Vom Berliner Kreuzberg zum Klagenfurter Kreuzbergl

Seit einem Jahr werkt der gebürtige Wiesbadener Aron Stiehl bereits am Klagenfurter Stadttheater. Doch während er voriges Jahr „nur“ den Spielplan seines Vorgängers verwaltete, stellt er sich nun dem Kärntner Publikum mit eigenem Programm vor. Und serviert zum Auftakt schwere Kost: Am 16. September hat Richard Wagners „Walküre“ Premiere.

VON ANDREA SCHURIAN (TEXT)
UND HELGE BAUER (FOTOS)

Ausgerechnet Klagenfurt? Es gibt Musiktheaterregisseure, die träumen beispielsweise von der Wiener Staats- oder Volksoper. Von der Staatsoper unter den Linden in Berlin. Von der Pariser Opera. Vom Broadway in New York oder vom Londoner East End. Aron Stiehl hingegen träumte von Kärntens Landeshauptstadt, ihrer Schönheit und ihrer idealen Lage im Alpe-Adria-Raum. Er hatte bereits einige Male in Klagenfurt Regie geführt – etwa bei Harold Arlens Musical Der Zauberer von Oz oder zuletzt bei Carl Zellers Der Vogelhändler – und sich dabei in die Stadt, die sie umgebenden Berge und Seen sowie in das Jugendstiltheater verliebt.

Als sein Vorgänger, Florian Scholz, ans Konzert Theater Bern wechselte, wurde Stiehls Traum Wirklichkeit: Der passionierte Wanderer übersiedelte nach 19 Jahren seinen gesamten Hausrat von Berlin Kreuzberg in eine elegante Altbauwohnung am Fuße des Klagenfurter Kreuzbergls, in Gehdistanz zu seiner neuen Wirkungsstätte. Ja, schaut so aus, als würden Aron Stiehl und sein bester Freund Moses, ein äußerst wohlerzogener Cockerspaniel, hier sesshaft werden wollen.

Die Klagenfurter Intendanz ist Stiehls erste Fixanstellung. Der 1969 in Wiesbaden geborene Opern- und Musicalregisseur war stets von Engagement zu Engagement unterwegs: Wien, München, Leipzig, Coburg, Bielefeld, Florenz, Karlsruhe, Magdeburg. In Tel Aviv inszenierte er auf Einladung Zubin Mehtas Die Entführung aus dem Serail. „Ich erinnere mich gut: Das erste Konzert, das ich nach meiner Ankunft in Israel hörte, war die h-Moll-Messe von Bach. Es war schon sehr berührend, diese ur-deutsche Musik dort zu hören. Dass sich trotz der Höhe der Kultur das Deutsche zum Monster wandelte, ist, was man nicht verstehen kann“, sagt er nachdenklich.

Macht der Liebe

Zum Auftakt der ersten von ihm konzipierten Saison serviert er den Klagenfurtern keine leichte Kost: Am 16. September hat Richard Wagners Walküre Premiere, in den kommenden vier Jahren wird der gesamte Ring des Nibelungen in Klagenfurt aufgeführt: Dessen Thematik vom Anbeginn der Schöpfung bis zum von den Menschen selbst verschuldeten Untergang in der Götterdämmerung sei aktueller denn je: „Wagner hat erkannt, dass die Menschen das Bibelwort ‚Macht euch die Erde untertan‘ eklatant missverstanden haben. Aber das Leitthema des Rings ist auch die Liebe. Es besteht Hoffnung, dass wir durch die Liebe eine Umkehr herbeiführen können. Dass wir nicht das Prinzip Macht über das der Liebe setzen dürfen, ist vielleicht Wagners wichtigste Aussage.“

Freilich ist ihm Wagners glühender Judenhass bewusst. „Unzweifelhaft war er ein furchtbarer Antisemit, seine Schriften sind teils grauenhaft. Aber seine Musik ist nicht antisemitisch. Seine Werke sind, wie die Mozarts oder Bachs, universell. Sie haben eine große Weisheit und behandeln alle existenziellen Menschheitsfragen: Woher kommen wir, wohin gehen wir, was bedeutet es, dass wir alle endlich sind und zu existieren aufhören? Was ist Liebe?“

Wagner habe mit seinem gesamtkunstwerklichen Schaffen das griechische Drama als demokratisches, klassenloses Theater wiederbelebt. „Er wollte ja auch, dass die Leute kostenlos ins Theater gehen können. Im alten Griechenland wurden die freien Bürger sogar dafür bezahlt. Ins Theater zu gehen war Bürgerpflicht, dort lernte man etwas über sich selbst und die Gesellschaft, was Demokratie bedeutet oder Verantwortung für sich und die Gemeinschaft.“

Wir sitzen auf der überdachten Veranda. Regen prasselt aufs Dach. Aus antiken Pendel- und Wanduhren tropft die Zeit. „Viele Jugendliche wissen gar nicht mehr, dass es mechanische Uhren gibt und wie sie funktionieren. Ich liebe alle mechanischen Dinge. Im Büro habe ich ein Grammophon, wie Thomas Mann es im Zauberberg beschreibt. Es klingt so, als stünde der Sänger neben einem. Als ich das erste Mal eine Platte auf dem Grammophon hörte, war ich wirklich sehr berührt. Das Digitale ist zwar toll, aber kalt, doch das Analoge ist fantastisch. Und der Klang der mechanischen Uhren macht die Atmosphäre in meiner Wohnung aus. Die Uhren leben, sie sind autonom, gehen vor und nach. Aber trotz der vielen Uhren“, sagt er und lacht verschmitzt, „komme ich fast immer ein bisschen zu spät.“

Frust des Ostens

Berlin vermisst er nicht, im Gegenteil. „Ich merkte, dass ich von dort wegwill.“ Als er vor 19 Jahren hinzog, war die Stadt divers, bunt, vielfältig, aufregend. Westen und Osten, Kapitalismus und Kommunismus, Vergangenheit und Zukunft mussten in der ehemals getrennten Stadt irgendwie wieder zusammenfinden. In seinem Kreuzberger Viertel lebten viele Schwule, Lesben, Ausländer. „Diese Mischung“, erinnert er sich, „war spannend und schön.“ Doch in der Zwischenzeit sei Berlin normal geworden – und vor allem sündteuer. „In meinem Kreuzberger Haus beispielsweise wohnte auch eine türkische Familie, es gab etliche alte Leute, die nur wenig Miete zahlten. Die mussten jetzt alle raus, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten konnten.“

Freilich gäbe es auch in Ostdeutschland schöne Städte, in manchen hat er auch inszeniert; aber dort leben wollte er nie, er hat sich dort immer unwohl, ja sogar unsicher fühlt. Die Aggression und Frustration vieler Menschen im Osten Deutschlands irritieren ihn, ebenso das oft offen zur Schau getragene rechte, völkische, rassistische Gedankengut: „Im Osten ist es mir tatsächlich passiert, dass mir jemand ,Kanake‘ hinterhergerufen hat. Offenbar schaue ich nicht deutsch genug aus. Das ist mir in Kärnten nie passiert.“ Andererseits kann er den Frust vieler Ostdeutscher nachvollziehen, die vom nationalsozialistischen in den kommunistischen Totalitarismus taumelten. „Dem Osten wurden blühende Landschaften und Wohlstand versprochen, die Menschen dort dachten, es wird alles besser. Und dann merkten sie, dass der Westen doch nicht so golden und Demokratie schwierig ist.“

Gesellschaftskitt Toleranz

Toleranz erachtet er als einen wesentlichen Kitt der Gesellschaft, „Es muss Toleranz geben, dass – und damit! – wir miteinander leben können, unabhängig von unserer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit. Wir müssen tolerieren, dass es keine absoluten Wahrheiten gibt, was mitunter schlecht auszuhalten ist. Die einzige absolute Wahrheit ist das Toleranzgebot.“ Wer glaube, dass in der Demokratie alles sagbar sei, liege völlig falsch: „Sonst kann man ja auch behaupten, die Welt sei eine Scheibe. Dinge wie Holcaustleugnung und Antisemitismus müssen tabu sein.“ Deshalb hat es ihn auch einigermaßen verstört, als er kürzlich in einem Klagenfurter Kaffeehaus von einem deutschen Landsmann mit antisemitischem Verschwörungsmüll zugelabert wurde. Oder dass ihm, nachdem er sich mit seinem Namen vorgestellt habe, in Deutschland – „nie in Kärnten!“ – beschieden wurde, mit jemandem, der Aron heiße, diskutiere man nicht. „Das ist beschämend und macht mir Angst.“

Dabei ist Aron Stiehl nicht jüdisch, sondern hat vielmehr das, was man eine typisch deutsche Vergangenheit nennen könnte: Die Großeltern väterlicherseits waren Nazis, die mütterlicherseits nicht. Über die Nazigräuel Bescheid wussten die einen wie die anderen. Und rückblickend verschwimmen die Grenzen zwischen Plünderung und Errettung vor der Zerstörung: Als in dem kleinen Örtchen Bierstadt neben dem Wohnhaus von Nazi-Opa Stiehl in der Pogromnacht die Synagoge in Flammen aufging und der Mob alles kurz und klein schlug, versuchte der Großvater am Tag danach, aus dem devastierten Bethaus wenigstens ein paar Kultgegenstände zu retten: Murmeln aus der Jeschiwa beispielsweise, mit denen später sein Enkel spielen sollte; oder ein verkokeltes Gebetbuch. Aron Stiehl bot es dem Jüdischen Museum Berlin an, erhielt aber nie eine Antwort. Erst seit den 1980er Jahren erinnert eine Gedenktafel an die Bierstädter Synagoge.

Kein Leipziger Allerlei

Vorige Saison ließ Aron Stiehl auf die Fassade des Theaters den Artikel 1 der Menschenrechts-Charta schreiben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das, sagt er, ist das Credo des Theaters, an dem mehr als zweihundert Menschen aus 26 Nationen miteinander arbeiten, und es ist auch ein Protest gegen menschenunwürdige Zustände in Flüchtlingslagern in- und außerhalb Europas. Von saisonalen Mottos allerdings hält er wenig, „meist bleibt es nur Verpackung, der Inhalt fehlt.“

Der Spielplan eines Stadttheaters muss jedenfalls möglichst viel abdecken: Schauspiel, Oper, Operette, Musical, Experimentelles, Tragisches, Komödiantisches. „Wichtig ist nur, dass kein Leipziger Allerlei draus wird“, sagt Stiehl und lacht. Er selbst wird nur eine Produktion pro Jahr selbst inszenieren, schließlich sollen es ja keine Stiehl-Festspiele werden. Außerdem möchte er immer wieder den Elfenbeinturm Theater verlassen und in ganz Kärnten die Zusammenarbeit mit der freien Szene suchen, mit Literaten und Musikschaffenden aus dem Alpe-Adria-Raum; italienische, slawische und deutsche Kultur- und Musiksprachen einander gegenüberstellen und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit forcieren.

Unter dem Titel Nicht sehen etwa wird sich der junge israelische Regisseur Noam Brusilovsky mit der Frage beschäftigen, warum der Kinderarzt Franz Wurst quasi vor den Augen der Öffentlichkeit an die 50 jugendliche Patienten missbrauchen und schließlich sogar bei einem Burschen den Mord an seiner Frau bestellen konnte. Nicht auf der Theaterbühne, sondern am Originalschauplatz, dem großen Schwurgerichtssaal vis-à-vis, werden die berühmt-berüchtigten Freisler-Prozesse in szenischen Lesungen rekapituliert: Hitlers williger Vollstrecker, der als „Blutrichter“ in die Geschichte eingegangene deutsche Richter Roland Freisler, verhängte allein im Jahr 1943 in Klagenfurt 31 Todesurteile. Aber, erläutert Stiehl sein durchaus herausforderndes Konzept, „Theater darf nie didaktisch sein, mit erhobenem Zeigefinger agieren. Sondern es muss zum Denken anregen. Das geht mit Weinen und Lachen. Mit Sinnlichkeit geht es am besten.“

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