Quo vadis, Europa?

Schwierige Zeiten für die Gemeinschaft: EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bei einer Pressekonferenz in Brüssel.

Grenzen wurden geschlossen, und die Coronakrise ließ die europäische Solidarität vergessen. Ein „Hochfahren“ der Europäischen Union ist nur in einem gemeinsamen Kraftakt aller Mitgliedstaaten möglich.

Krisen sind in der Europäischen Union nichts Neues. Brüssel-Bashing allerdings auch nicht. Das rächt sich jetzt, denn die Menschen haben ihr Vertrauen in die Europäische Union verloren. Eine Direktive der Europäischen Kommission, etwa das Paznauntal, das Arlberggebiet und das Gasteinertal unter Quarantäne zu stellen, hätte in Tirol und Salzburg wohl Aufstände nach sich gezogen. Entsprechende Verordnungen der Landesregierungen hingegen waren durchsetzbar, und die Bevölkerung hatte auch großteils Verständnis dafür.

Die Gesundheitspolitik blieb auch in Zeiten der Pandemie in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, da hatte Brüssel – und hat auch fortan – nichts zu sagen. Aktiv werden konnten die EU-Institutionen nur mit flankierenden Maßnahmen: So befreite die Kommission medizinische Geräte und Testkits von Zöllen und versuchte mit Beschaffungsverfahren die Mitgliedstaaten bei der Versorgung mit Schutzausrüstungen, Masken, Beatmungsgeräten und Reagenzien für SARS-CoV-2-Tests zu unterstützen. Die Defizitregeln wurden ausgesetzt. Die Mitgliedstaaten haben so die Möglichkeit, Schulden in unbegrenzter Höhe aufzunehmen, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Eine eigene Einheit des EU-Verwaltungsapparates bekämpft Fake News und Corona-Verschwörungstheorien. Massiv involviert war die Union auch bei den Rückholaktionen von EU-Bürgern in ihre Heimat. Die EU-Kommission unterstützte dabei die EU-Länder organisatorisch, aber auch finanziell. Aber hat man davon in Österreich auch nur ein Wort gehört?

Mangelnde Solidarität

Im Gegenteil: Ein Mitgliedstaat nach dem anderen schloss die Grenzen, machte die Schotten zu den Nachbarn dicht. Das Schengener Abkommen war binnen Tagen ausgehebelt. Störungen im Binnenmarkt traten rasch auf. So hielt Deutschland einige Tage lang eine von Österreich bestellte und bereits bezahlte Lieferung von dringend benötigten medizinischen Geräten zurück.

Europa sucht in der Coronakrise eine „zentrifugale Dynamik“ heim, wie das Ende April bei einer hochrangigen Diskussionsrunde der Diplomat und Carnegie-Visiting Scholar Stefan Lehne formulierte. In der Tat: Noch nie in der Geschichte der Europäischen Union haben nationales Eigeninteresse („Wir machen die Grenzen dicht“) und mangelnde Solidarität („Wir müssen unsere Wirtschaft wieder hochfahren“) derart an den Grundfesten des Projektes Europa gerüttelt. Von dem Gedanken Winston Churchills von „der Partnerschaft Frankreichs und Deutschlands“ als erstem Schritt „einer Neubildung der europäischen Familie“, den er in seiner berühmten Rede an der Universität Zürich am 19. September 1949 vortrug, ist heute nicht viel übrig. Die von Covid-19 hauptbetroffenen EU-Mitgliedstaaten Italien, Spanien und Frankreich erwarten von den reicheren Nachbarn Deutschland, Niederlande und Österreich Unterstützung. Solidarität hieße für sie eine Vergemeinschaftung der Schulden. Das hieße Eurobonds zu begeben, Anleihen also, für deren Rückzahlung alle 27 Mitgliedstaaten haften und dafür de facto höhere Zinsen in Kauf nehmen. Doch in Den Haag, Berlin und Wien ist man dazu nicht bereit.

Die Kluft wird (noch) größer

Ist zu befürchten, dass der lebenslange Kampf der Auschwitz-Überlebenden, französischen Jüdin und ersten Präsidentin des Europäischen Parlaments Simone Veil für ein „solides und großzügiges Europa, das seine Egoismen und seine unmittelbaren Interessen zu überwinden weiß“, keine Ergebnisse gezeitigt hat?

Nicht unbedingt. Haben sich die EU-Finanzminister Mitte April doch auf ein 500 Milliarden schweres Hilfspakt für die darniederliegende Wirtschaft der am schwersten von der Coronakrise getroffenen Mitgliedstaaten geeinigt. Davon kommen 240 Milliarden Euro für EU-Länder aus der Kreditlinie des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM, üblicherweise an strikte Reformbedingungen geknüpft, 200 Milliarden aus einem Kreditprogramm der Europäischen Investitionsbank EIB für Unternehmen und 100 Milliarden aus dem Kurzarbeits-Programm „Sure“ der Europäischen Kommission.

Allerdings sind diese Kredite von den bereits vor der Coronakrise hochverschuldeten Mitgliedstaaten Spanien, Portugal, Italien und Frankreich marktüblich (hoch)verzinst zurückzuzahlen. Wahre europäische Solidarität sieht anders aus. Dies hieße nämlich für die Schulden der besonders von der Coronakrise betroffenen EU-Länder gemeinsam einzustehen. Die Pandemie hat dem ökonomischen Riss zwischen dem „reichen Norden“ und dem „armen Süden“ eine neue Dynamik verliehen.

Auch die Frage nach einem – angesichts der neuen Situation – höheren EU-Haushalt entzweit die Union. Anstatt der ursprünglichen 1,3% des BIP fordert die Europäische Kommission nun 2% als jährlichen Beitrag für den Zeitraum 2021–2027, um den „Wiederaufbau“ zu finanzieren und zusätzliche Gelder für Forschung und Innovation zur Verfügung zu stellen. Das wollen die Nettozahler auf keinen Fall leisten. Kanzler Kurz will bei 1% des BIP die Grenze ziehen und rückt davon auch nicht ab.

„Geld zieht nur den Eigennutz an“, sagte schon Albert Einstein. Und Jean-Claude Juncker bläst ins gleiche Horn, wenn er in einem Interview mit den Salzburger Nachrichten meint, er sei „sehr dagegen, dass man spart, wenn es um Solidarität und um neue zukunftswesende Ideen geht“.

Chance für Neuanfang?

Auch wenn Europa zur Zeit von der SARS-2-Pandemie geplagt wird und die Coronakrise im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, die „alten“ Herausforderungen der Union sind nicht verschwunden: Flüchtlingskrise, Klimaproblematik, Post-Brexit-Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, der EU-weite Populismus und der Kampf um die Bewahrung des Rechtsstaates und der liberalen Demokratie (siehe Ungarn und Polen). Sie in den Griff zu bekommen geht nur, wenn alle Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen. Denn die 27 EU-Länder sind die „Herren der Verträge“, nur sie können den europäischen Karren auf Schiene setzen.

Ja, es ist eine existenzielle Krise für die EU, so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kürzlich gegenüber der Zeit, doch diese sei nur durch eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Werte des Projektes Europa zu überwinden. Und diese sind: gemeinsames Handeln, Solidarität und Absage an die Verlockungen des Nationalismus, der Europa und uns alle schon früher in Katastrophen geführt hat. Da kommt einem die vielzitierte Warnung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten François Mitterrand – „le nationalisme, c’est la guerre“ – in den Sinn.

Trotzdem hat Europa die Chance eines Neuanfangs. Es kann auch der Beginn einer neuen europäischen Erzählung, eines neuen Narrativs sein, das die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sich zu eigen machen und auf das auch die Regierungen der 27 Staaten aufbauen können. Denn, so Jean-Claude Juncker: „Europa braucht sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten.“

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