Shimons Fenster trotzen allen Stürmen

Seine Familie hat die Unbilden der Geschichte hart zu spüren bekommen. Shimon Genin, der jüdische Bautischler von Wien, dichtet Fenster und Türen. So schützt er die Wohnungen seiner Kunden vor dem Regen und sein eigenes Leben vor den Stürmen des Schicksals.
Von Peter Menasse (Text) unter Mitarbeit von Annina Bottesch und Verena Malgarejo (Fotos)

Ach, wüsste man vorher all das, was uns die Geschichte nachher lehrt. Die Familie Genin aus Lemberg wollte just im Jahr 1932 das Fenster zum Paradies öffnen und übersiedelte nach Berlin. „Die beste Zeit um einzuwandern“, lacht Shimon Genin, Wiens jüdischer Tischler, spezialisiert auf Fenster, Türen und Schlösser.

So kam denn seine Mutter nur ein Jahr vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in deren Metropole Berlin auf die Welt und lernte als Erstes gleich einmal verschlossene Türen und Herzen kennen. Die Genins emigrierten mithilfe der jüdischen Berliner Gemeinde 1939 nach Australien, von wo Shimons Mutter später nach England weiterreiste. Wie viele andere Juden auch war sie von der Idee des Kommunismus begeistert. Die Rote Armee hatte den Krieg siegreich geschlagen und die Nationalsozialisten hinweggefegt. In dieses Lager wollten sie gehören, gemeinsam die Idee einer gerechten Welt verwirklichen. Als sie 1951 an den „Weltfestspielen der Jugend“ in Ostberlin teilnahm, war sie so begeistert, dass sie einen Einreiseantrag für die DDR stellte. Nach einigen Monaten wurde sie dann tatsächlich in das vermeintliche Paradies der Werktätigen eingelassen, wo sie dank ihrer Englischkenntnisse als Dolmetscherin arbeiten konnte. Doch wieder dauerte es nur ein Jahr, bis die Entscheidung sich im Licht der Entwicklungen als falsch herausstellte. Die Machthabenden der DDR zerschlugen 1953 den Aufstand der Arbeiter, verschlossen sich mehr und mehr den Regeln der Demokratie und bauten ein Unrechtssystem auf. Und so wiederholte sich auch für Shimon, der dort 1967 zur Welt kam, die Familiengeschichte: falscher Ort zur falschen Zeit, verschlossene Fenster, miefige Luft.

Um in der DDR zu studieren, hätte er Parteimitglied der SED werden müssen, wozu er nicht bereit war. „Ich habe dieses System nie gemocht“, sagt er heute, „zwischen den Büchern und der Praxis im Sozialismus ist ein großer Unterschied.“ Weil ihm die Türen zur akademischen Ausbildung verschlossen waren, absolvierte er eine Ausbildung zum Tischler und wurde einer der vermutlich ganz wenigen Juden aus dem heutigen Zentraleuropa, der ein richtiges Handwerk erlernte. Shimons Bestreben war es bald, die DDR unter allen Umständen zu verlassen. Aber auch bei seiner Ausreise wiederholte sich das fatale Schicksal der Genins. Kaum hatte er seinen Ausreiseantrag gestellt, wurde ihm das Leben schwer gemacht. Erst als er seinen Antrag umformulierte und nicht mehr politische Gründe geltend machte, sondern behauptete, nach Israel zu wollen, wurde er ernst genommen. Das System wollte nicht als antisemitisch gelten und bevorzugte darum Ausreiseanträge von Juden. Ganz leicht wurde es ihm aber dann auch nicht gemacht. „Eines Tages um sechs in der Früh standen zwei Volkspolizisten vor meiner Tür, die mich aufforderten mitzukommen. Wegrennen kam nicht in Frage“, lacht Shimon, „schließlich war rund um das Ding ’ne Mauer, so ließ ich mich also abführen.“ Nach zwei Stunden in einer Gefängniszelle wurde er mit dem Auto in die Stasi-Zentrale gefahren und dort einem Offizier vorgeführt, der versuchte ihn zur Rücknahme des Ausreiseantrags zu überreden. Als Genin nicht nachgab, wurde er wieder zur Polizei zurückgebracht, wo man ihm den Fremdenpass in die Hand drückte und ihn aufforderte, innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen. „Damals hatte ich kaum was. Drei Koffer, ein Fahrrad und ab zu meinem Bruder, der schon im Westen war.“ Der Treppenwitz dabei: Als der junge Jude dann endlich hinaus durfte, war bereits das Ende des Jahres 1988 erreicht, und die Mauer, die alles hermetisch verschloss, sollte ohnehin nur mehr ein Jahr stehen.

Dieses verflixte eine Jahr erwies sich erneut als eine absurde Konstante in der Familiengeschichte der Genins. Trifft man Shimon Genin heute in Wien und hört ihn in ungebrochen preußischem Akzent von seinem Beruf erzählen, gibt es nichts mehr, was auf die wechselvolle Geschichte der Familie hinweist. Dabei hat es ihn nach der Ausreise aus Ostberlin noch zu vielen Stationen gezogen. Von Westberlin über London, von Russland nach Israel, ein Meister der Türen und Fenster kann seinen Beruf überall ausüben, wo es Häuser gibt. In Wien lebt Shimon heute mit seiner Frau, die er in der Nähe von Moskau kennengelernt hat, und seinen beiden kleinen Söhnen inmitten einer jüdischen Hausgemeinschaft. Zum Judentum sei er erst in Westberlin gekommen und er könne auch kein Schlüsselerlebnis benennen, das ihn überzeugt hätte. „Man hat mich zum Sabbat eingeladen. Und man kann das nicht intellektuell erklären. Man kann es einfach nur anfangen zu lieben.“ Heute betet er in den Tempeln der Leopoldstadt und ist, so kann man den Eindruck haben, gut angekommen. Er befindet sich endlich einmal zur rechten Zeit am rechten Ort. Als „Piefke“ hat er in Wien noch nie ein schlechtes Erlebnis gehabt, erzählt er, aber mit Antisemitismus sei er hier schon konfrontiert gewesen. Einmal hat ihm einer, als er in orthodoxer Kleidung zum Gottesdienst ging, ein „Heil Hitler“ nachgerufen. Ein anderes Mal ging eine Autotür auf und ein Mann schrie: „Lang lebe die Hamas!“

Das sei in Westberlin so nicht vorgekommen, erzählt er, dort seien ihm eher die Leute auf die Nerven gegangen, die den Juden am liebsten die Füße küssen wollten. Auch Rechtsextreme gäbe es in Berlin, aber die Mentalität sei eine andere, nicht so eine hinterfotzige. Mit österreichischer Politik beschäftigt sich der Handwerker kaum. Er kennt die Parteienlandschaft, hat den Eindruck, dass ihm die Grünen am nächsten stünden, aber das alles ist nicht wirklich im unmittelbaren Fokus eines Mannes, der gelernt hat, dass die Geschichte ihre Tücken hat und keine Rücksicht auf Visionen, Hoffnungen und Entscheidungen der Einzelnen nimmt.

Shimon Genin tischlert keine Kästen, Tische oder Bänke. Er ist ausschließlich für Fenster und Türen zuständig. Wenn jemand die Wohnung renoviert, eine Hausverwaltung die Kategorie einer Mietwohnung hinaufsetzen will, oder es irgendwo hineinregnet, ruft man den jüdischen Tischler. Er lebt von kleinen Aufträgen, wo es darum geht, verfaulte Leisten zu ersetzen, Löcher zu verschließen, Dichtungen einzufräsen. „Die Kunden stellen natürlich den Anspruch, dass es nicht hineinregnet, aber die alten Fenster sind eben oft nicht mit einem modernen Mercedes zu vergleichen, sondern ähneln eher einem Dreitakter, der nur noch im Zweitakt fährt“, veranschaulicht Shimon. Aber er löst all die Probleme, und auch wenn man durch die Rahmen da und dort schon „durchgucken“ kann, fällt ihm was ein. „Da mache ich eine Leiste drauf, schleife ab und wenn ich dann mit ein bisschen Farbe darübergehe, dann sieht kein Mensch, dass ich da was gedeichselt habe.“

Er ist ein pragmatischer Bautischler, dem einfach nur wichtig ist, dass Regenwasser am Eindringen gehindert wird und die Türen lange halten, ohne zu faulen. „Tischler wollen ja alles aus Holz, aber ich habe nichts gegen Plastikfenster“, sagt der Meister überraschend. Die neuen isolierten Fenster seien so schwer, dass die hölzerne Unterstütze wegfaule und dann unter schwierigen Umständen zur Gänze ausgetauscht werden müsse. Plastikfenster aber würden, wenn man sie nicht mit grober Gewalt zerstöre, immer weiter funktionieren. Noch gibt es genug Fenster und Türen aus Holz in Wien, nur deshalb kann er leichtfertig gegen die eigene Geschäftsgrundlage, das Holz, zu argumentieren. So arbeitet der Tischler ohne Werkstatt tageweise in immer neuen Wohnungen, macht kleine Reparaturen, schraubt und schleift, malt und setzt ein.

Viel verdient er nicht, Shimon Genin, der Bautischler. In Israel, dem er sich eng verbunden fühlt, hat er auch in diesem Beruf gearbeitet, davon aber kaum leben können. Als Buchhalter hätte er sich überlegen können, nach Israel auszuwandern, aber „als Tischler“? Dann schaut er ein wenig schwermütig, wie das seine Art ist, und meint „Tischler zu sein, bedeutet Armut“.

Plötzlich geht die Tür zu Books & Bagels auf und die kleinen Genin-Buben kommen gemeinsam mit ihrer Mutter herein. Shimon schaut jetzt mit einem Mal fröhlich aus, wie einer, der pünktlich am richtigen Platz sitzt, wissend, dass die sanierten Fenster seines Lebens geschlossen sind und alle Stürme der Geschichte an ihren stabilen Leisten abprallen werden.

Anfragen an Shimon Genin
windoors@gmx.at

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