Rechte Wahl: Notlage oder Notwehr?

Demonstration der französischen jüdischen Gemeinde nach dem Anschlag auf die Synagoge in La Grande-Motte im August 2024. ©PASCAL GUYOT / AFP / PICTUREDESK.COM

Von Nathan Spasić

Seit Jahren sieht sich die jüdische Gemeinschaft in Frankreich einer beispiellosen Welle des Antisemitismus gegenüber. Was früher ein Randphänomen war, hat sich längst in der Mitte der Gesellschaft festgesetzt. Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen sind zur traurigen Normalität geworden. Das Leben in Frankreich, einst Heimat einer der größten jüdischen Gemeinschaften der Welt, ist für viele Jüdinnen und Juden zu einem täglichen Spießrutenlauf geworden.
Es sind längst keine Einzelfälle mehr. Die Morde an der Holocaust-Überlebenden Mireille Knoll 2018 und die Anschläge auf den Hyper Cacher Supermarkt 2015 haben tiefe Wunden hinterlassen. Oder der Vorfall im April 2022, als ein jüdischer Mann in Paris auf offener Straße wegen seiner Kippa schwer verletzt wurde. Viele dieser Übergriffe werden von jungen, radikalisierten Muslimen verübt. Diese Gewalt hat sich zu einem Paroxysmus entwickelt, der immer wieder unter Beweis stellt, dass jüdisches Leben in Frankreich seit inzwischen mehr als zwei Jahrzehnten zur Zielscheibe geworden ist. Der jüngste Gaza-Konflikt hat die Spannungen in Frankreich weiter angeheizt. Was den Anschein einer harmlosen Friedensbewegung erweckte, artete in unverblümten Antisemitismus aus. In Paris und anderen Städten skandierten Menschenmengen „Tod den Juden“, jüdische Geschäfte wurden verwüstet, Synagogen beschädigt. Francis Kalifat, der Präsident der jüdischen Gemeinde Frankreichs, brachte es auf den Punkt: „Es ist unerträglich, dass solche Rufe in den Straßen von Paris ertönen können.“ Der Antisemitismus hat seit dem barbarischen Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 einen neuen Höchststand in Frankreich erreicht.
Wenn es ein Gewaltakt in die Medien schafft, heißt es in Frankreich „Nie wieder“. Präsident Emmanuel Macron zeigt sich wie gewohnt zutiefst betroffen, verurteilt den Antisemitismus scharf und verspricht gegen diese Geißel vorzugehen. „Frankreich wird alles tun, um seine jüdischen Bürger zu schützen“, sagte er einst. Doch Worte allein reichen nicht aus. Es braucht Taten und genau daran mangelt es.
Dafür meldet sich Jean-Luc Mélenchon zu Wort. Seine Partei, La France Insoumise (Unbeugsames Frankreich) war bei der Parlamentswahl 2024 Teil des Linksbündnisses. Während des Wahlkampfs 2024 erklärte er, dass „Antisemitismus in Frankreich ein Randphänomen“ sei. Notabene: einer Statistik aus dem Jahr 2024 zufolge haben 34 Prozent der französischen Bevölkerung ausgeprägte antisemitische Vorurteile. Auch weigerte sich Mélenchon die Hamas als Terrororganisation zu bezeichnen, ganz im Gegenteil, er nannte sie eine Widerstandsbewegung. Ein wenig Terrorismus-Glorifizierung da, ein wenig Apartheidvorwürfe dort und um das Ganze abzurunden eine Prise anachronistischen Antisemitismus: 2020 wiederholte er die Mär wonach Juden für den Tod von Jesus verantwortlich seien.
Es überrascht nicht, dass viele Juden Frankreich bereits verlassen haben. Die Angst, die sie umtreibt, hat in den letzten Jahren zu einer Massenabwanderung geführt. Tausende wanderten nach Israel aus, auf der Suche nach einem sichereren Leben. Diese Abwanderung ist mehr als eine Statistik – es ist die Antwort einer Gemeinde, die sich keine Illusionen mehr macht.
Der bekannte Nazijäger Serge Klarsfeld sorgte für Schlagzeilen, als er erklärte, der Rassemblement National von Marine Le Pen sei kein Feind der Juden mehr. Jene Partei, die einst als der Inbegriff des Antisemitismus galt, versucht sich nun unter dem 28-jährigen Jordan Bardella als Verteidiger der jüdischen Gemeinschaft zu inszenieren. Man würde meinen es sei nicht dieselbe Partei, deren früherer Anführer Jean-Marie Le Pen den Holocaust als „Detail der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ abtat und den jüdischen Schauspieler und Sänger Patrick Bruel in einem Gespräch als „Ofenfutter“ bezeichnete. Auch Éric Zemmour, selbst jüdisch und eine kontroverse Persönlichkeit in den Medien, vertritt mit seiner Partei Reconquête (Wiedereroberung) eine strikte Anti-Islam-Position, während er sich gleichzeitig als Verfechter jüdischer Interessen darstellt. „Es ist schrecklich, dass Juden heute das Gefühl haben, sich zwischen dem geringeren Übel entscheiden zu müssen, weil sie glauben, keine andere Wahl zu haben. Das zeigt, wie tief unsere Gesellschaft gesunken ist“, so Delphine Horvilleur, Vorsitzende der Jüdisch-liberalen Bewegung Frankreichs.
La Grande Nation ist gespalten, die Wahlen haben es gezeigt. Der Rassemblement National ist mit 33% der Wählerstimmen die stärkste Kraft, gefolgt vom Linksbündnis mit 28% und Macrons Partei mit 20%. Die restlichen 19% teilen sich 5 Kleinparteien und Sonstige. Die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen einem vermeintlichen Schutzschild und einem Staat, der nicht handelt, zeigt die Tragödie unserer Zeit. Frankreich, einst Symbol der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, läuft Gefahr, eine seiner ältesten und wertvollsten Gemeinschaften zu verlieren. Es ist nicht nur eine politische, sondern eine moralische Katastrophe, die die tiefen Risse in der französischen Gesellschaft offenbart.

Welchen politischen Weg wird Frankreich in den nächsten Monaten einschlagen? © DANIELLE SPERA
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