Unorthodox werden

Ultraorthodoxe jüdische Männer und Kinder beim Einkaufen in Bnei Brak nahe Tel Aviv. Immer mehr einzelne Stadtviertel werden religiös. ©Deror Avi / CC-3.0

Jedes Jahr kehren junge Jüdinnen und Juden dem ultraorthodoxen Leben den Rücken. Oft ist dieser Schritt mit Risiken und Konsequenzen verbunden. Private Organisationen bieten Hilfe beim Einstieg in den säkularen Alltag.

Von Tal Leder (Tel Aviv)

Während der Dreharbeiten zu einer Dokumentation über Holocaustüberlebende führt der Filmemacher Chaim Wolff die meisten Interviews auf Jiddisch. „Mameluschn“ (deutsch-hebräisch für Muttersprache), sagt er. Der 43-Jährige stammt ursprünglich aus Mea Schearim, einem der ältesten Stadtviertel Jerusalems außerhalb der Altstadt. Als Mitglied einer chassidischen Familie gehörte er bis zu seinem 17. Lebensjahr einer ultraorthodoxen Gemeinschaft an, die sich streng an die traditionelle Auslegung der Tora hält. „Dort aufzuwachsen bedeutete für mich, alle Gebote und Verbote zu achten“, erzählt Chaim. „Natürlich gibt es in dieser Welt auch viel Schönes, doch persönlich fühlte ich mich eingesperrt.“ Schon in der Kindheit diskutierte er mit Freunden über die Existenz Gottes und wieso muss man ihn fürchten und treu ergeben sein muss.

Da er die Lebensweise seiner Gemeinschaft häufig infrage stellte und rebellierte, kam er im Laufe der Jahre oft mit seiner Religion in Konflikt. Unabhängig und selbstbestimmend zu leben, davon träumte er. „Freiheit gehört zu den zentralen Begriffen der menschlichen Ideengeschichte“, sagt Chaim. „Es ist eine Möglichkeit, ja fast schon ein Luxus, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen und zu entscheiden.“

Anders als viele ultraorthodoxe Juden wollte er bei den israelischen Streitkräften dienen. Als er kurz vor seiner Volljährigkeit die Einberufung zum Wehrdienst erhielt, sah er darin seine Chance: „Mit 18 Jahren würde mir meine zukünftige Ehefrau vorgestellt werden. Ich wusste schon von klein auf, dass ich niemals so leben möchte und folgte meinem Herzen.“ Tags darauf rannte er davon.

Schon lange gibt es eine Organisation, die religiösen Aussteigern wie Chaim hilft und beratend zur Seite steht, und so kam er mit Hillel in Kontakt. Die NGO ermöglichte ihm den Übergang. „Seit 26 Jahren helfen unsere Sozialarbeiter und Psychologen und bieten viele Dienstleistungen an, um die Abtrünnigen auf das neue Leben vorzubereiten“, erzählt Direktor Jair Hass. Obwohl dazu häufig Bildungsmaßnahmen gehören, wird die Organisation nicht vom Bildungsministerium gefördert, sondern hauptsächlich durch private Geldgeber.

Nach seinem Armeedienst, wo er in einer Infanterieeinheit diente, konnte Chaim mit Unterstützung von Hillel das Abitur nachholen. In der Folge wurde ihm geholfen und ermöglicht, Theater-, Film- und Medienwissenschaft zu studieren. „Zu dieser Zeit entdeckte ich den Dokumentarfilm“, erzählt er. „Ich war fasziniert davon, bestimmte Themen filmisch zu präsentieren.“ Seine Arbeit kann sich sehen lassen, einige seiner Filme haben in Israel Preise gewonnen. Mit seiner Ehefrau Noga und den drei gemeinsamen Kindern lebt er im Norden von Tel Aviv. „Religion spielt bei mir fast keine Rolle mehr, aber die Tradition ist schön, vor allem die Feiertage.“

Nach all den Jahren hat Chaim heute kaum Kontakt zu seiner Familie. Für die ist er gestorben. Nur seine Großmutter trifft er noch manchmal. 

Neue Wege

In Israel leben ungefähr 800.000 ultraorthodoxe Juden, was zehn bis zwölf Prozent des Landes ausmacht. Diese Chassidim leben meistens in abgeschotteten Bezirken, wie Mea Schearim in Jerusalem oder in Bnei Brak nahe Tel Aviv. Doch auch immer mehr einzelne Stadtviertel werden religiös.

Allerdings bleiben nicht alle Menschen, die in dieser Umgebung aufwachsen, bei diesen Überzeugungen. In ihrem 2014 auf Englisch erschienenen Buch Unorthodox werden: Geschichten ehemaliger Chassidim erklärt Lynn Davidman, dass die meisten das orthodoxe Judentum nicht durch die Verführung der säkularen Welt verlassen, sondern die Strenge und den Druck ihrer Gemeinden nicht mehr aushalten. Sie erleben die Gesetze der Religion als eine Quelle des Schmerzes und wollen von dort ausbrechen.

Natürlich sind die Gründe stets unterschiedlich und persönlich. Bei einigen kann es der soziale und emotionale Aspekt sein, der in dieser starren Struktur zum Schweigen gebracht wird, bei anderen wiederum die sexuelle Ausrichtung, bis hin zum Interesse an Naturwissenschaften. Durch die digitalen Medien ist der Zugang zur verbotenen Welt heute auch einfacher. Laut den Informationen der Organisation Out for Change verlassen jährlich etwa 1300 Personen im Alter bis zu 25 Jahren das orthodoxe Judentum. Die NGO steht für jeden Abtrünnigen offen und kann dank eines Zuschusses der Shusterman Foundation den Hilfesuchenden in vielen Bereichen zur Seite stehen, so auch der 29-jährigen Sarah Schlesinger. Sie wuchs in Bnei Brak auf und lebte, bis sie 17 war, als ultraorthodoxe Jüdin. Die Konflikte begannen während der Pubertät, als sie sich Fragen über ihr Leben stellte. Als sie sich in einen gleichaltrigen Charedi verliebte, mussten sie ihre Beziehung geheim halten, denn das Berühren des anderen Geschlechts ist bis zur Hochzeit strikt verboten. „Wir mussten unsere Zuneigung füreinander verheimlichen. Dies belastete mich emotional.“ Auch weil ihre Eltern einen passenden Mann für Sarah ausgesucht hatten: „Ich sollte jemand heiraten, den sie für richtig hielten, dabei gehörte mein Herz jemand anderen.“

Gemeinsam verließen beide vor über zehn Jahren ihren Heimatort und lebten zunächst bei einer Tante von Sarah, die einige Jahre zuvor ebenfalls der Religion abtrünnig wurde. Diese Tante ermöglichte den Kontakt mit Out for Change. „Die Organisation stellte den Kontakt zu Hillel her, welche uns beim Übergang in die säkulare Welt half“, erzählt sie: „Wir wohnten im Kibbuz Maagan Michael an der Küste vor Haifa. Ein Jahr später dienten wir in der israelischen Armee und holten auch unseren Schulabschluss nach.“

Hillel half ihr auch, ein Stipendium zu bekommen, um Psychologie an der Universität in Tel Aviv zu studieren. In diesem Beruf ist sie heute tätig. Mittlerweile ist sie mit ihrer Jugendliebe verheiratet und Mutter von Zwillingen. „Die Hochzeit verlief natürlich ganz nach jüdischer Tradition“, sagt Sarah. Heute hat sie auch wieder Kontakt zu ihren Eltern: „Es hat lange gedauert, bis sie mein Leben akzeptierten, doch sie wollten auch nicht ihr Kind verlieren.“ Sie erklärt, dass sie durch ihren Ausstieg nicht das Judentum verlassen habe: „Hin und wieder besuche ich eine Synagoge“, erklärt Sarah. „Das Spirituelle an meiner Religion fasziniert mich eben mehr als die Dogmen irgendwelcher Rabbiner. Außerdem interessiere ich mich auch für andere Philosophen außerhalb des Judentums.“

Viele ehemalige orthodoxe Juden sehen sich selbst nicht als Abtrünnige. Sie haben aus ihrer Sicht einen neuen Weg gefunden. „Wir leben nicht nach den strengen Regeln der Tora, sondern verstehen uns als weltliche Juden“, sagt Chaim. Selber sieht er sich wie einen Kulturkritiker, der alles hinterfragt, aber trotzdem ein säkulares Judentum lebt. „Unsere Mischpoke muss das akzeptieren und dadurch einen Weg zu uns finden“ sagt er auf Jiddisch. „Alle zusammen.“

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