Stammtisch als Spiegel

Die Arbeiten von Elisabeth T. Spira (1942-2019) stießen auf Bewunderung und Widerstand. Im Portraitfilm "Ich bin nicht wichtig" stand sie ausnahmsweise selbst vor der Kamera. ©Robert Neumüller

In ihrer ORF-Dokureihe „Alltagsgeschichten“ porträtierte Elisabeth T. Spira (1942–2019) auch die antisemitischen – sowie rassistischen und sexistischen – Schattenseiten der Gesellschaft.

Von Savanka Schwarz

Wenn es jemandem gelang, die „österreichische Seele“ einzufangen, dann Elisabeth T. Spira mit ihrer ORF-Reihe Alltagsgeschichten. Mit dem unverblümten Abbilden der österreichischen Gesellschaft erreichten ihre Sozialreportagen in kürzester Zeit Kultstatus. Das dokumentarische Einfangen der vermeintlichen Banalität des Alltäglichen macht das Format zu einem relevanten Zeitdokument. In Erinnerung sind vor allem ungewöhnliche Menschen geblieben, die die Zeit vor der Kamera nutzten, um ihre Geschichten zu erzählen. Oder absurde Szenarien, die sich an öffentlichen Plätzen abspielten. Neben den Porträts außergewöhnlicher Gestalten gelang Elisabeth T. Spira auch das Dokumentieren der Schattenseiten der damaligen Gesellschaft: einer sexistischen, rassistischen und antisemitischen Nachkriegsgesellschaft.

Die 1988 gedrehte Folge Am Stammtisch – Ein Heimatfilm zeigt besonders deutlich, dass auch in den späten achtziger Jahren noch tief menschenverachtende antisemitische Aussagen Platz in österreichischen Wirtshäusern hatten. Wenn beispielsweise der damalige Vizebürgermeister von Radkersburg davon spricht, dass Juden schon vom Christentum dazu ausersehen seien, verfolgt zu werden und dass sie selbst einen Anlass setzten, um gejagt zu werden. Oder ein Herr des Kameradschaftsbundes Kainach, der mit Bezug auf die Waldheim-Affäre fordert, dass der auf der ganzen Welt „geldraffende Jud“ jetzt einmal eine Ruhe geben solle, weil er bis heute nur Unfrieden stiften würde. Derselbe Herr bedauert auch, dass sich kaum einer mehr traut, Kriegsauszeichnungen zu tragen, weil man schnell als Kriegsverbrecher deklariert wird.

Kollektive Schuldabwehr

Diese Argumentationsstränge sind typisch für den sekundären bzw. den sogenannten Schuldabwehr-Antisemitismus: In Hinsicht auf den Zweiten Weltkrieg wird vor allem das Leid der Soldaten hervorgehoben. Eine Auseinandersetzung mit der Schoa findet nicht statt. Durch das Nichterwähnen der Gräuel des Nationalsozialismus soll jede Beschäftigung mit der Schuldfrage verhindert werden.

Außerdem wird das Leid der österreichischen Bevölkerung in den Vordergrund gestellt, und durch antisemitische Pseudothesen werden Opfer zu Tätern erklärt. Die judenfeindlichen Erzählungen suggerieren, das Richtige oder zumindest nicht das Falsche getan zu haben, wodurch eine kollektive Schuldabwehr stattfindet. Der ORF strahlte die Folge Am Stammtisch erst 2016 aus, also fast dreißig Jahre, nachdem Spira die Interviews gemacht hatte. Aber auch in jüngeren Episoden aus den neunziger und Nullerjahren ist der Österreicher, der beteuert, nur seine Pflicht getan zu haben und die Geschehnisse während des Holocausts schulterzuckend mit „es waren halt andere Zeiten“ abtut, stets präsent.

Die Grenze des Sagbaren hat sich in den zwanzig Jahren Alltagsgeschichten nur bedingt verändert. Wurden Juden anfangs noch direkt negative Eigenschaften zugeschrieben, so wird in jüngeren Folgen wieder vermehrt auf universelle Verschwörungserzählungen rund um das Judentum zurückgegriffen. Mit den Grenzen des Sagbaren in den Alltagsgeschichten beschäftigt sich auch eine Studie des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung an der Uni Klagenfurt. Ein Forscherteam analysierte den Wandel der öffentlichen Aussagen in den Alltagsgeschichten im Laufe der Zeit. In Bezug auf Antisemitismus konnten sie bereits die Erkenntnis gewinnen, dass prinzipiell eine Diskursverschiebung zu erkennen ist. Wird in den älteren Folgen noch sehr häufig „der Jude“ zum Thema, so wird dieses Feindbild in den jüngeren Folgen von „dem Ausländer“ abgelöst. Judenfeindlichkeit findet weiterhin statt, ist quantitativ allerdings seltener.

Getrübtes Bild

Das Format erntete viel Kritik dafür, dass antisemitische Aussagen ohne Einordnung und Kommentar sozusagen roh ausgestrahlt wurden. Jedoch kann umgekehrt argumentiert werden, dass ein Abbild einer Gesellschaft gerade dann authentisch ist, wenn eben kein Blatt vor den Mund genommen wird und die ProtagonistInnen sich selbst überlassen werden. Elisabeth T. Spira verstand es, in den richtigen Momenten Pausen zuzulassen, stellte aber auch prägnante Fragen, wenn es darauf ankam. Allerdings immer mit der Intention, zu erfahren und nicht zu belehren. Der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten – das gelang dem Format wie keinem anderen. Und auch wenn das dadurch entstandene Bild häufig getrübt war, dann nicht aufgrund des Spiegels, sondern wegen der damaligen Gesellschaft.

Die mobile Version verlassen