katechismus betrifft, ist das vollkommen gereinigt. Denn wir haben die Welt als Gabe Gottes zu betrachten, aus der wir das Beste machen müssen im Einklang mit dem Schöpfer, der uns diese Talente gegeben hat, um sie einzusetzen. Die Päpste Paul VI. oder Johannes Paul II. haben Synagogen besucht, sich mit Rabbinern ausgetauscht. Papst Franziskus hat ein Weltgebet initiiert, bei dem jüdische und muslimische Vertreter gemeinsam mit christlichen zusammenkommen. Damit wird deutlich aufgezeigt, dass wir alle Brüder und Schwestern sind.

Das Judentum kommt ohne das Christentum aus, das Christentum aber nicht ohne das Judentum.

Wir wären eine amputierte Religion ohne das Judentum. Es ist kaum mehr vorstellbar, was vor 1965, vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, unterrichtet wurde, dieses schwarz-weiß Denken über den Gott der Rache und den Gott der Liebe. Wir sind gewarnt, dass wir nicht wieder in diese Gräben gelangen. Da ist ein kritisch hinterfragender Glaube notwendig.

Heute hört man oft den Begriff des jüdisch-christlichen Erbes, wie ist das zu bewerten?

Das jüdisch-christliche Erbe umfasst alles, was wir uns als aufgeklärte naturwissenschaftlich hinterfragte Welt geschaffen haben, die Frage des Woher und Wohin – in einer ganz großen Selbstverantwortung. Wir müssen einerseits das Individuum ernst nehmen als Gottes Ebenbild und gleichzeitig das Gemeinwohl. In dieser Balance haben wir viel mehr Chancen als in einem blinden Nationalismus, oder im kommunistischen Atheismus, wo der Einzelne unwichtig wird, oder in einer superkapitalistischen unverantwortlichen Überhöhung des Einzelnen. Durch unser jüdisch-christliches Erbe sind wir vor solchen Gefahren gewappnet. Wir müssen über den Tod hinausdenken, das Leben nicht nur als letzte Gelegenheit betrachten, wo jeder rücksichtlos macht, was er will. Da bin ich stolz auf unseren Papst Franziskus, der mit den Weltreligionen einen Weg beschreitet und betont, dass wir auf die Gemeinsamkeiten eingehen müssen.

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