Ob man „Jude“ ist, entscheiden immer die anderen

Carl Djerassi, Erfinder der Antibabypille und Autor, lebt seit diesem März wieder in Wien. NU besuchte ihn in seiner Dachgeschoßwohnung im dritten Bezirk und sprach mit ihm über seine Sammelleidenschaft, seine Kindheit und die Frage, wie er seine jüdische Identität definiert.
Eine Begegnung, Aufgezeichnet von Katja Sindemann. Fotos: Peter Rigaud

Ich bereite ein Interview mit Carl Djerassi vor, dem Erfinder der Antibabypille, Paul-Klee-Sammler und seit zwei Jahrzehnten Roman- und Theaterautor. Und auch Wiener Jude, dem 1938 die Flucht gelang. Djerassi hat fünf Romane mit Bezug auf wissenschaftliche Themen, sogenannte Science- in-Fiction, verfasst, außerdem sieben Theaterstücke, die weltweit aufgeführt werden. Als ich mit ihm Kontakt aufnehme, um einen Gesprächstermin zum Thema „Jüdische Identität“ zu vereinbaren, bittet er mich, vorab das Kapitel „Vier Juden“ in seinem Buch „Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch. Benjamin – Adorno – Scholem – Schönberg“ zu lesen. Darin geht es um ein fiktives Gespräch zwischen dem Philosophen und Literaten Walter Benjamin, dem Komponisten Arnold Schönberg, dem Religionshistoriker Gershom Scholem und dem Philosophieprofessor Theodor W. Adorno über jüdische Identität. Jeder der vier hat aufgrund der leidvollen Erfahrungen während der NS-Zeit einen anderen persönlichen Umgang mit seinem Judentum entwickelt. Während Scholem ein glühender Zionist wurde, verbarg Adorno seine halbjüdische Herkunft unter einem Namenswechsel. Schönberg, der in jungen Jahren zum Protestantismus konvertiert war, kehrte zum Judentum zurück, während Benjamin in seiner Identität schwankend war. Das Gespräch zeigt die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs auf – in allen Fällen wurde die Beschäftigung mit der eigenen Identität von außen aufgezwungen. Dieses Kapitel offenbart mir, wie vertraut Carl Djerassi mit den Biographien dieser vier Geistesgrößen ist. Aber er enthält sich einer eindeutigen Positionierung und führt die verschiedenen Facetten vor Augen.

Eine Jugend auf der Mazzesinsel Djerassi wohnt in einem stattlichen Haus im 3. Bezirk im obersten Geschoß in einer hellen, luftigen Wohnung. Eine Oase der Kühle in der ansonsten heißen Stadt. Er begrüßt mich leger in T-Shirt und bequemer Freizeithose und führt mich ins Arbeitszimmer, da er einiges für mich vorbereitet hat. Während ich in einem tiefen Sessel versinke, thront er auf einem Stuhl zwischen Computer und drehbarem Bücherregal, sein steifes Bein hoch gelagert. Meine erste Frage zielt auf seine Wiener Herkunft. Sofort zieht er ein Buch aus dem Regal – seine Autobiographie – und präsentiert Fotos von sich als Kleinkind mit seiner Mutter, als Pfadfinder sowie ein Wienpanorama, wo sein Wohnhaus am Donaukanal in der damaligen Aspernbrückengasse zu erkennen ist. Seine Mutter habe ihn vom Balkon beobachtet, wenn er gegenüber bei der Urania in einem kleinen Park Fußball spielte. Heute residiert an der Stelle des Elternhauses eine große Versicherung. Djerassi erklärt, dass ein paar Häuser weiter Elias Canetti gewohnt habe, ebenso Arthur Schnitzler und Hans Moser. Er sei in die Volksschule in der Czerningasse gegangen, so wie die Physikerin Lise Meitner. „Eine engagierte Lehrerin der Schule hatte mich eingeladen, weil sie mit ihren Schülern eine Ausstellung über Paul Klee gemacht hat. Zum 100. Geburtstag der Schule wurden berühmte Schüler vorgestellt. Heute sind in einer Klasse 13 verschiedene Nationen vertreten. Zu meinem Geburtstag hatte die Lehrerin einen Kuchen gebacken und jedes Kind hat in seiner Muttersprache ,Happy birthday‘ gesungen.

Damals war fast die Hälfte der Schüler jüdisch – heute kein Einziger!“ Diese Tatsache hat Djerassi schockiert. „Die Nazis haben sich bemüht, Wien judenfrei zu machen. Die Mazzesinsel ist heute ein multikultureller Bezirk, aber es gibt nur mehr wenige jüdische Einrichtungen im Vergleich zu damals.“

Seine Eltern waren jüdisch, aber völlig assimiliert. Sein Vater war ein bulgarischer Arzt, seine Mutter eine Wiener Zahnärztin. Die Eltern ließen sich scheiden, als Carl vier Jahre alt war. 1938 heirateten die Eltern erneut, um Mutter und Sohn die Ausreise nach Bulgarien zu ermöglichen. Späte Auseinandersetzung mit dem Jüdischsein Ich frage ihn, warum er sich erst spät mit seiner jüdischen Identität auseinandergesetzt hat. „Keine Frage, ich habe es lange zurückgedrängt. Ich bin 1938 von hier nach Bulgarien gegangen und dann als 16-Jähriger in die Vereinigten Staaten. Da wollte ich mich total assimilieren.

Natürlich habe ich bejaht, wenn mich jemand gefragt hat, ob ich Jude bin. Aber ich habe es nicht an die große Glocke gehängt. Das hat mich bei Adorno beeindruckt, der nur halbjüdisch war, denn seine Mutter war katholisch. Obwohl er getauft und christlich erzogen war, wurde er von den Nazis vertrieben. In Amerika hat er nie über seine jüdische Identität gesprochen. Vielmehr hat er bei der Einbürgerung seinen Namen von ,Wiesengrund‘ in ,Adorno‘ geändert. Als er 1949 nach Deutschland zurückkehrte, weil er eine Professur in Frankfurt bekam, wurde er abschätzig als ,Reparationsprofessor‘ bezeichnet. Er hat dann sehr aggressiv über die deutsche Schuld geschrieben.

Ich selbst habe mich erst spät mit meiner jüdischen Identität auseinandergesetzt, nämlich als ich vor 20 Jahren mit dem literarischen Schreiben begonnen habe.“ Wieder sucht Djerassi einige Bücher aus seinem drehbaren Regal heraus. Es sind seine Romane „Cantors Dilemma“, „The Bourbaki Gambit“, „Menachem’s Seed“ und „NO“. Djerassi: „In jedem Buch gibt es eine jüdische Hauptfigur. Der Name ,Menachem‘ ist sogar total jüdisch. In ,NO‘ gibt es eine indische Frau, die einen Juden heiratet. In meinem fünften Roman ,Marx, Deceased‘ (auf Deutsch ,Ego‘) ist die Hauptfigur auch ein Jude. Es handelt sich immer um nichtreligiöse, assimilierte Juden. Ich habe das nicht absichtlich gemacht, aber ich habe bemerkt, dass es mir passiert. Dann habe ich angefangen nachzudenken, was jüdische Identität bedeutet, denn ich bin nicht religiös. Meine Familie war säkular. Damals gab es in Wien 200.000 Juden, mehr als die Hälfte war assimiliert. Zu meiner Zeit war der Antagonismus zwischen Aschkenasen und Ostjuden sehr stark und sehr unappetitlich.“ Ich möchte wissen, zu welchem Ergebnis ihn seine Auseinandersetzung mit dem Thema geführt hat, und frage ihn, welchem seiner vier Protagonisten Benjamin/ Adorno/Scholem/Schönberg er sich am ähnlichsten fühlt. Er stutzt: „Ich wollte es im Buch nicht zugeben. Was ich beweisen wollte, ist, dass jüdische Identität sehr Unterschiedliches bedeuten kann. Nicht nur für die Nichtjuden, sondern für die Juden selber. Deshalb habe ich die vier ausgesucht, weil es für jeden von ihnen etwas anderes bedeutet. Nehmen wir Schönberg – ich hätte nie daran gedacht, mich taufen zu lassen, so wie er es freiwillig, hauptsächlich aus beruflichen Gründen, getan hat. Oder meinen Namen zu ändern, wie es Adorno gemacht hat. Obwohl Djerassi ein fürchterlicher Name zum Buchstabieren ist. Obwohl ich an zwei amerikanischen Universitäten der erste jüdische Chemieprofessor war. Denn auch in Amerika gab es Antisemitismus. Viele Berufe waren Juden verschlossen. Die Columbia University in New York hat offiziell bis in die 1940er Jahre an der medizinischen Fakultät einen Numerus clausus für Juden gehabt! Ich hätte also meine Identität verstecken können, habe jedoch nie daran gedacht.

Nehmen wir umgekehrt Scholem, der aus einer deutsch-jüdischen Familie kam. Er hatte schon als 15-Jähriger angefangen, Hebräisch zu lernen und Zionist zu werden. Ich habe nie Hebräisch gelernt – daher entspreche ich diesem Beispiel auch nicht. Durch meine Emigration war ich amerikanisch orientiert, nicht israelisch. Das beste Beispiel für mich ist Walter Benjamin, der nie gewusst hat, ob er ein jüdischer Deutscher oder ein deutscher Jude ist. Mein Buch ,Vier Juden auf dem Parnass‘ befasst sich mit der Frage, was der Unterschied zwischen einem Wiener Juden und einem jüdischen Wiener ist. Jede Person würde diesen Unterschied anders definieren.“ Djerassi besitzt eine umfangreiche Paul-Klee-Sammlung, die zur Hälfte im San Francisco Museum of Modern Art und zur Hälfte in der Albertina zu sehen ist, in deren Eigentum sie nach seinem Tod jeweils übergehen wird. „Paul Klee war kein Jude, aber die Nazis haben ihn bereits 1919 als ,Paul Zion Klee‘ verunglimpft. 1933 haben sie ihn aus Deutschland rausgeschmissen und seine Bilder als entartete Kunst deklariert. Wer entscheidet, ob man ,Jude‘ ist? Es sind immer die anderen Leute und nicht man selbst. Und das ist das Wichtige dabei.“ Als ich ihn frage, ob er als Kind in Wien antisemitische Übergriffe erlebt hat, weicht er aus: „Nur das Übliche, was jeder Jude erlebt hat. Es waren keine gewaltigen Sachen. Ich bin in die Volksschule in der Czerningasse und ins Gymnasium in der Sperlgasse gegangen, wo vierzig Prozent der Schüler jüdisch waren. Die meisten meiner Freunde waren Juden, aber nicht alle. Bei den Pfadfindern, die sehr wichtig für mich waren, war die Hälfte jüdisch. Ich war nie in einer Minorität. Ich denke, wenn man der einzige Jude an einem Ort ist, ist die Situation anders. Ich hatte den großen Vorteil, dass ich schon Anfang Juli 1938 emigriert bin, also Monate vor der Reichskristallnacht. Die wirklich katastrophalen Angriffe sind im Herbst passiert, dann hat es mit den KZs begonnen.“ Djerassis Vater heiratete 1938 seine geschiedene Frau erneut, damit sie und das Kind einen bulgarischen Pass bekamen und aus Wien ausreisen konnten. Die beiden ließen sich anschließend gleich wieder scheiden. Seine Mutter ging nach London und ein Jahr später in die USA. Carl blieb vorerst beim Vater in Sofia, wo er die amerikanische Schule besuchte. 1939 wanderte er mit seiner Mutter in die Staaten aus.

Späte Ehrungen, die nicht versöhnen Ich frage ihn, wieso er nach Wien zurückgekommen ist. „Ich habe Wien in den letzten 15 Jahren oft besucht, aber immer nur zu Vorträgen, Aufführungen etc. Diese Wohnung habe ich erst seit März. Meine Frau ist vor anderthalb Jahren gestorben, ich wollte als Witwer ein neues gesellschaftliches Leben gründen. Ich werde in Zukunft acht Monate zwischen London und Wien pendeln, im Winter unterrichte ich noch an der Stanford University in Kalifornien. Ich will sehen, was es bedeutet, in Wien zu leben. Ich kann jedoch noch nichts sagen, weil ich erst seit ein paar Monaten hier bin.“ Der weltberühmte Erfinder der Pille hat in Österreich mittlerweile zahlreiche Auszeichnungen bekommen. „Ist das für Sie auch eine Art Wiedergutmachung? So wie bei Adorno?“, frage ich. „Das wird sehr bitter klingen und teilweise ist es das auch: Man kann sich versöhnen, aber man kann nicht vergessen, dass man aus seiner Heimat rausgeschmissen wurde. Wenn mir Leute sagen, dass ich in mein Vaterland zurückkomme, korrigiere ich, dass es etwas ganz anderes ist, wenn man vertrieben wurde. Dann hat man keine Heimat mehr. Ich habe mich immer heimatlos gefühlt. Ich sage nicht, dass ich darüber traurig bin. Es ist ja auch eine Stärke, denn man ist unabhängiger. Ich habe in Mexiko, den USA, England gelebt, jetzt wohne ich in Wien. Es ist für mich eine neue Wohnung, nicht die Rückkehr in die Heimat! Die Ehrungen waren Anerkennungen der Regierung. Ich glaube, das ist ein Resultat der offiziellen Geschichtsaufarbeitung in Österreich, die hier viel später eingesetzt hat als in Deutschland. Darüber nachzudenken, was beim Anschluss wirklich passiert ist, hat offiziell erst in den späten 1980er Jahren angefangen. Vorher gab es die Fiktion, Österreich sei das erste Opfer der Nazis gewesen. In Wahrheit waren die Österreicher die größten Nazis. Woher ist Hitler gekommen?

Wo waren – nach 1945 – all die Tausenden Österreicher, die ihn beim Einmarsch jubelnd begrüßt haben? Ich nehme die Ehrungen an und fühle mich dadurch nicht beleidigt. Aber ich muss Ihnen ein Beispiel aus der akademischen Welt nennen, denn die hat sich nicht sehr geändert. Ich bin ein bekannter Chemiker, der auf der ganzen Welt Vorträge gehalten hat. Zwischen 1950 bis 1995 habe ich in jedem Land Europas wissenschaftliche Reden gehalten mit drei Ausnahmen: Albanien, Portugal und Österreich. Das ist komisch! Die Deutschen beispielsweise haben mich schon sehr oft eingeladen. Die Österreicher haben mich erst als Wiener entdeckt, als mein erster Roman ins Deutsche übersetzt wurde und mich die Literaturgesellschaft eingeladen hat. Es war also nicht die wissenschaftliche, sondern die literarische Welt, die mich empfangen hat. Ich wurde erstmals vor ein paar Jahren von der chemischen Fakultät zu einem Vortrag eingeladen. Und das, obwohl ich seit 40, 50 Jahren ein bekannter Chemiker bin … und jetzt eigentlich schon tot sein sollte.“ Djerassi lacht und fährt gleich wieder ernst fort: „Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. Ich habe mittlerweile 20 Ehrendoktorate verliehen bekommen, die Hälfte davon in Amerika. Viele kamen aus Ländern, zu denen ich keine persönliche Verbindung habe, wie z. B. Belgien, Schweden oder die Schweiz. 2009 habe ich meinen ersten Ehrendoktor von einer deutschen Universität bekommen. Aber keine österreichische Universität hat mir bisher einen Ehrentitel verliehen! Die Anzahl der Ehrendoktorate spielt für mich keine Rolle, aber das Faktum, dass das in Österreich so ist, obwohl ich seit 1999 Anerkennungen von der Regierung erhalte, ist für mich ein Beispiel …“ Djerassi führt den Satz nicht zu Ende. Ob er als Kunstliebhaber die aktuellen Debatten um Kunstrestitutionen verfolge? „Ich kenne nicht die Details der Sammlung Leopold, aber die Sache mit den sechs Klimt-Bildern wurde meiner Meinung nach fürchterlich schlecht behandelt.

Wenn die Österreicher sich anders benommen hätten, hätten die Erben die Bilder sicher als Leihgaben hier gelassen. Aber es wurde so bürokratisch gehandhabt, dass ein bitterer Prozess rausgekommen ist. Anstatt das Prinzip anzuerkennen, dass die Bilder gestohlen wurden und es wichtig wäre, den Diebstahl so schnell wie möglich wieder gutzumachen. Das beste Beispiel dafür ist die Paul-Klee-Zeichnung ,Angelus Novus‘, die erst Benjamin, dann Adorno, später Scholem gehörte. Adorno, in dessen Wohnung das Bild nach Benjamins Tod hing, schrieb 1961 an dessen Sohn, dass das Bild offiziell diesem gehöre, er jedoch bitte, das Bild bis zu seinem Tod behalten zu dürfen. Stefan Benjamin hat diesem Vorschlag zugestimmt. In Österreich wurde es sehr bürokratisch gemacht und so kam es zu einem Kampf anstatt zum Kompromiss. Man kann nicht sagen, ich restituiere diese oder jene Bilder, aber keinen Klimt oder Schiele.“

Am 24. November feiert Carl Djerassis neuestes Theaterstück „verrechnet!“, das er zusammen mit der Regisseurin Isabella Gregor geschrieben hat, am stadtTheater walfischgasse Premiere. Für Djerassi ist es die erste Uraufführung in deutscher Sprache. Djerassis Romane sind auf Deutsch in den Sammelbänden „Stammesgeheimnisse“ und „Aufgedeckte Geheimnisse“ erschienen, beide Verlag Haymon.
Weitere Infos unter www.djerassi.com

Carl Djerassi
Vier Juden auf dem Parnass.
Ein Gespräch. Benjamin-Adorno-Scholem-Schönberg.
Mit Fotokunst von Gabriele Seethaler.
Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner.
Haymon, Innsbruck 2008.
212 S., EUR 24,90

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