Wenn ein Gelübde den Tod bringt

Der Ritus und das damit verbundene „Kol Nidre“ leiten das Versöhnungs- und Sühnefest ein: Betende in der Synagoge an Jom Kippur (Gemälde von Maurycy Gottlieb, 1878).

Am Tag vor Jom Kippur werden gläubige Juden von unbedachten Gelübden losgesprochen. Wie es dazu gekommen ist und warum sogar dieser versöhnliche Ritus antisemitisch missdeutet wurde.

Von Fritz Rubin-Bittmann

Am Anfang steht das verhängnisvolle Gelübde eines Vaters und Feldherrn, beschrieben im Buch Richter (Kapitel 11, Verse 30 und 31). Als die Ammoniter einen Krieg gegen Israel anzetteln, beschwören die Ältesten Jiftach (auch Jephta), ihr Anführer zu sein. Jiftach sucht eine Lösung auf dem Verhandlungswege, doch die Ammoniter lassen nicht mit sich reden. Er muss in den Krieg ziehen und legt dem Herrn ein Gelübde ab: „Wenn du die Ammoniter wirklich in meine Gewalt gibst und ich wohlbehalten von den Ammonitern zurückkehre, dann soll, was immer mir (als Erstes) aus der Tür meines Hauses entgegenkommt, dem Herrn gehören und ich will es ihm als Brandopfer darbringen.“

Jiftach ist erfolgreich. Doch als er sein Versprechen einlösen muss, beginnt sein persönliches Drama: „Als Jiftach nun nach Mizpa zu seinem Haus zurückkehrte, da kam ihm seine Tochter entgegen; sie tanzte zur Pauke. Sie war sein einziges Kind; er hatte weder einen Sohn noch eine andere Tochter. Als er sie sah, zerriss er seine Kleider und sagte: ,Weh, meine Tochter! Du machst mich niedergeschlagen und stürzt mich ins Unglück. Ich habe dem Herrn mit eigenem Mund etwas versprochen und kann nun nicht mehr zurück.ʻ“

Auswüchse mit Einschränkung

Das todbringende Gelübde von Jiftach ist ein klassischer Hintergrund für eine Regel im Judentum, die jedes Jahr einmal die Möglichkeit vorsieht, ein Gelübde aufzuheben.
Der Ritus und das damit verbundene „Kol Nidre“ leiten Jom Kippur ein, das Versöhnungs- und Sühnefest, das heuer vom 15. September abends bis 16. September abends gefeiert wird. Der Inhalt dieses Gebets ist die Annullierung aller im Laufe des vergangenen Jahres gemachten Gelübde – mit einer wesentlichen Einschränkung: Es betrifft nur Gelübde, die die eigene Person betreffen, sei es, dass man sich durch ein Gelübde etwas auferlegt hat, sei es, dass man sich durch ein solches etwas versagt hat. Ausdrücklich ausgenommen sind Gelübde oder Versprechen anderen gegenüber.

Im biblischen Israel bestand die in allen Volksschichten weit verbreitete Gepflogenheit, Gelübde abzulegen. Jiftach, der aufgrund seines Gelübdes seine Tochter opferte, ist ein tragisches Beispiel für diese Unsitte. Um solche Auswüchse durch ein unbedacht eingegangenes Gelübde zu vermeiden, gab es schon seit alters die Möglichkeit des Dispenses. Aber ausschließlich ein Kollegium von drei gelehrten Männern war autorisiert, ein Gelübde zu annullieren.

In diesem Sinne ist auch ein aus späterer Zeit stammender Lehrsatz aus dem Talmud zu verstehen, der eine solche Ungültigkeit prophylaktisch vorsieht: „Wer wünscht, dass ein Gelübde während des Jahres keinen Bestand haben soll, der sage am Neujahrsfest: Jedes Gelübde, das ich tun werde, soll ungültig sein.“

Dieser talmudische Satz ist auch der Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die „Kol Nidre“-Formel, weshalb es bei einzelnen orthodoxen Juden üblich ist, diese bereits am Vorabend des Neujahrsfestes Rosch Haschana zu sprechen. Dass aber die Allgemeinheit sie am Vorabend von Jom Kippur spricht, wird damit begründet, dass nur am Versöhnungs- und Sühnetag die Gemeinde vollzählig in der Synagoge vorhanden sei.

Entscheidende Selbstverpflichtung

Eine vieldiskutierte These besagt, dass die „Kol Nidre“-Formel in der Liturgie von Jom Kippur auf die Zwangschristianisierung der Juden im Westgotenreich zurückgehe. In größter seelischer Not und Gewissenspein sollen zwangsbekehrte jüdische Scheinchristen das „Kol Nidre“ als Widerruf ihrer erzwungenen Lossagung vom Judentum ins Feiertagsgebet eingeführt haben.

Entscheidend war in jedem Fall die Frage, ob ein Gelübde nur eine Selbstverpflichtung war oder ob es ein Versprechen jemand anderem gegenüber war. Die Autoritäten der Rabbiner sagen eindeutig, dass es eine Nichtigkeitserklärung nur für solche Gelübde geben kann, die der Gelobende freiwillig übernommen hat und die keine fremden Interessen tangieren. Hat etwa jemand in einer Notsituation gelobt, einem Helfer zu einem späteren Zeitpunkt in welcher Form immer Dankbarkeit zu erweisen, könne dieses Versprechen nicht aufgelöst werden.
Trotz dieser klaren Einschränkung war „Kol Nidre“ seit dem Mittelalter ein Anlass vieler Unannehmlichkeiten und großer Missverständnisse, die sich bis zu antisemitischer Hetzpropaganda und Polemik steigerten. Es wurde den Juden unterstellt, das Ritual des Versöhnungstages, das Gelübde auflösen könne, leiste dem Betrug, der Lüge und der Gaunerei Vorschub. Diese Unterstellung diente der Mobilisierung antijüdischer Vorurteile: Durch religiöse Vorschrift sei der Jude aller Verpflichtungen entbunden und halte daher keine Abmachungen.

Wie solle man einem solchen Menschen trauen, der sich an kein Versprechen und keine Zusage gebunden fühle, wurde geargwöhnt, und welchen Wert könne ein Vertrag mit einem solchen Partner haben, der öffentlich in der Synagoge am Vorabend seines größten Feiertages sich aller Verpflichtungen und Versprechungen bereits für das kommende Jahr entbinde und entledige? Der Jude habe sich damit im Voraus einen Freibrief für unseriöse Geschäftspraktiken und hinterhältigen Betrug ausgestellt. Damit sei erwiesen, dass das Judentum per se seine Anhänger zu Vertrauensbruch, Wortbruch und Gaunerei animiere.

Vorurteile und Missdeutungen

Unzählige unbegründete Anklagen gegen die Ethik des Judentums und gegen die Eidesleistungen der Juden wurden mit Hinweis auf „Kol Nidre“ vorgebracht. So wurde bei den Verhandlungen über die Gleichberechtigung der Juden im Russland des 19. Jahrhunderts eine besondere hebräische Einleitung zu „Kol Nidre“ gesetzlich vorgeschrieben. Diese besagte, dass die Befreiung von Schwüren, Eiden und Gelübden zulässig sei, die man sich selbst gelobt oder geschworen habe – nicht aber von Gelübden und Verpflichtungen gegenüber der Obrigkeit oder anderen gegenüber.

Das alles war durch die rabbinische Deutung der „Kol Nidre“-Formel zwar längst so definiert. Um solchen krassen Missdeutungen, irrigen Interpretationen und boshaften Unterstellungen jedoch vorzubeugen, wurden in neuere Gebetsbücher Anmerkungen über den wahren Sinn der Formel eingefügt.

Berührende Melodie

Im heutigen Ritus stellen sich zwei Mitglieder der Gemeinde mit einer Torarolle zu beiden Seiten des Vorbeters auf. Dieser rezitiert dann den Einleitungstext nach einer bekannten volkstümlichen, feierlichen Melodie, welche die tiefsten Regungen der Seele wiedergibt. Sie bringt die Atmosphäre des „Kol Nidre“ – in der Erwartung, dass Wehmut, Ernst, Reue und Hoffnung ineinander verwoben sind – in ergreifender Weise zum Ausdruck. In großer Andacht stellen sich Menschen dem Gericht des Ewigen, mit dem Gefühl der Reue und Buße, aber auch der Zuversicht auf Vergebung und der Hoffnung auf einen Neubeginn.

Die Liturgie des Kol-Nidre-Abends erhält ihre Feierlichkeit, Würde und Bedeutung durch die Melodie und weniger durch den Text. Diese Melodie hat auch viele Nichtjuden zutiefst berührt. Nikolaus Lenau war von ihr begeistert und Max Bruch komponierte mit Kol Nidrei (1880) eine zu Herzen gehende Vertonung für Cello mit Orchester und Harfe.

Diese Komposition war das Lieblingsstück der berühmten Cellistin Jacqueline du Pré. Sie spielte sie, so oft sie konnte. Als sie tragischerweise schwer erkrankte, ließ sie sich Bruchs Komposition immer wieder vorspielen – selbst in ihrer Todesstunde.

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