Unsere Hand ist ausgestreckt

„Jüdisches Leben ist in Wien integriert und findet selbstverständlich statt“: Benjamin Nägele (li.) und Klaus Hoffmann vor dem Stadttempel in der Seitenstettengasse.

Mit Benjamin Nägele und Klaus Hoffmann hat sich ein Generationswechsel innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde vollzogen. Ein Gespräch mit den neuen Generalsekretären für jüdische beziehungsweise kaufmännische Angelegenheiten über die nötige Vertrauensbasis, gesellschaftliche Verantwortung und manche Reibungspunkte.

NU: Wie macht sich der Generationswechsel, der mit Ihrem Amtsantritt vollzogen wurde, am stärksten bemerkbar?

Benjamin Nägele: Ich würde den Generationswechsel nicht nur am Alter festmachen. Er betrifft ebenso eine Veränderung hinsichtlich unserer gemeinsamen Arbeit. Der kaufmännische und der jüdische Aspekt der IKG sind nun viel enger miteinander verknüpft als früher.

Klaus Hoffmann: Unsere Zusammenarbeit ist von einer neuen Form des Austauschs bestimmt: Wie kann man ein Thema strategisch und inhaltlich von beiden Seiten beleuchten und gesamtheitlich anpacken – und das zum Wohle der Gemeinde! Das war in der Vergangenheit zu wenig ausgeprägt, spielt aber für das gemeinsame Miteinander und einen guten Geschäftsgang eine große Rolle. Das Denken und Arbeiten rein in hierarchischen Strukturen ist überholt, und mit einem partizipativen Führungsstil fällt das gemeinsame Arbeiten nicht nur leichter, sondern wir haben auch mehr Spaß und sind auch wesentlich erfolgreicher.

Wie fühlt man sich nach wenigen Monaten bzw. nach knapp mehr als einem Jahr im Amt?

Nägele: Da tauchen natürlich viele Aspekte auf, deren Komplexität man nicht kannte, aber ich kann mit Fug und Recht behaupten, gut angekommen zu sein. Wir haben ein wirklich positives Verhältnis zueinander gefunden, nicht nur auf persönlicher, sondern auch auf beruflicher Ebene. Wichtig ist eine Vertrauensbasis zu schaffen, nicht nur zu den Mitarbeitern, sondern auch zu den Mitgliedern der IKG.

Sie haben aber noch nicht alle achttausend Mitglieder kennengelernt?

Nägele: Noch nicht (lacht).  

Hoffmann: Was die Mitarbeiter der Kultusgemeinde betrifft, ist aus Sicht der Organisationsentwicklung nach einem Jahr deutlich eine neue Offenheit im täglichen Miteinander spürbar. Ängste und Hierarchien wurden mehr und mehr abgebaut. Es ist wichtig, dass wir dieses Abteilungsdenken überschreiten. Jeder hat seinen Part, aber gedacht werden muss das große Ganze. Das Feedback der Mitarbeiter ist wichtig, also dürfen wir nicht einfach Dinge vorgeben, die umgesetzt werden müssen. Das wäre viel zu einseitig. Da geht es um Vertrauen, auch darin, den Generalsekretär manchmal durch Fachexpertenwissen overrulen zu können und alternative Vorschläge zu machen. Mir geht es um ein gelebtes Klima der Offenheit. Das heißt nicht, dass es keine Reibungspunkte gibt, aber dann setzt man sich zusammen und diskutiert. Das schafft auch abteilungsübergreifende Synergieeffekte.

Wie wurde Ihre Neubestellung von der Community angenommen?

Nägele: Mir ist es wichtig, alle achttausend Mitglieder zu repräsentieren und für sie zu sprechen. Da ist es gar nicht so wichtig, wie streng religiös ich persönlich bin oder wie oft ich in der Synagoge bete, sondern dass ich ein Wissen über die Thematiken aufweise und entsprechend versiert bin. Und dass ich gleichzeitig einen guten Weg finde und Einfühlungsvermögen mitbringe –für jedes IKG-Mitglied, das meine Hilfe benötigt. Wir haben in der IKG für jede Thematik Abteilungen mit entsprechendem Know-how: Bei religiösen Themen z.B. habe ich das Rabbinat. Das sind Austausch- und Informationspartner, die ich bei Bedarf sofort heranziehe. Das halte ich bei jedem Thema für gegeben, nicht nur bei religiösen. Ich bin wohlgemerkt Generalsekretär für jüdische, nicht für religiöse Angelegenheiten. Das beinhaltet die Religion und Orthodoxie. Diese sind zentraler Bestandteil neben mehreren anderen wichtigen Aspekte meiner täglichen Arbeit in der IKG.

Haben Sie schon alle Bethäuser besucht?

Nägele: Ich habe es noch nicht geschafft, alle 23 zu besuchen. Es ist übrigens großartig und schön, wie viele Bethäuser es in Wien gibt. Diese Vielfalt, die jeden Einzelnen repräsentiert, bildet die religiöse Vielfalt der IKG ab. Es ist mir wichtig, bald alle zu besuchen und mich mit jeder Strömung innerhalb der IKG austauschen zu können.

Waren Sie schon bei Or Chadasch zu Besuch?

Nägele: Ich war noch nicht dort, hatte aber schon Kontakt mit wichtigen Entscheidungsträgern dort.

Wir fragen deshalb, weil es hier bekanntlich „Reibungspunkte“ gibt …

Nägele: Jede Strömung ist für mich wichtig und mit Respekt zu behandeln. Das betrifft selbstverständlich auch den Austausch mit der liberalen Gemeinde.

Der Verein der bucharischen Juden fühlt sich von seinen Partnern dennoch schlecht behandelt. Was kann man als Generalsekretär hier unternehmen?

Hoffmann: Was wir inhaltlich vertreten und mit unserer täglichen Arbeit bewegen, das betrifft uns alle. Wir versuchen immer, für alle Strömungen – von säkular bis streng-orthodox – da zu sein. Dass wir etwa bei der Friedhofssanierung die Orthodoxie wesentlich stärker einbinden, als es in der Vergangenheit der Fall war, ist nur ein Ergebnis einer offeneren Gesprächskultur, weit über politische Lager hinweg. Wenn es Vorwürfe gibt, dass es seitens des Generalsekretariats zu budgetären Kürzungen oder Ungleichheiten kommt, dann möchte ich in meiner Funktion mit Zahlen und Fakten entgegenwirken und in Gesprächen aufzeigen, dass dem nicht so ist. Wie gesagt, ich möchte für alle Fraktionen im gleichen Ausmaß tätig und aktiv sein und bin für alle Fragestellungen immer erreichbar.

In der konkreten Sache scheint dies aber nicht zu gelingen.

Hoffmann: Wenn eine politische Partei die Sitzung verlässt, sobald jener Punkt, der für sie am relevantesten ist, entschieden wurde, dann ist das Politik. Denn auch die anderen Punkte – das Rabbinat, die Friedhöfe, die Immobilien, Medien, Beschlüsse über Jugend-, Kultur- und Sportveranstaltungen – sind für alle Parteien, je nach eigener Lebenssituation mehr oder weniger, von großer Relevanz. Ich glaube nicht, dass es kriselt, aber hier wird manchmal politisches Kleingeld gewechselt, wenn man sich eine Situation herauspickt und diese aufbläst. Das passiert in der IKG wie sonst auch überall in der Privatwirtschaft und ist für mich nicht überraschend. Da muss man zum Wohle der Einheitsgemeinde gegensteuern. Dennoch: Niemand ist ein Gemeindemitglied zweiter Klasse und wird stiefmütterlich behandelt, weil er nicht in der Koalition ist.

Nägele: Das sind letztlich politische Diskussionen, die nicht in unseren Kompetenzbereich als Generalsekretäre fallen. Wir sind ausführendes Organ und für alle Mitglieder da. Aber natürlich würde ich mich freuen, wenn die Kommunikation mit allen Mitgliedern, auch mit dem VBJ, noch besser wäre. Wir stehen für Gespräche jederzeit zur Verfügung und würden zu vermitteln versuchen – jenseits der politischen Entscheidungen. Diese fallen im demokratisch legitimierten Gremium des Kultusvorstands, wo der VBJ als zweitstärkste Partei mit sechs Kultusvorständen vertreten ist und dort auch mit starker Stimme sprechen kann.

Heißt das, es gibt eine ausgestreckte Hand, die nicht ergriffen wird?

Hoffmann: Unsere Hand ist ausgestreckt, und ich sehe auch nie, dass sie zurückgewiesen wird. Ich habe sehr viel mit der Opposition zu tun, nicht auf politischer Ebene, aber mit Einzelpersonen aus der Gemeinde, die mit Sorgen, finanziellen Nöten und speziellen Themen zu uns kommen. Da versuche ich selbstverständlich bestmöglich zu helfen. Doch wie gesagt: Wir sind nicht die politischen Repräsentanten. Wir sind, lapidar formuliert, dazu da, dass die IKG mit all ihren Ausprägungen gut und reibungslos funktioniert.

Herr Nägele, In Ihrer ersten großen öffentlichen Rede anlässlich das Gedenktages zur Befreiung von Auschwitz haben Sie gemeint, der Antisemitismus sei wieder in die Mitte unserer Gesellschaft zurückgekehrt. Woran machen Sie das fest?

Nägele: Es gibt neben den drei Strömungen des Antisemitismus – linksradikal, rechtsradikal und islamistisch – jene antisemitischen Ressentiments, die sich z.B. in antizionistischen Aussagen manifestieren, oder sich in Verschwörungsmythen verkörpern und die immer stärker auch in der Mitte der Gesellschaft offen propagiert werden. Das ist meines Erachtens u.a. dem Umstand geschuldet, dass der Rechtspopulismus in ganz Europa auf dem Vormarsch ist und sich das gesamte politische Spektrum weiter nach rechts verschiebt – und dementsprechend auch der Mainstream. Aussagen, die vor zehn, fünfzehn Jahren noch undenkbar gewesen wären und politisch komplett isoliert, werden mittlerweile als normal akzeptiert. Ich meine damit nicht, dass der rechts- oder linksradikale Antisemitismus und Antizionismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, aber wir sehen definitiv eine Verrohung in der digitalen und der medialen Welt. Wir sehen antisemitische Tendenzen und Narrative, die gesellschaftsfähig geworden sind. Wir müssen damit aufhören, mit dem Finger auf die Ränder zu zeigen. Da sind wir auf einem Auge blind und zeigen von uns weg. Hier gibt es eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. 

Haben Sie die Absicht, als Generalsekretär stärker in der Öffentlichkeit präsent zu sein?

Nägele: Sprachorgan und öffentliche Repräsentanz der IKG ist der Präsident, und ihm obliegt es auch, politische Botschaften im Namen aller Mitglieder zu kommunizieren. Ich mache das stellvertretend und nach Rücksprache. Meine persönliche Meinung spielt hier keine Rolle. Deshalb würde ich mir nie anmaßen zu sagen: Ich will mehr in der Öffentlichkeit stehen. Wenn es der IKG hilft, über verschiedene Medien unsere gemeinsam beschlossenen Botschaften zu vermitteln, mach ich das gerne. Auch gegenüber der österreichischen Politik selbstbewusst und realistisch. Ich sehe mich aber nicht als jemanden, der im Rampenlicht stehen möchte oder sollte. Die große Herausforderung liegt darin, die nichtjüdische Bevölkerung dafür zu sensibilisieren, dass Antisemitismus ein Problem ist, aber vor allem, dass Judentum selbstverständlicher Teil der österreichischen Gesellschaft ist.

Sie haben auch gemeint, dass, wenn in Österreich Judenhass wieder zunimmt, „wir etwas nicht richtig, oder zumindest nicht genug machen“. Was haben wir falsch oder zu wenig gemacht?

Nägele: Annegret Kramp-Karrenbauer, die deutsche Verteidigungsministerin, hat nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle von einem „Alarmsignal“ gesprochen. Meines Erachtens ist ein solcher Terroranschlag die ultimative Eskalationsstufe. Jüdinnen und Juden in Europa können bis heute nicht in Sicherheit leben. Der Beweis dafür ist, dass hier in der Seitenstettengasse ein Polizeiwagen steht; dass wir einen Sicherheitsschutz und Kontrollen vor der Synagoge haben. Das ist für mich kein Status quo, der zu akzeptieren ist. Viele haben sich an dieses fürchterliche Bild gewöhnt, doch das dürfen wir nicht. Dabei sind wir hier in Österreich vergleichsweise noch in einer komfortablen Situation. Die Normalität wäre, dass eben keine Polizei vor dem Haus steht. Wir geben mehr als ein Fünftel unseres gesamten Budgets für Sicherheit aus, das sind jährlich Millionen Euro, die uns anderweitig fehlen.

Wie kann man diesem Bild einer scheinbaren Normalität entgegenarbeiten?

Hoffmann: Indem wir zwar in Zeiten wie diesen das Thema Sicherheit hochhalten, gleichzeitig aber auch das Bild einer offenen Gesellschaft transportieren. Damit jeder sieht, dass das, was wir hier als jüdische Gemeinde tun, alltagsnormal ist und die Gesellschaft merkt: Das sind Österreicher wie du und ich. Dieses Gefühl einer kulturellen Vielfalt, das man in anderen kosmopolitischen Städten vielerorts bereits verinnerlicht hat, haben wir in Wien noch nicht erreicht. Es muss ganz normal sein, dass die Tatsache, wie mein Gegenüber seine Religion ausübt, nicht stört. Das darf keine Utopie sein, sondern ist auf dem Weg dorthin eine Politik der vielen kleinen Schritte. Auch das ist eine Frage des erwähnten Generationswechsels: Wir dürfen nicht immer und ausschließlich nach rückwärts blicken, sondern müssen nach vorne schauen – für die Entwicklung der jungen Menschen und der kommenden Generationen. Da sind wir nicht nur politisch gefordert, die vielen Maßnahmen, die wir uns überlegen, auch umzusetzen, sondern es ist auch eine Verpflichtung für den Weiterbestand und die Perspektive der jüdischen Gemeinden in Österreich. Im Endeffekt hilft das nicht nur der IKG, sondern der gesamten Gesellschaft, weil das jüdische Leben in all seiner Vielfalt eine große Bereicherung für die österreichische Gesellschaft darstellt.
Nägele: Trotzdem ist Wien eine der sichersten Städte, grundsätzlich und auch für Juden. Jüdisches Leben ist in Wien integriert und findet selbstverständlich statt. Diese Offenheit müssen wir als IKG und als Jüdinnen und Juden leben und dazu einladen, an ihr teilzuhaben, zugleich aber die Sicherheit garantieren. Das bedeutet eine Politik der offenen Tür, die aber soweit zu ist, dass sie die Gefahr ausschließt. Das ist in gewisser Weise leider das Schizophrene an unserer Arbeit. Sicherheit grenzt letztlich in der Bewegungsfreiheit ein.

Wie kann man verstärkt auf die junge Generation, von der Sie sprechen, zugehen? Das betrifft ja vor allem den pädagogischen und schulischen Bereich.

Hoffmann: Das ist möglicherweise einfacher, als es sich anhört. Eine junge Generation nimmt das auf und an, was es von der älteren hört. Die Rollenvorbilder sind Eltern, Lehrer, Ausbildner, Trainer, oder Bezugspersonen mit größerer Erfahrung. Aber auch den Medien kommt eine sehr wichtige Aufgabe zu. Ich weiß aus anderen Ländern, dass man Vorurteilen gegenüber Randgruppen medial entgegentreten kann, zum Beispiel durch großangelegte Kampagnen mit Plakaten, in sozialen Medien oder sogar durch TV-Serien. Die Macht der Medien, vor allem jener der sozialen, ist enorm. Hier kann etwa die Bundesregierung durchaus Akzente setzen. Das geschieht nicht von heute auf morgen, kann aber schrittweise ins Bewusstsein einsickern.
Nägele: Ein Vorzeigeprojekt ist beispielsweise das Projekt „Likrat“, bei dem junge Jüdinnen und Juden direkt in den Schulen unterwegs sind und Vorurteile abbauen, indem sie in einen Dialog mit Gleichaltrigen treten. Und natürlich verpflichtende Besuche in Konzentrationslagern mit – und das ist mindestens ebenso wichtig – entsprechender Vorbereitung und Nachbesprechung. Man kann in allen Bildungsbereichen ansetzen, je früher, desto besser.

Wie sieht die finanzielle Situation der IKG aus und welche Entwicklung zeichnet sich ab?

Hoffmann: Ich möchte die Entwicklung durch öffentliche Subventionen hier ausklammern, weil wir darauf nur bedingt Einfluss haben. Wir selbst können aber einiges bewirken, sowohl auf Erlösseite, aber auch auf der Kostenebene. Es gibt hier einige große Hebel: Bei den Ausgaben ist es wichtig, eine Kosteneffizienz ohne Qualitätsverlust im Auge zu haben. Wir erreichen das durch gezielte Ausschreibungen, verbesserten Verhandlungen bei Konditionen und Tarifen mit unseren Lieferanten oder durch ablauforganisatorische Verbesserungen, die es unserer Organisationsstruktur ermöglichen, schlanker und günstiger zu funktionieren. Wenn wir es schaffen, jüdische Themen in der Öffentlichkeit zu platzieren, dann habe ich einen weiteren großen erlösseitigen Hebel in der Hand.

Welche Themen könnten das sein?

Hoffmann: Etwa solche, die mit Fundraising zu tun haben. Hier gilt es nicht nur, innerhalb der jüdischen Gemeinde Spenden zu lukrieren, sondern nach außen zu gehen und Stiftungen, Familien und Unternehmen zu adressieren, die ein Interesse daran haben, uns zu unterstützen. Viele unserer Projekte sind auch außerhalb der jüdischen Gemeinde für große Teile der Bevölkerung von Interesse, das merken wir in vielen Gesprächen, und diese Entwicklung ist sehr erfreulich.

Ein wiederkehrendes und für die Finanzen wichtiges Thema sind die Immobilien. Wie gestaltet sich hier die aktuelle Situation?

Hoffmann: Bei der Immobilienentwicklung sind wir gefordert, jedes einzelne Objekt bestmöglich zu sanieren und in einen attraktiven Zustand zu bringen – das sichert uns für die Zukunft konstante Mieterlöse. Auch bei den Kultusbeiträgen ist uns im letzten Jahr vieles gelungen. Wir haben vermittelt, dass der Kultusbeitrag sinnvoll ist und für viele Initiativen der IKG verwendet wird. Hiervon profitieren alle Gemeindemitglieder. Das hat man in der Vergangenheit bis zu einem gewissen Grad verabsäumt. Hier leisten wir laufend enorm viel an Entwicklungs- und Aufklärungsarbeit über die zahlreichen Aktivitäten der IKG. Insgesamt muss der Strukturwandel in Aufbau und Organisation weiter vorangetrieben werden, von der Digitalisierung bis zur Vermeidung von Doppelgleisigkeiten bei Abläufen hin zu einer modernen und für die Zukunft gut gerüsteten Unternehmensstruktur.

Im Bereich Mitgliedsbeiträge hat sich viel getan. Ist das nur dem effektiven Mahnwesen zu verdanken oder verstehen die Mitglieder jetzt besser, dass der Mitgliedsbeitrag jedes Einzelnen wichtig ist?

Hoffmann: Das Wichtigste ist das Gespräch. Wenn Mitglieder nicht erreichbar sind und das Gespräch verweigern, dann ist es schwer für uns. Deshalb bin ich über jedes Gespräch, so schwierig es sein mag, froh, denn es bedeutet: Wir können das Problem gemeinsam lösen. Und diese vielen kleinen Bausteine helfen uns, die Erlöse der Gemeinde zu steigern. Nicht in exorbitante Höhen, aber es geht nach oben. Ich bin sehr optimistisch, dass wir heuer, wenn wir mit Nachdruck unsere Ziele verfolgen, ein gutes Geschäftsjahr haben werden. Es ist sicher nicht einfach, aber wir werden die Herausforderung annehmen.

Eine der bekanntesten finanziellen Baustellen ist das Maimonides-Zentrum.

Hoffmann: Es ist keine Baustelle mehr. Hier hat es 2019 eine signifikante Verbesserung in der Geschäftsentwicklung gegeben. Auch hier gilt: Ich bin froh über den Austausch mit den einzelnen Geschäftsführern der Partnerorganisationen der IKG, denn er ermöglicht den einzelnen Organisationen und der IKG auch eine bessere Entwicklung. Eine der größten Baustellen bei meinem Amtsantritt war die fehlende Kommunikation untereinander. Nicht nur innerhalb der IKG, sondern auch zu Fördergebern, Lieferanten, Behörden. Diese Öffnung, wie etwa im Dialog bei der bundesweiten Friedhofssanierung mit dem Friedhofsfonds der Republik Österreich, wo wir mittlerweile sehr viel bewegt haben, ist geradezu ein Paradebeispiel. Exemplarisch kann ich dazu sagen: Hier ist im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit ein Quantensprung in der Zusammenarbeit und der Umsetzung passiert.

Das klingt sehr optimistisch.

Hoffmann: Soll es auch. Wir haben es selbst in der Hand und können mit viel Eigeninitiative auch viel erreichen. Was mich betrifft, so habe ich einen Vorteil: Ich bin nicht befangen, kann auf jeden zugehen und spreche mit allen.

Wie soll dieses Überwinden von Barrieren nach außen hin konkret aussehen?

Nägele: Für mich ist es wichtig, Judentum selbstbewusst darzustellen – in Österreich und in Europa. Ebenso selbstbewusst die IKG zu repräsentieren, als integrierten und wichtigen Teil der österreichischen Gesellschaft. Das gilt nicht nur für Wien, sondern auch immer wieder die Stimme im Namen der kleineren Gemeinden zu erheben. Eine Schwierigkeit ist, dass sich jüdisches Leben immer mehr nur noch in den Metropolen zentriert. Das hängt mit der Infrastruktur zusammen, die eine gewisse Mitgliederanzahl benötigt, und die wiederum kann es nur geben, wenn die Vielfalt gelebt werden kann – was hinsichtlich der kleineren Gemeinden problematisch ist. Das betrifft Schulen, Kindergärten, koschere Restaurants. Ich wünsche mir als mittel- und langfristiges Ziel, dass die IKG die Zehntausender-Marke durchbricht und viele Juden aus aller Welt anziehen kann. Aber ich denke, da sind wir sehr gut aufgestellt. Weil wir in Wien tatsächlich eine weltweit einmalige Infrastruktur vorfinden.

Das bedeutet, sich auch intern als Einheitsgemeinde wahrzunehmen? 

Nägele: Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft, eine Religionsgemeinschaft, wir sind ein Volk, eine Religion, wir sind vieles – aber wir sind nach wie vor wenige. Und wir müssen darum kämpfen, diese Infrastruktur zu halten. Je mehr wir uns auseinanderdividieren lassen, desto schwieriger wird es, mit einer Stimme zu sprechen. Und umso schwieriger wird es für Außenstehende zu wissen, an wen man sich bezüglich jüdischer Fragen wenden kann. Die IKG ist eine in Europa, ja weltweit, einmalige inklusive Einheitsgemeinde mit großartiger Infrastruktur und Mitgliedern; und das ist wesentlicher Grund des Erfolgs.

Worüber freuen Sie sich am meisten außerhalb der Kultusgemeinde?

Hoffmann: Die Familie. Sie gibt mir Kraft und ermöglicht einen gewissen Abstand zur täglichen Arbeit, den es auch braucht, um jeden Tag mit freiem Kopf voller Energie für die IKG da zu sein.

Nägele: Der direkte Austausch mit den Menschen, den es für mich in dieser Form in Brüssel nicht gab, macht bereits große Freude. In der Freizeit sind es der Sport, das Reisen, das gute Essen und die einmalige Kultur in Wien.


Klaus Hoffmann, geboren 1971, studierte Betriebswirtschaft an der WU Wien und absolvierte zusätzlich ein Masterstudium für Personalwirtschaft und Organisationsentwicklung. Nach 15 Jahren in der Privatwirtschaft, wo er als kaufmännischer Leiter für mehrere internationale Großkonzerne und nationale Non-Profit-Unternehmen tätig war, ist er seit Anfang 2019 Generalsekretär für kaufmännische Angelegenheiten der Israelitischen Kultusgemeinde.

Benjamin Nägele, geboren 1984 in Freiburg im Breisgau, ist seit September 2019 Generalsekretär für jüdische Angelegenheiten der IKG Wien sowie der israelitischen Religionsgesellschaft Österreichs. Davor war er u.a. als wissenschaftlicher Referent im Europaparlament tätig und leitete ab 2015 das Europa-Büro der amerikanisch-jüdischen Organisation B’nai B’rith International (BBI) in Brüssel.

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