Poetische Propaganda

Theodor Herzl im Herbst 1898 an Deck der "Imperator Nikolaus II." mit (von links nach rechts) Max Bodenheimer, Moritz Schnirer und David Wolffsohn. © Austrian Archives / Brandstaetter Images / Picturedesk.com

Theodor Herzl (1860–1904), Begründer des politischen Zionismus, war ein emsiger Schreiber. Der Korrespondent nannte seine journalistische Tätigkeit lapidar „Tagesgeschichtsschreibung“

Von Gabriele Flossmann

Über den Vielschreiber Theodor Herzl wird bis heute viel geschrieben. Zum Beispiel von Derek Penslar in dessen aktueller Biografie „Theodor Herzl: Staatsmann ohne Staat“, in der der Historiker und Professor für Jüdische Geschichte in Harvard herauszufinden versucht, worin Herzls Charisma bestand – und wie es ihm gelang, andere für seine Ideen zu begeistern. Mit neuen Fakten über eine der einflussreichsten politischen Figuren des 19. Jahrhunderts kann zwar auch Penslar nicht aufwarten, aber dafür mit neuen Deutungen sowie einer Evaluierung von Herzls Bedeutung als Journalist.

Unter anderem widerlegt Penslar die vorherrschende Meinung, dass die Dreyfus­-Affäre, die Herzl als Korrespondent der Neuen Freien Presse in Paris miterlebte, das „Erweckungserlebnis“ für seine zionistischen Ideen war, wiewohl Herzl selbst sie im Nachhinein dazu stilisiert hatte: Der öffentliche Umgang mit Alfred Dreyfus habe ihn, so Herzl, „zum Zionisten gemacht“. Penslar verortet die Entstehung von Herzls zionistischen Visionen hingegen in einem privaten Seelentief 1895, das in seiner unglücklichen Ehe begründet war. Als Journalist der Neuen Freien Presse – zunächst als Paris-Korrespondent, später als Feuilletonchef – war der Sohn aus assimiliertem jüdischem Elternhaus zweifelsohne ein Star. Trotzdem haderte er mit diesem Schicksal. Denn eigentlich wollte Herzl Schriftsteller werden. Über den Umweg des Journalismus erhoffte er sich den Aufstieg in die großbürgerliche Elite und die Anerkennung von Nichtjuden.

Wunsch nach Akzeptanz

Womit sich im Zusammenhang mit Herzl eine auch für die heutige Zeit sehr wesentliche Frage stellt: Dürfen Journalisten, die von ihrem Berufsethos her neutral und unabhängig sein sollen, um die Akzeptanz gewisser gesellschaftlicher Klassen buhlen, ohne Gefahr zu laufen, letztlich Propaganda für die Reichen und Mächtigen zu machen? Dürfen sie sich neben ihrer journalistischen Tätigkeit auch parteipolitisch engagieren oder gar eine Partei, eine Ideologie, eine Bewegung begründen?

Interessant ist diese auch heute überaus aktuelle Frage unter dem Aspekt, dass Theodor Herzl seit dem Sommersemester 2000 Namenspatron einer „Dozentur für Poetik des Journalismus“ an der Universität Wien ist. In diesem Lehrgang referieren nationale und internationale Gastlektoren u.a. über kritische Distanz gegenüber Machthabern und Regierungen als Richtlinie einer modernen, fairen Berichterstattung. Dass Journalismus und Poetik einander nicht ausschließen, zeigt ein Blick in die Literaturgeschichte, neben Theodor Herzl waren zahlreiche prominente Dichterfürsten und Schriftsteller wie etwa Joseph Roth, Kurt Tucholsky, Egon Friedell oder Karl Kraus auch journalistisch tätig. Und angeblich hat Herzl, nachdem Stefan Zweig ihm sein neuestes Werk zu lesen gab, dafür den Titel Die Welt von Gestern erfunden.

Irrglaube der Massen

In Zeiten von Twitter, Blogs sowie Hass- und Weltverschwörungspostings scheint allerdings der Tagesberichterstattung jegliche Poetik abhandengekommen sein. Vielleicht hatte Theodor Herzl ja die SMS-Chats heutiger Politiker vorausgesehen, als er schrieb: „Die Demokratie ist maßlos in der Anerkennung und in der Verurteilung, führt zu Parlamentsgeschwätz und zur hässlichen Kategorie der Berufspolitiker. Die Massen sind noch ärger als die Parlamente jedem Irrglauben unterworfen, jedem kräftigen Schreier zugeneigt.“

Herzl selbst nannte seine journalistische Tätigkeit lapidar „Tagesgeschichtsschreibung“, bis den Paris-Korrespondenten der Neuen Freien Presse 1894 ein aufsehenerregender Spionagefall aufrüttelte: Der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus wurde fälschlicherweise beschuldigt, „Verrat am Vaterland“ begangen zu haben; man bezichtigte ihn, er habe Dokumente des französischen Generalstabs an einen deutschen Militärattaché verkauft. Er wurde Ende 1894 zur lebenslänglichen Deportation verurteilt, alle militärischen Ehren wurden ihm aberkannt. Auch nach seiner Rückkehr nach Wien beobachtete Herzl, mittlerweile Feuilletonchef der Neuen Freien Presse, weiterhin den sich fünf Jahre hinziehenden Dreyfus-Prozess. Die heftigen Ausschreitungen nach der Urteilsverkündung entsetzten ihn. Wohin entwickelte sich Europa, wenn schon in Paris, der Hauptstadt der Menschen- und Bürgerrechte, der Mob durch die Straßen zog und „Tod den Juden“ schrie?

Zwischen 1887 und 1904 verfasste Herzl rund 280 Artikel, Essays und Kommentare, anfangs auch für die Wiener Allgemeine Zeitung, ab 1889 ausschließlich für die Neue Freie Presse. Er war berühmt für seinen pointierten Witz, den Spannungsaufbau seiner Geschichten und seine akribischen Recherchen.

Als Herzl 1896 sein Buch Der Judenstaat veröffentlichte, konnte er damit – noch – kein besonderes Aufsehen erregen. Der berühmte Feuilletonist, der lange in der Assimilierung das Gegenmittel zum Antisemitismus sah und für Massentaufen durch den Papst plädierte, wurde noch nicht als politischer Kopf ernst genommen. Man hielt ihn bestenfalls für einen Fantasten, schlimmstenfalls für einen Hochstapler. Ihm schwebte eine „aristokratische Republik“ vor, in der jeder Bürger „seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist“, behalten sollte, denn „wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillett zu verlangen?“ Der Judenstaat sollte „auf keinen Fall am Ende eine Theokratie“ werden, denn: „Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns frei.“

Herzl selbst beabsichtigte zunächst übrigens gar nicht, jene Notizen zu veröffentlichen, die er in Paris in fieberhafter Stimmung und unter dem Eindruck von Richard Wagners Opern, besonders des Tannhäuser, zu Papier gebracht hatte. In der Hoffnung auf Geld und Unterstützung für seine zionistischen Ideen wollte er sie als Referat bei einem Familientreffen der Rothschilds vortragen. Doch die dachten gar nicht daran, den Wiener Journalisten zu empfangen. Aus der Rede wurde nichts, und Herzl schrieb in sein Tagebuch: „Ich glaube, für mich hat das Leben aufgehört und die Weltgeschichte begonnen.“

Theodor Herzl

Geboren 1860 in eine Familie assimilierter Juden im ungarischen Pest, war Theodor Herzl ein ehrgeiziger Bürgersohn des Fin de Siècle. Nationalist, egozentrisch, humorbegabt, romantisch, aber auch melancholisch und depressiv. Seit dem 19. Lebensjahr lebte er in Wien, fühlte sich stolz als „deutscher Schriftsteller“ und wollte sich als solcher einen unsterblichen Namen machen. Das Judentum per se interessierte ihn kaum. Er trat auf wie ein Dandy, legte größten Wert auf seine Kleidung, sah gut aus: hochgewachsen, mit ausdrucksvollen braunen Augen. Früh ließ er sich einen Bart stehen, um älter zu wirken. Frauen fühlten sich von ihm angezogen, aber er blieb einsam, galt als arrogant und hatte kaum Freunde. Während seines Jusstudiums trat er einer deutschnationalen Burschenschaft bei, nahm Fechtunterricht, schlug auch einmal eine Mensur. Er heiratete ein reiches Mädchen und hätte sein Leben wohl als ein angesehener, mittelmäßiger Autor beendet, wenn er nicht mit einer unerklärlichen Erscheinung in Berührung gekommen wäre, die ihren Namen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhalten hatte: dem Antisemitismus. Natürlich hatte Herzl schon in seinen Jugendjahren in Budapest antisemitische Anfeindungen erlebt, später auch Wien. Doch er nahm das lange nicht ernst, weil er darin nur das Tun des Pöbels sah, von dem er sich ohnehin fernhalten wollte. Das Ereignis, das seinem Leben die Wende gab, war der Dreyfus-Prozess, den er 1894 als Pariser Korrespondent der Wiener Zeitung Neue Freie Presse miterlebte.

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