Religiöse Vielfalt im amerikanischen Judentum

Blick in die fantastische Architektur des „Levy Center and Jewish Chapel“ auf dem Gelände der US-Naval Academy in Annapolis bei Washington. Zur Kapelle gehört eine fast 14 Meter hohe Nachbildung der Klagemauer aus Jerusalemer Stein. ©CREATIVE COMMONS

Knapp 40 Prozent der rund 7,5 Millionen Jüdinnen und Juden in den USA fühlen sich der Reform-Strömung verbunden. Aber viele jüdische US-Bürgerinnen und -Bürger identifizieren sich nur über Geschichte, Kultur und einem Familiengefühl mit dem Judentum.

VON ERIC FREY

New-York-Besucher, die das jüdische Leben der Metropole kennenlernen wollen, werden vielleicht zuerst den Temple Emanu-El auf der 5th Avenue besichtigen, der mit seiner Architektur und seiner Orgelmusik viele eher an eine christliche Kathedrale als an ein jüdisches Bethaus erinnert. Dann werden sie möglicherweise auf die andere Seite des East River nach Williamsburg fahren, wo die Satmarer Chassiden und andere ultra-orthodoxe Gruppen zu finden sind. Übersehen könnten sie dabei, dass sich der Großteil des amerikanischen Judentums zwischen diesen beiden Polen abspielt.

Die liberale Reform-Bewegung ist die zahlenmäßig größte religiöse Gruppierung im US-Judentum. 37 Prozent der rund 7,5 Millionen Jüdinnen und Juden in den USA fühlen sich der Reform-Strömung verbunden, die Mitte des 19. Jahrhunderts aus Deutschland nach Nordamerika kam und seither das jüdische Leben in den USA dominiert. Der Anteil und die absolute Zahl der Mitglieder sind im vergangenen Jahrzehnt gestiegen, und das trotz einer starken Abwanderung durch Assimilation; vor allem aus der Conservative-Strömung haben viele Familien zu Reform gewechselt.

Aber auch das Reformjudentum hat sich verändert, kehrt immer mehr zur Tradition zurück. In vielen Synagogen wird mehr auf Hebräisch gebetet als einst, Kaschrut-Regeln werden strikter eingehalten und die Beschäftigung mit Talmud und Kabbala hat zugenommen. Immer noch stehen ethische Fragen im Vordergrund der Predigten, und gegenüber LGBTQ-Personen sind die Synagogen heute offener denn je. Reform-Rabbinerinnen und -Rabbiner sind durchwegs auch politisch progressiv, und viele halten den Kampf gegen Rassismus und Xenophobie für ebenso wichtig wie ihre religiösen Botschaften. Aber der doch sehr assimilierte Ritus des New Yorker Temple Emanu-El ist nicht mehr repräsentativ.

Traditionelle Halacha

Auch die Conservative-Bewegung, die sich in Europa Masorti nennt, hat sich in Richtung größerer Religiosität bewegt. Immer strenger halten sich Gemeinden an die traditionelle Halacha, werden Kaschrut und die Schabbatruhe eingehalten. Die große Trennlinie zur Orthodoxie bleibt das egalitäre Prinzip: Frauen sind auf allen Ebenen gleichberechtigt, und es gibt zahlreiche Rabbinerinnen. Die Zahl der Conservative-Anhänger schrumpft tendenziell, weil viele in Richtung Reform oder Orthodoxie abwandern. Vor allem aber altert diese Gruppe rasch, noch schneller als die Reform-Strömung: Das Durchschnittsalter beträgt bei Conservatives 62 Jahre, bei Reform 53 und in der Orthodoxie 35.

Das jugendliche Alter der Orthodoxie hängt mit dem Interesse an einem streng religiösen Leben unter vielen jüngeren Menschen zusammen, aber mehr noch mit der hohen Geburtenrate unter den Ultraorthodoxen. Auch diese Strömung ist vielfältig, reicht von Modern Orthodox, deren Anhänger sich außerhalb der Religion weitgehend in die Mehrheitsgesellschaft integrieren, bis zu den chassidischen Gemeinden in Brooklyn und einigen Kleinstädten rund um New York City.

 Andere, religiös noch progressivere Strömungen wie Reconstructionists, Jewish Revival oder Humanistic Judaism, sind klein, aber durch ihre meist akademische Mitgliederschaft kulturell einflussreich. Die wohl am schnellsten wachsende Gruppe aber sind jene amerikanischen Jüdinnen und Juden, die sich überhaupt keiner religiösen Strömung mehr zugehörig fühlen, sondern sich nur über Geschichte, Kultur und ein Familiengefühl mit dem Judentum identifizieren. Sie machen rund ein Viertel der US-Juden aus, in der Altersgruppe unter 30 sind es jedoch bereits 40 Prozent. Wie viele von ihnen eine jüdische Identität an ihre Kinder weitergeben werden, ist eine Schlüsselfrage für die Zukunft des Judentums in den USA.

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