Vom goldenen Weg der Mitte

© KURIER/Gerhard Deutsch

Von Paul Chaim Eisenberg

Sehr bekannt ist die talmudische Geschichte von einem Proselyten, der zu einem Rabbiner kam und ihn fragte: „Ich möchte gern zum Judentum konvertieren. Aber nur dann, wenn du mir das Judentum zu erklären vermagst, solange ich auf einem Bein stehen kann.“ Der Rabbi empfand dies als Provokation und warf ihn hinaus.

Daraufhin ging der Proselyt zu Hillel, dem berühmten talmudischen Rabbiner, und fragte ihn das gleiche. Hillel antwortete: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andren zu. Das ist die Hauptregel. Die habe ich dir erzählt, während du nur auf einem Fuß gestanden bist. Aber jetzt geh und lerne auch die anderen Inhalte!“ Vielleicht könnte man sagen, dass Hillel hier sehr viel Toleranz bewies.

Als ich Oberrabbiner wurde, wurde ich mehrmals gefragt, ob ein Oberrabbiner so etwas Ähnliches wie ein Bischof oder Kardinal bei den Christen sei. Meine Antwort war: Ein Oberrabbiner ist auch nur ein Rabbiner. Aber während die Rabbiner alle Gesetze und Regeln des Judentums können sollten, muss der Oberrabbiner auch die Ausnahmen kennen.

Eine zweite Frage, die vielleicht mit der ersten zusammenhängt, wurde mir auch gestellt: „Muss der Oberrabbiner der frömmste und strengste Vertreter des Judentums sein?“ Und hier habe ich geantwortet: „Am besten ist es, wenn der Oberrabbiner seine Position irgendwo im Zentrum einnimmt, sodass er ,mit jedem kannʻ.“

Ein Vertreter der Mitte – man nennt es auch „die goldene Regel“ – war Rabbi Mosche Ben Maimon, abgekürzt Rambam. In seinem berühmten, 14-bändigen Gesetzeswerk Mischne Tora – Zusammenfassung der Lehre schreibt er in den Vorschriften bezüglich der erstrebenwerten Eigenschaften (Hilchot Deot) sinngemäß übersetzt Folgendes: „Jeder Mensch hat Eigenschaften, die sich von denen anderer Menschen unterscheiden. Zum Beispiel: Ein Mensch wird sehr schnell zornig. Einen anderen kann man nicht aus der Ruhe bringen, der wird nie zornig sein. Einer ist stolz und übermütig. Demgegenüber ist der andere so bescheiden, dass man es ihm schon nicht mehr glaubt. Ein Mensch wird von seiner Lust beherrscht. Ein anderer lebt schon fast zu asketisch. Da gibt es einen, der sein ganzes Geld verprasst und mit beiden Händen aus dem Fenster wirft. Und dort ist einer, der ist geizig und gibt weder für sich noch einen anderen auch nur einen Groschen aus.“

Kleine Abweichungen

Maimonides setzt fort: „Diese gegensätzlichen Extreme sind nicht der richtige Weg. Der richtige Weg ist der Mittelweg.“ Was aber ist der Mittelweg? Nehmen wir den Zorn als Beispiel. Hier sagt Maimonides: „Ein Mensch kann bei besonders argen Erlebnissen manchmal ein wenig zürnen. Wenn er sich nämlich alles gefallen lässt, ohne im Geringsten zu reagieren, ist er gefühllos.“

Von einem Menschen, der sich genau in dieser goldenen Mitte bewegt, sagt Maimonides, er sei ein Weiser. Wenn er aber ein wenig von der Mitte zum Positiven abweicht, also zum Beispiel duldsamer wird oder aber auch großzügiger, dann heißt er ein Chassid, ein Frommer. Diese Eigenschaften des Menschen beziehen sich oft nur auf ihn selbst, wie zum Beispiel die Enthaltsamkeit. Aber ganz wichtig ist die Wirkung auf andere.

Eines meiner Gemeindemitglieder kam zu mir und behauptete stolz und selbstgefällig: „Ich lebe den Weg von Maimonides. Ich gehe auf dem goldenen Mittelweg. Derjenige aber, der nur einen Brauch mehr als ich beobachtet, ist ein Fundamentalist; ein anderer, der eine Vorschrift weniger einhält, ist ein Ketzer.“

Als Oberrabbiner lebe ich in einer Gemeinde, wo ich im Gegensatz zu ihm solche Juden tolerieren und mit ihnen auskommen muss. Mehr noch: Ich muss auch ihn und seine Selbstgefälligkeit tolerieren. Aber tolerieren heißt dulden, es bedeutet nicht, dass ich es als richtigen Weg akzeptiere (siehe das Toleranzpatent von Joseph II., über das Danielle Spera schreibt). Von mir dazu ein andermal mehr.

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