Wenn die Welt doch nicht verrückt wird

Wie erging es dem Journalisten Christian Ortner, als er Anfang Jänner einen eindeutig pro-israelischen Kommentar in der Tageszeitung „Die Presse“ veröffentlichte? Lesen Sie den Kommentar auf Seite 15 nach. Für NU fasst er seine Erfahrungen hier zusammen.
Von Christian Ortner

Zu den Vorteilen des Journalistenberufes gehört zweifellos, dass man immer wieder interessanter Begegnungen mit anderen Menschen teilhaftig wird. Wie etwa jener mit einem mir völlig unbekannten Mann an einem Samstagvormittag, kürzlich in der Wiener Naglergasse. „Was ich da so über Israel schrieb“, so stellt mich der Fremde, „sei ja nun wirklicher Mist.“ Er wisse aber, fügt er gleichsam mich entschuldigend hinzu, warum das so sei: „Weil wenn ihr Journalisten nicht mindest einmal in der Woche was Judenhöriges in eure Blattln schreibts, dann seids ja euren Job los, dafür sorgen die Juden dann schon.“ Sprach’s und ging seiner Wege (der Typ war übrigens stocknüchtern, durchaus artikuliert und in feines Maßtuch gekleidet).

Wenn man so etwas mag, braucht man üblicherweise als Journalist in diesem Land nur die Meinung vertreten, dass Israel kein blutrünstiges Naziland ist, das sich im Wesentlichen damit beschäftigt, Konzentrationslager für harmlose Palästinenser zu betreiben – und schon kann man sich empathischer Leserreaktionen wie dieser kaum erwehren. Üblicherweise. Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Nachdem am 8. Jänner in der „Presse“ mein (hier nochmals abgedruckter) Kommentar „Immer Ärger mit den Juden“ erschienen war, bekam ich innerhalb weniger Tage rund 400 Mails von Lesern, was doch wesentlich mehr als üblich ist. Doch das wirklich Merkwürdige war: Fast 90 % der Mails waren freundlich, zustimmend, ja gelegentlich sogar von einer berührenden Art: etwa von einem in Florida wohnenden 90-jährigen Überlebenden der Shoa, aus einem Kibutz im Süden Israels, von ein paar Journalisten- Kollegen, deren Namen ich hier in Ihrem Interesse besser nicht nenne.

Natürlich kamen auch eine Handvoll durchaus kritischer Mails, doch bis auf ganze zwei Stück – das muss man sich bitte vorstellen, zwei von 400 – war dabei keine Spur von dem, was ich irgendwie doch erwartet hatte: der übliche Dreck.

Nicht einmal der notorische Palästinenserversteher Fritz Edlinger, der mir sonst schon empört schreibt, wenn ich auch nur unter der Dusche erwäge, einen Kommentar über Israel zu schreiben, hat sich gemeldet (meine leise Hoffnung: Er hat mich als unbelehrbar abgeschrieben; meine Befürchtung: Er war bloß auf Urlaub).

Seither frage ich mich natürlich beklommen: Ist die Welt verrückt geworden, wenn ein Kommentar, der Israel nicht routinemäßig als Schurkenstaat beschreibt, nicht sofort 90 % Leserreaktionen generiert, so wie man sie sich halt vorstellt („Solche wie Sie, Herr Redakteur, raucht unser Jörgel in der Pfeife!“)?

Zu befürchten ist: Das deutet nicht auf eine Änderung des Meinungsklimas hin, sondern bloß auf ein statistisches Phänomen. Wenn sehr selten mal ein Kommentar erscheint, der Israel nicht verurteilt, fühlen sich die wenigen, die diese Meinung teilen, natürlich eher motiviert, darauf zu reagieren. Ganz abgesehen davon, dass diese für mich eher unerwarte Leserreaktion natürlich ohnehin von der jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung, dem Mossad und gewissen Ostküstenkreisen gesteuert worden sind, wie meine Naglergasse-Bekannschaft wohl meinen wird.

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