Über das Notwendige und das Überflüssige

Von Adam Kanner

Adolf Loos, der große Wiener Spracharchitekt, schrieb einmal in einem seiner Essays, Aufgabe eines Architekten sei es, unter anderem seine Mitmenschen von der Notwendigkeit des scheinbar Überflüssigen zu überzeugen. Loos meinte damit allerdings nicht das materiell Überflüssige wie z.B. goldene Armaturen oder sonstigen teuren Zierrat – Loos war im Gegenteil Verfechter eines nobel zurückhaltenden Baustils –, er meinte damit, dass Architektur mehr sein muss als die Umsetzung einer Bauaufgabe. Er verlangte, dass auch immaterielle Werte durch Bauten transportiert würden. Doch wo ist hier der Zusammenhang mit dem Vorhaben der IKG, eine neue Schule, ein Altenheim und ein Sportzentrum zu errichten? Ohne Frage geht es dabei um Notwendiges: Die bestehende Schule ist zu klein, man braucht mehr Raum. Die Altenvorsorge ist am Rande Ihrer Kapazität, ein neues Altenheim muss errichtet werden. Da passt es, dass der frühere Hakoah-Sportplatz restituiert wurde, denn damit ergibt sich auch eine gute Gelegenheit, Jung und Alt zu mehr Sport zu führen. Alles in allem eine runde Sache, es wird flott verhandelt und ein Resultat vorgestellt: Alle Notwendigkeiten sind erfüllt, nur gebaut werden muss noch. Bei einfacher Sichtweise der Dinge erscheint jede weitere Beschäftigung mit der Materie überflüssig, doch schauen wir uns einige Kriterien der Architektur-Theorie an und bewerten wir das Bauvorhaben danach. Lassen Sie mich mit der Frage der Semantik des Baus beginnen: Der Begriff der Semantik kommt aus der Sprachwissenschaft und befasst sich mit der Bedeutung, in unserem Fall von Gebäuden. Heute ist die Semantik eine Schlüsseldisziplin der Architekturtheorie. Um zu erklären, was gemeint ist, möchte ich kurz ausholen und auf ein prominentes Gebäude der neuzeitlichen jüdischen Architektur in Europa verweisen: Das Jüdische Museum von Daniel Libeskind in Berlin. Dieses Bauvorhaben entstand aus einem Wettbewerb, den der deutsch-jüdische Architekt Daniel Libeskind für sich entschied. Wie bei solchen Anlässen üblich, gab es nach dem Wettbewerb ein langes Gezerre um den Bauauftrag, aber letztlich konnte sich Libeskind durchsetzen, wobei die stärkste Unterstützung für sein Projekt interessanterweise von nichtjüdischer Seite kam. Ein Umstand, auf den ich später noch eingehen möchte. Das Resultat übertraf alle Erwartungen, nicht zuletzt schuf Libeskind einen vollkommen neuen Typ des Museums. Sein Entwurf war so radikal, dass das Museum einige Jahre leer stand, weil die vorhandenen Sammlungen erst der Form angepasst werden mussten. Heute ist das Museum eine Ikone der modernen Architektur und Pflichtbesuch eines jeden Berlin-Besuchers. Eine semantische Grundregel besagt nun, dass aus dem Erscheinungsbild eines Bauwerks Rückschlüsse auf die Nutzer und Auftraggeber gezogen werden können. Fragen wir uns nun, was dieses Museum für die Berliner Jüdische Gemeinde bedeutet. Es sagt jedem Besucher, dass die Jüdische Gemeinde in Berlin neues Selbstbewusstsein erlangt hat, und dass sie das nach außen kommunizieren will. Das Museum sagt aber auch, und das hat Libeskind mit seinem Bau sehr gut verdeutlicht, dass dies der Bau einer Gemeinde mit Brüchen und Verwerfungen ist, ja dass die ganze jüdische Existenz an einem Ort wie Berlin – und das würde auch für Wien gelten – keine lineare ist und sein kann. Betrachte ich das neue jüdische Zentrum in Wien aus dem gleichen Blickwinkel, so fällt mir spontan auf: Die Assimilation ist hundertprozentig geglückt. Nichts unterscheidet den Bau von anderen gleicher Funktion in Österreich. Aber vielleicht ist genau das, wenn auch nur unbewusst, gewünscht? Nicht auffallen, sich nicht abheben, eintauchen in die Masse. Nur ja kein Zeichen setzen. Sind Berliner Juden mutiger als Wiener? Oder fehlt ein Anstoß von nichtjüdischer Seite? Wie zuvor schon angedeutet entsteht gute jüdische Architektur in Europa meistens nach Intervention von nichtjüdischer Seite. Das war in Berlin so, oder bei der Dresdner Synagoge. Über die Gründe bin ich mir selbst nicht ganz im Klaren, wahrscheinlich fehlt der Minderheit einfach der Mut, sich zu exponieren. Wenden wir uns nun einem anderen architektur-theoretischen Aspekt zu: Dem Kontext, den Zusammenhängen. „Den städtebaulichen Kontext zu kommentieren, fällt mir schwer. Sicher ist die Lage am nördlichen Praterrand problematisch, aber ich höre schon das Argument, dass eben nur dieses Grundstück verfügbar war“, stellte ich dazu vor einem Lokalaugenschein vor Ort fest. Danach denke ich über diesen ganz wesentlichen Aspekt des gesamten Vorhabens etwas differenzierter. Wir wissen zum Beispiel aus der Gastronomie, dass das Publikum bei entsprechender Qualität mehr als bereit ist, einen Umweg zu machen –kurz, dass selbst bei schier aussichtsloser Lage Standorte angenommen werden. Auch in der Architektur ist Ähnliches zu beobachten: so wurde das Guggenheim Museum in Bilbao (Spanien) mitten in einer Industrie-Zone errichtet und dennoch voll angenommen. Es scheint aber unwahrscheinlich, dass sich auch der Standort Ichmanngasse positiv entwickeln wird. Dafür sind die nötigen Rahmenbedingungen einfach nicht gegeben. Die Architektur ist zu simpel, eine städtebauliche Anbindung fehlt vollkommen, auch in absehbarer Zukunft. Es gibt keine Sekundär-Infrastruktur wie Einkaufsmöglichkeiten oder eine externe Gastronomie. Hingegen sind all die Eigenschaften, die in der Fachsprache als „Meteoriteneffekt“ zusammengefasst werden, gegeben: wie ein Meteorit in der Wüste keine Gemeinsamkeit mit seiner Umgebung hat, nicht einmal die chemische Zusammensetzung, wird hier ein Bauwerk errichtet, das an diesem Standort ein Fremdkörper ist. Hinsichtlich der inneren Organisation des Zentrums finde ich es faszinierend, dass hier ein Projekt entsteht, das wirklich generationenübergreifend ist. Jung und Alt eng zusammen, eine vorbildliche Lösung. Aber wird das in den einzelnen Baukörpern umgesetzt? Wie ist die Wegeführung? Gibt es Zonen, die gemeinsam genutzt werden? Drücken die Gebäude semantisch diesen Umstand aus? Oder gibt es lediglich zwei getrennte Gebäude, eines mit der Aufschrift „Schule“, das andere mit der Aufschrift „Elternheim“? Ich möchte jetzt ein Thema streifen, das mit obigen Fragen in engem Zusammenhang steht, das der Partizipation. Wenn eine Gemeinde ein Bauvorhaben solcher Größe ins Auge fasst, erscheint es mir als selbstverständlich, dass eine breite Diskussion unter allen Beteiligten stattfinden kann. In westlichen Demokratien soll es auch schon vorgekommen sein, dass der Bürger befragt wurde. Dass sich alle Beteiligten, wie sie beteuern, bemüht haben, will ich nicht in Frage stellen, doch in einer Demokratie entscheidet letztendlich der Souverän und nicht das Bemühen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie mühselig Bürgerbeteiligungs-Verfahren sind, die dann enden, wenn „alle ein bisschen unzufrieden“ sind. Allerdings sind die Akzeptanz und die Identifikation mit den Projekten dann ungleich höher, wobei es meistens auch inhaltliche Verbesserungen gibt. Zu guter Letzt eine Frage in eigener Sache: Wäre es nicht möglich gewesen, zumindest einen eingeschränkten Wettbewerb in Form eines Gutachter-Verfahrens durchzuführen? Hätte man nicht fünf bis sechs international anerkannte Architekten mit Erfahrung im Schul- und Städtebau einladen sollen, um zumindest prinzipielle Denkanstöße zu bekommen? (Ich möchte betonen, dass ich mich hier nicht einreihe. Die, die mich kennen, wissen, dass ich in ganz anderen Feldern tätig bin.) Das Argument der Sicherheit lasse ich nicht gelten, denn es muss weltweit fünf bis sechs Architekten geben, denen man in dieser Hinsicht vertrauen kann. Der Vorteil so einer Vorgangsweise wäre aber gewesen, dass dadurch viel Diskussionsstoff, eben auch verschiedene Ideen entstanden wären, dass ein echter Mitbestimmungsprozess in Gang gekommen wäre. Die Vorstellung nur eines Projekts passt nicht zu einer mündigen Gemeinde. Semantik, Kontext, Partizipation, Gutachter-Verfahren: nach Ansicht der Verantwortlichen überflüssig, nur Ablenkung vom Notwendigen? Warum kann ein so denkwürdiges Ereignis wie ein neues jüdisches Zentrum in Wien nicht zu einem Architekturfest werden, wo die Ideen der Weltbesten umgesetzt werden? Warum werden den Bürgern nicht zwei bis drei Alternativen geboten, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Materie ermöglichen? Alles überflüssig? – Nein. – Notwendig! Adam Kanner studierte in Wien Architektur und Städtebau und war etliche Jahre Universitätsassistent für Wohnbau an der Technischen Universität Wien. In dieser Zeit befasste er sich mit vielen Fragen der Architekturtheorie und betreute die wissenschaftlichen Publikationen des Instituts als Chefredakteur, später als Herausgeber. Heute führt Kanner gemeinsam mit seiner Frau ein Architekturbüro in Wien, das hauptsächlich in den Bereichen Planung und Entwicklung tätig ist. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Innenraumgestaltung.

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