„Werden die Ränder stärker, kann es schwierig werden“

EU-Experte Stefan Lehne glaubt an einen EU-Beitritt der Ukraine. Wie sich der Hamas-Angriff auf die politischen Beziehungen auswirken wird, hängt von der Entwicklung in den kommenden Monaten ab. ©MARTIN JUEN/SEPA MEDIA/PICTUREDESK

Von MICHAEL J. REINPRECHT

NU: Die US-Tageszeitung „Politico“ schreibt, dass für die Europawahlen im Juni 2024 gewaltige Stimmenzuwächse für rechte und rechtsextreme Parteien vorhergesagt werden. Wie sehr werden diese Wahlen das Gesicht der Europäischen Union verändern?

Stefan Lehne: Die erste brisante Frage ist die nach der Wahlbeteiligung. Diese ist ja seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 stets gesunken – bis 2019 plötzlich um zehn Prozent mehr zur Wahl gegangen sind. Was zeigt, dass in dieser Krisensituation die EU an Relevanz für die Bürger gewann. Schon damals war der Durchmarsch der radikalen Rechten angekündigt, und das hat natürlich auch auf der anderen Seite eine Gegenbewegung ausgelöst. Es wird interessant sein, ob sich diese Dynamik fortsetzt und ob die Wahlbeteiligung abermals höher sein wird. Es kann nämlich auch möglich sein, dass die Bevölkerung „schlecht aufgelegt“ ist gegenüber Europa – und das kann sich in größerer Passivität manifestieren. Die Umfragen prognostizieren Gewinne am rechten Rand, aber diese werden, denke ich, nicht unbeschreiblich dramatisch ausfallen. Es wird keinen Durchmarsch geben, aber das „Zentrum“ wird dünner. Erwartet werden Verluste für die EVP, die Sozialdemokraten und die Liberalen, für die Grünen vermutlich ein massiver Rückschlag.

Was sind sie Ursachen?

Das Neue an der Situation ist, dass die radikalen rechten Parteien in der Vergangenheit nur ein Thema gehabt haben, nämlich die Migration. Jetzt haben sie eine viel breitere Themenpalette: die Wut über das Pandemie-Management, teilweise eine Ablehnung der europäischen Russland-Politik, enorme Frustration über die Inflation und natürlich eine Ablehnung des Green Deal. All das verbessert die Chancen der rechten Parteien bei den nächsten Wahlen.

Sie haben die europäische Russland- und Ukraine-Politik angesprochen. Ist es vorstellbar, dass die Wahlen die EU-Position zum Ukraine-Krieg beeinflussen?

Nicht unmittelbar, einfach weil das Europäische Parlament in der Außenpolitik eine sehr bescheidene Rolle spielt. Aber ich denke, dass generell durchaus die Gefahr besteht, dass eine gewisse Kriegsmüdigkeit einkehrt. Dass man sagt, es dauert schon so lange, die wirtschaftlichen Folgen, auch auf dem Energiesektor sind zwar nicht so dramatisch wie ursprünglich befürchtet, aber sie sind doch beträchtlich. Der Enthusiasmus für die Unterstützung der Ukraine wird geringer werden. Ich glaube, solange die USA konsequent auf ihrem Kurs bleibt, solange wird auch der schon leicht brüchige Konsens in der EU aufrecht bleiben. Aber es gibt Tendenzen: Es gibt ein Friedenslager von Staaten, die lieber heute als morgen einen Waffenstillstand hätten, und dann gibt es ein Sieglager, das sich keine andere Lösung vorstellen kann als die Rückeroberung aller ukrainischen Gebiete. Diese Gegensätze sind bisher latent und man versucht sie unter den Teppich zu kehren. Aber natürlich können sie in den Vordergrund rücken.

Das Friedenslager ist klein. Das ist ja nur Ungarn, oder?

Nein, ich würde Österreich dazu zählen, Griechenland, die Slowakei. In Rumänien und Bulgarien hat die Öffentlichkeit weitgehend Verständnis für die russische Position. Es gibt also durchaus eine Reihe von Staaten, die nur sehr bedingt solidarisch sind mit der Ukraine.

Sind die Versprechungen der EU an die Ukraine übertrieben? Ist ein Beitritt der Ukraine zur Union in absehbarer Zukunft realistisch?

Aus meiner Sicht ist es wahrscheinlich, dass die Ukraine nicht alle Gebiete zurückerobern kann und dass der Krieg in irgendeiner Form weitergeht … Und dann wird es sehr wichtig für den Westen, dass die Ukraine als funktionierendes Staatswesen erhalten bleibt, obwohl es teilweise besetzt bleibt. Eine NATO-Mitgliedschaft wird da schwierig, da sind auch die USA sehr zurückhaltend. Aber möglicherweise gibt es einen enormen Druck, dass zumindest die EU-Mitgliedschaft in absehbarer Zeit zustande kommt.

Hält das mit der EU-Absorptionsfähigkeit Schritt?

Ja. Wenn der politische Wille da ist, dann ist das zu schaffen.

Aber die Ukraine ist ein großes Land …

… mit einer beträchtlichen Kapazität. Ein Land, das eine große russische Armee abwehren kann, ist letztlich wohl in der Lage, den Acquis communautaire (verbindliche Rechte und Pflichten aller Mitgliedstaaten, Anm.) umzusetzen. Ja, es gibt große Probleme, etwa im Bereich der Landwirtschaft und der Regionalpolitik, doch diese können durch differenzierte Integration und lange Übergangsfristen gelöst werden. Ich würde nicht ausschließen, dass der Druck besteht, im Jahr 2030 in diese Richtung zu kommen. Die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen zu Ende dieses Jahres schließe ich nicht aus. Falls Ursula von der Leyen wiedergewählt wird, wird sie das mit Verve vorantreiben. Und die Leute, die sagen, das funktioniert nicht, schwindeln bewusst. Denn im Grunde haben alle Untersuchungen nach der großen Beitrittswelle von 2004/2007 gezeigt, dass die Effizienz der EU nicht wirklich gelitten hat. Es wird auch mit 30, sogar mit 33 Mitgliedstaaten funktionieren.

Israel ist seit dem Angriff der Hamas wieder im Krieg sowie im Zentrum der europäischen Öffentlichkeit und Politik. Das Verhältnis zwischen EU und Israel war in den letzten Jahren schwierig. Werden die Europawahlen hier eine Auswirkung haben, die Beziehungen verbessern oder gar verdunkeln?

Es ist richtig, dass in den letzten Monaten in Europa viel Kritik an einigen Aspekten der israelischen Politik zu hören war. Aber die Reaktionen auf die terroristischen Angriffe vom 7. Oktober haben doch gezeigt, dass Europa große Solidarität für Israel empfindet, wenn dessen Sicherheit akut bedroht ist. Wie sich das auf die politischen Beziehungen auswirkt, wird von den Entwicklungen der nächsten Monate abhängen. Dass die Europawahlen hier wichtige Veränderungen bringen werden, halte ich für unwahrscheinlich. Sicher ist jedoch, dass der Mittlere Osten nach längerer Zeit wieder im Blickpunkt der europäischen Öffentlichkeit und Politik stehen wird.

Das EU-Parlament bemüht sich seit vielen Jahren, die Attraktivität der Europawahlen durch das Prinzip der Spitzenkandidaten und die Schaffung eines einheitlichen Wahlkreises zu erhöhen. Man hat jedoch den Eindruck, die Mitgliedstaaten lassen das nicht zu. Führt man sich die Wahl der Präsidentin der Europäischen Kommission 2019 vor Augen, könnte man behaupten: Die EU-Staats- und Regierungschefs machen, was sie wollen.

Nein, das ist nicht richtig. Die Staats- und Regierungschefs wollten 2019 nicht unbedingt ihren Kandidaten, sondern die Fraktionen im EU-Parlament waren nicht bereit, den Vorsitzenden der EVP und damaligen Wahlsieger, Manfred Weber, zu unterstützen. Erst dadurch ist der Europäische Rat überhaupt ins Spiel gekommen. Auch diesmal werden wieder Spitzenkandidaten aufgestellt werden: Die EVP wird wohl Frau von der Leyen nominieren, die Sozialdemokraten sind sich offensichtlich noch uneins. Aber die Chance des erfolgreichen Kandidaten wird davon abhängen, ob es gelingt, eine entsprechende Koalition im Europäischen Parlament zustande zu bringen. Die EVP wird vermutlich die stärkste Partei bleiben, aber sie wird geschwächt sein und Koalitionen brauchen, um ihren Kandidaten durchzubringen. Der Besuch der Kommissionspräsidentin in Lampedusa Mitte September ist für mich ein klares Signal, dass sie erstens wieder kandidieren will, und zweitens die Stimmen der Fratelli d’Italia benötigen wird.

Können transnationale Listen das Interesse für die Wahlen steigern?

Transnationalen Listen halte ich persönlich für eine sehr gute Idee. Denn im Grunde genommen sind die Europawahlen eine Aneinanderreihung nationaler Wahlen von nationalen Parteien. Es gibt keinen wirklichen europäischen Wahlprozess. So sind die transnationalen Listen, in Verbindung mit dem Prinzip der Spitzenkandidaten, eine sehr vernünftige Lösung. Allein, die Mitgliedstaaten sind zum Großteil skeptisch bis ablehnend, weil die nationalen Parteien ihre Machtposition nicht schwächen wollen. Sie wollen keine echten europäischen Parteien. Sie wollen weiterhin die Listen kontrollieren. Und es gibt ein weiteres Problem: Die Leute werden gewählt und „verschwinden“ in Brüssel. Es gibt Abgeordnete, die sehr wichtig sind in der europäischen Politik, sehr mächtig. Aber ihre Wähler wissen das nicht. Was fehlt, ist der Transmissionsriemen. Da hat das Europäische Parlament selbst ein wirkliches Demokratiedefizit.

Das sieht man auch an den Themen.

Es sind nur nationale Themen, die den Wahlkampf der Europawahlen beherrschen. Es wird alles aus dem Blickwinkel der nationalen Wahlen gesehen. Das ist ein Problem.

Von dem die antieuropäischen Parteien profitieren?

Ein Viertel des Europaparlaments besteht aus Antieuropäern. Der Motor des Parlaments sind die Parteien der Mitte, die Christdemokraten, die Sozialdemokraten und die Liberalen haben gut zusammengearbeitet. Wenn die Ränder nun stärker werden, ist offen, ob diese Mitte stark genug bleibt, um das legislative Rad der EU am Laufen zu halten. Bislang braucht es drei Parteien für die entsprechenden Mehrheiten, werden die Ränder stärker, wird es schon ein wenig schwieriger. Auch das werden die Europawahlen zeigen.

 

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