Viele Verurteilungen und eine Verbannung

Die Anklageschrift von Émile Zola ist druckreif. Der Schriftsteller und Journalist spielt in „J' accuse“ allerdings nur eine Nebenrolle. Foto: ©Guy Ferrandis

Dass Roman Polanskis jüngster Film „J’accuse“ über die Dreyfus-Affäre von Demonstrationen begleitet wurde, liegt nicht am Thema Antisemitismus. Wie im Verdachtsfall Woody Allen sind die Proteste das Ergebnis der MeToo-Debatte. Darf man trotzdem noch ins Kino?

Einer der Offiziere ist besonders neugierig. Wie Dreyfus denn aussehe, will er von Colonel Picquart (Jean Dujardin) wissen. Picquart hat nämlich ein Fernglas und kann die Szene, die sich 1894 am riesigen Platz der Pariser École militaire abspielt, genau beobachten. Zuerst werden Dreyfus die Epauletten abgerissen, dann die Knöpfe, schließlich wird sein Säbel zerbrochen und ihm vor die Füße geschmissen. Mit stoischer Miene lässt der Verurteilte die Degradierung über sich ergehen. Innerlich bebt er. Das kann Picquart natürlich nicht sehen, aber er kann Dreyfus gut beschreiben: „Wie ein jüdischer Verräter, der über sein verlorenes Geld heult.“

Roman Polanski wollte mit J’accuse den wichtigsten Film über Antisemitismus seit Jahren drehen. Gelungen ist ihm immerhin der bekannteste und am höchsten dekorierte in letzter Zeit. Doch die Premiere beim Festival von Venedig war bereits im Vorfeld von erheblichen Störungen überschattet – von der Affäre Polanski, die im Gegensatz zur Affäre Dreyfus nicht Geschichte, sondern Tagesgespräch ist. Der heute 84-jährige Regisseur hatte bekanntlich in den 1970er Jahren Sex mit einer Minderjährigen, wurde verurteilt und entzog sich, als sich das US-Gericht nicht an die ausverhandelte Bewährungsstrafe zu halten schien, seiner Haft durch Flucht. Im Zuge von MeToo tauchten 2017 schließlich neuerliche Vorwürfe gegen den Filmemacher auf.

Große Aufregung auch in der Folge bei der Verleihung der französischen Filmpreise Ende Februar: Während die Schauspielerin Adèle Haenel demonstrativ den Saal verließ, bekam Polanski – selbstverständlich in Abwesenheit – die höchste Auszeichnung, den César für die Beste Regie, zugesprochen. Lautstarke Proteste im und vor dem Saal rund um den exakt dutzendfach nominierten Film. Wie kann einer Persona non grata wie Polanski eine solche Ehre zukommen? Wieso kann ein derart renommiertes Festival wie Venedig in Zeiten von MeToo diesen Film programmieren? Ist der polnisch-französische Regisseur jüdischer Abstammung überhaupt berechtigt, einen Film über den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus zu drehen und damit etwaige Parallelen anzudeuten? Wird damit nicht der rehabilitierte Dreyfus vom verurteilten Polanski benutzt? Und darf ein solcher Film dann in den Kinos gezeigt werden oder sollte man nicht, wie in Paris anlässlich des Kinostarts geschehen, buchstäblich demonstrativ den Abbruch öffentlicher Vorführungen erzwingen? Fragen über Fragen, und noch mehr Meinungen.

Exklusiv fürs Regal

Vielleich hilft es, der „Affäre Polanski“ einen anderen Fall zur Seite zu stellen. Es geht, wieder einmal, um Woody Allen, den bekanntesten jüdischen Filmemacher, dessen jüngste Arbeit A Rainy Day in New York in Nordamerika nicht gezeigt wurde. Hier gab es allerdings keine Demonstrationen, weil sich die Amazon-Studios, die sich in einem Exklusivvertrag mit Allen die weltweite Veröffentlichung gesichert hatten, plötzlich dazu genötigt sahen, dessen romantische Komödie zurückzustellen. Der Weinstein-Skandal war in die Dreharbeiten geplatzt. „Shelved“ lautet der entsprechende Fachjargon der Branche für solche Filme, die ins Regal zurückverfrachtet werden, damit man sie nicht mehr findet – und am besten vergisst, um dem Ansehen nicht zu schaden. Doch um welches beziehungsweise wessen Ansehen geht es eigentlich? Im konkreten Fall wohl eher um das des Unternehmens und nicht das des Filmemachers.

„J’accuse“ von Roman Polanski (Trailer)

Dass ein politischer Historienfilm wie J’accuse und eine harmlose Gegenwartskomödie wie A Rainy Day gleichermaßen ins Kreuzfeuer geraten, liegt also nicht an ihrer Thematik oder ihrer Inszenierung, sondern am jeweiligen Regisseur. Zur Erinnerung: Woody Allen ist jener Filmemacher, gegen den die Anschuldigungen seiner Adoptivtochter Dylan Farrow wegen sexuellen Missbrauchs im Zuge von MeToo wieder auftauchten. Amazon ist jener milliardenschwere Konzern, der eben das Pentagon wegen „unverkennbarer Voreingenommenheit“ (sic!) bei einem an Microsoft gegangenen Rüstungsauftrag verklagte. Allens Schuld oder Unschuld wurde juristisch nie geklärt – er bleibt im rechtlichen Sinne also unschuldig, ganz im Gegensatz etwa zu Egon Schiele, dessen Bilder vom Richter eigenhändig während der Verhandlung verbrannt und der für einen Monat in den Arrest gesteckt wurde. Aber das waren andere Zeiten, dafür sind die Bilder des Wiener Expressionisten heute Millionen wert.

Nun sind weder A Rainy Day In New York noch J’accuse wirklich gelungen. A Rainy Day ist ein kleiner, über weite Strecken allzu gefälliger Film. Nett anzusehen, hübsch fotografiert und mit ein paar ganz guten Witzen und durchschaubaren Seitenhieben, in dem ein zerzauster Student (Timothée Chalamet) aus schwerreichem Elternhaus mit seiner College-Freundin Ashleigh (Elle Fanning) ein Wochenende in seiner Heimatstadt New York verbringt. Diese möchte als angehende Reporterin nämlich ein Interview mit einem bekannten Filmemacher führen, landet in der Folge aber bei dem gerade einen Ehekrieg ausfechtenden Drehbuchautor sowie zuletzt – halbnackt – beim zufliegende Frauenherzen sammelnden Star des Films. Am Ende erfährt die junge Frau, mehr Wanderpokal als Muse, einen Entwicklungsschub ihrer Persönlichkeit und trifft wieder ihren kleinen Gatsby. Zwischendurch regnet es.

Polanski macht es mit J’accuse, einer Verfilmung von Robert Harris’ Buch An Officer and a Spy, zwar besser, die politische Brisanz der Affäre – die Verurteilung Dreyfus’ aufgrund eines grassierenden Antisemitismus – allerdings zum reinen Hintergrund für die Geschichte eines aufrechten Mannes gegen ein System. Held des Films ist nämlich nicht Alfred Dreyfus (Louis Garrel), der auch nur in wenigen Szenen zu sehen ist, sondern eben Colonel Picquart, der sich vom antisemitischen Saulus zum für Gerechtigkeit kämpfenden Paulus wandelt. Kurz nach dem skandalösen Prozess wird der Oberst auch Leiter der französischen Geheimdienstabteilung und hegt bald den Verdacht, dass mit Dreyfus ein Unschuldiger auf die Teufelsinsel verbannt wurde.

J’accuse ist, wie es der deutsche Literaturwissenschaftler Fabian Scharf nennt, „eine verpasste Chance“. Selbstverständlich zeigt Polanski, wie Dreyfus verdächtigt wird, geheime Informationen an den deutschen Feind verraten zu haben; man verfolgt die fragwürdigen Expertisen des Grafologen (Mathieu Amalric) und – teils amüsiert – die Spitzelmethoden der französischen Geheimpolizei mit ihren Abhörschläuchen und Dampfbädern als Brieföffner. Über den gesellschaftlichen Kontext, Hintergründe oder die Hetzkampagnen der katholischen Presse erfährt man hingegen nichts. Es genügt Polanski zu zeigen, wie bei Dreyfus’ Degradierung der Mob antisemitische Parolen brüllt. Sogar Émile Zola bleibt Randfigur.

Die Naive: Elle Fanning schaut in „A Rainy Day in New York“ einen erlaubten Film und bei vielen Männern vorbei. Foto: ©Jessica Miglio/2019 Gravier Productions

Moralischer Standort 

Soll man sich also diese Filme – ungeachtet ihrer jeweiligen Schwächen – trotz ihrer Regisseure ansehen? Oder nur mit schlechtem Gewissen? Ist es eine Entscheidungshilfe zu wissen, dass sich Timothée Chalamet vom Film distanzierte und nun bereut, für Woody Allen gespielt zu haben, während Jude Law die Zurückstellung des Films zuletzt im Guardian als „fürchterliche Schande“ bezeichnete? Dass die Jury-Präsidentin von Venedig, Lucrecia Martel, vorab erklärte, sie werde Polanski „nicht zu seinem Film gratulieren“, obwohl sie ihn überhaupt noch nicht sah, während französische Stars offensichtlich kein Problem damit haben, in einem Film von Roman Polanski aufzutreten?

Doch die eigentliche Frage ist nicht die, ob soziale Ächtung im Einzelfall gerechtfertigt oder opportun ist. Sie betrifft, wie auch bei der unlängst völlig aus dem Ruder gelaufenen Debatte rund um die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke zu beobachten war, das komplexe Verhältnis zwischen künstlerischem Schaffen, der Rechtsstaatlichkeit und einer ethischen beziehungsweise moralischen Standortbestimmung der Person durch die Öffentlichkeit.

Hashtags lassen nicht viel Raum für Differenzierungen. Man muss zwischen mutmaßlichen und überführten Tätern unterscheiden – und vor allem für die Opfer eintreten. In jedem einzelnen Fall gilt es deshalb unbedingt, die richtigen Zusammenhänge herzustellen und sich erst dann, so man will, für oder gegen einen Kinobesuch zu entscheiden – falls man überhaupt die Möglichkeit hat. Und dabei nicht zu übersehen, dass das Kino als Teil der Unterhaltungsindustrie von wirtschaftlichen Interessen bestimmt ist. Weshalb auch Woody Allens Klage gegen Amazon auf 68 Millionen Dollar – mittlerweile kommentarlos eingestellt – nicht lange auf sich warten ließ. Ebenso wenig wie sein neuer, eben in Spanien entstandener Film. Zu sehen wohl kommendes Jahr zumindest in europäischen Kinos.

Am Set mit Woody: Auch Selena Gomez hat sich distanziert und ihre Gage lieber gespendet. Foto: © Jessica Miglio/2019 Gravier Productions

Manchmal hat man das Gefühl, dass viele Dinge zunehmend schlimmer erscheinen, nur weil sie nicht besser sind. Dass sich alles verselbstständigt. Und dass deshalb alle ständig nur noch reagieren. Bei der Arbeit, in der Politik, im Privaten und, ja, auch im Kino.

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