Momentaufnahmen einer ausgelöschten Welt

Herbert Exenberger dokumentiert die Geschichte der „kleinen“ wie „großen“ Leute der jüdischen Gemeinde in Simmering.
Eine Rezension von Sophie Lillie

„Juden in Simmering gibt’s nur am Zentralfriedhof“ – seit Jahrzehnten bemüht sich Herbert Exenberger diesem Vorurteil entgegenzutreten. Der endgültige, beeindruckende Beweis liegt nun in Form seines im Mandelbaum Verlag im Frühjahr dieses Jahres erschienenen Buches „Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer“ vor.

Exenbergers facetten- und materialreiche Geschichte der Juden in Simmering von 1848 bis 1945 erzählt von Gewerbetreibenden und Unternehmern; von böhmischen Händlern und Arbeitern, die infolge der Industrialisierung nach Simmering zogen; von Branntweinschenkern, die ihre Waren in der Vorstadt aufgrund der wegfallenden „Verzehrsteuer“ günstiger als in der Stadt anbieten konnten; von Hausierern, Handwerkern, Pferdehändlern; und schließlich von Tramwaybediensteten und Omnibus- Kondukteuren.

Zu den hervorragendsten Proponenten der Simmeringer Gemeinde gehörte der Weinhändler Siegfried Kauders, ein Enkel des berühmten Eisenstädter Weingroßhändlers Leopold Wolf, der sich 1882 in Simmering niederließ. Neben seinen wirtschaftlichen Erfolgen war Kauders als Wohltäter bekannt: er führte den Titel Kaiserlicher Rat, war Träger des Franz-Josef-Ordens, Förderer des alten Jüdischen Museums in Wien, und diente jahrelang als Vorstandsmitglied und schließlich Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Ähnlich hohes Ansehen genoss der Dampfmühlenbesitzer und k. u. k. Hoflieferant Friedrich Vogel, der es gar zu einem Sitz im Simmeringer Gemeindeausschuss brachte.

Es ist Exenbergers besonderer Verdienst, sich gleichermaßen den „großen“ wie den „kleinen“ Persönlichkeiten zu widmen. Unter den vielen Porträtierten findet sich der Fotograf Anschel Feuchtbaum, der ein erfolgreiches Fotoatelier auf der Simmeringer Hauptstraße betrieb und sich im Fußballverein „Erster Simmeringer Sportklub“ engagierte. Nazi-Schergen zwangen Feuchtbaum, mit anderen Leidgenossen, im März 1938 eine Planke von antinazistischen Parolen zu „reinigen“. Er wurde in die KZ Dachau und Buchenwald verschleppt, 1939 aus der Haft entlassen und schaffte es, in Frankreich unterzutauchen. Er kehrte nach Kriegsende nach Simmering zurück. An Feuchtbaums Frau Ryfka und die kleine Tochter Toska, die 1942 in Izbiza ermordeten wurden, erinnert heute eine Gedenktafel an ihrem ehemaligen Wohnhaus, dem Friedrich-Engels-Hof.

Der Anonymität entreißt Exenberger auch die in entsetzlicher Armut lebenden Bewohner des Barackenlagers Hasenleiten. Er beschreibt das Schicksal des Schneiders Michael Schwarz, dessen nichtjüdische Frau die Familie bei der Gestapo denunzierte, um eine neue Partnerschaft mit einem Nationalsozialisten einzugehen. Die sieben gemeinsamen Kinder überlebten die Deportation nach Theresienstadt, Michael Schwarz wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Gleichzeitig berichtet Exenberger von Widerstand, Flucht und Exil, und von Simmeringer Vertriebenen, wie etwa Alfred Lane (Löwy), die 1945 als Angehörige der alliierten Armeen für die Befreiung Österreichs kämpften. Der Barbarei setzt Exenberger Zivilcourage und lebensrettende Solidarität entgegen. Mutigen Männern und Frauen wie Gustav Schödl und Johanna Dienstl, die die Jüdin Rosa Spera drei Jahre hindurch als „U-Boot“ versteckten und ihre Lebensmittelrationen mit ihr teilten, setzt Exenberger ein würdiges Denkmal.

Nicht zu kurz kommt die Darstellung der religiösen Infrastruktur einer der großen jüdischen Gemeinden Wiens und deren sozialen Einrichtungen – etwa die 1882 gegründete Chewra Kadischa (Beerdigungsbruderschaft) oder den 1938 durch den NS-Stillhaltekommissar aufgelösten „Ersten Simmeringer Israelitischen Frauen-Wohltätigkeitsverein“. Exenberger erzählt lebhaft von zwei konkurrierenden Bethausvereinen, deren Rivalität das religiöse Leben in Simmering lange prägten: die 1863 gegründete „Israelitische Betgenossenschaft“ und der 1885 gegründete Betverein „Ahawas Re’im“ („Nächstenliebe“). Allein die Gründung des „Israelitischen Tempelvereins Simmering“ im Jahr 1891 konnte die Spaltung der Gemeinde verhindern. Dessen vorrangigstes Ziel war die Errichtung der von Jakob Gartner entworfenen Synagoge in der Simmeringer Braunhubergasse, die schließlich 1899 ihrer Bestimmung übergeben werden konnte.

Ein eigenes Kapitel widmet Exenberger der Gründung eines jüdischen Friedhofs am 1. Tor des Zentralfriedhofs 1879, dessen Bedarf an Friedshofsdienern, Leichenwächtern, Steinmetzen und Grabschmückern für die Simmeringer Gemeinde eine wesentliche Erweiterung ihrer Mitglieder bedeutete. Mit der Eröffnung eines zusätzlichen Areals am Tor IV im Jahr 1928 hoffte die Kultusgemeinde Wien, ausreichenden Platz für „circa 40 Jahre“ zu schaffen. Für jüdische Jugendliche im Nationalsozialismus war das freie Areal des Friedhofs Zufluchtsort und Spielplatz, eine scheinbare Oase, wo Juden willkommen waren – die toten wie die lebendigen.

Den einzelnen Kapiteln fügt Exenberger umfassende Namenslisten bei, die Zeugnis über die mit Simmering verbundenen Juden geben: für die Gemeinde tätige Rabbiner und Kantoren; Unternehmer und Gewerbetreibende, deren Betriebe von den Nationalsozialisten „arisiert“ wurden; jüdische Kinder, die aus ihren Schulen verwiesen wurden; aus Gemeindebauten vertriebene Familien; Simmeringer Häftlinge im KZ Dachau; ungarische Zwangsarbeiter im Gaswerk Simmering und in den Simmeringer Saurer-Werken. Exenberger vergleicht diese Erinnerungsarbeit mit den jüdischen Memor-Büchern, die Wissen über zerstörte jüdische Gemeinden bewahren. „Gleich dem kleinen Häuflein der Makkabäer“ – ein Zitat aus der Festrede anlässlich der feierlichen Einweihung des Simmeringer Tempels – ist das eindrucksvolle Ergebnis zwanzigjähriger Recherche zur jüdischen Geschichte Simmerings. Akribisch und detailgetreu spürte Exenberger einzelnen Lebensgeschichten nach und trug Fundstücke aus Archiven in Österreich, Israel, Deutschland, Belgien und Russland zusammen. Neben den ausführlichen biographischen Abrissen sind es die zahlreichen Fotos, die dieses Buch besonders auszeichnen. Elegante Familienporträts, Geschäftsportale mit aufgereihter Belegschaft, Straßenzüge aus der Simmeringer Vorstadt, die Simmeringer Synagoge, umgeben von Zinshäusern und Industriebauten – all diese sind sehr persönliche, berührende und bedrückende Momentaufnahmen einer ausgelöschten Welt.

Die Vielzahl an Fotos aus Familienbesitz und erzählten Erinnerungen zeugen von der engen, innigen Beziehung des Autors zu den Nachkommen der vertriebenen Simmeringer Gemeinde. Über viele Jahre suchte Exenberger nach Überlebenden, bemühte sich um deren Einladung durch den Jewish Welcome Service und organisierte persönliche Zusammenkünfte in Simmering. Den Kontakt zu „seinen“ vertriebenen Simmeringer Juden in aller Welt hält Exenberger mittels eines Rundschreibens, das pünktlich zum Jahreswechsel Neuigkeiten aus der alten in die neue Heimat trägt. Obwohl Exenberger sich und seine Frau Sigrid schmunzelnd als „eher statische Menschen“ beschreibt, unternahm das Ehepaar Forschungsreisen nach Israel und in die USA. Von den ehemaligen Simmeringern, die sie dort besuchten, seien sie „fast wie Familienangehörige“ aufgenommen worden und es entstanden dauerhafte Freundschaften, etwa mit Batja Golan, der Nichte des Arbeiterdichters Adolf Unger, oder mit Hannah Ellenbogen, der in New Jersey lebenden Enkelin von Siegfried Kauders. Die jüdische Geschichte Simmerings dem Vergessen zu entreißen, so lautet das Leitbild Exenbergers.

Er kommt diesem nicht nur durch seine publizistische Tätigkeit nach, sondern durch seine unermüdliche Arbeit im Rahmen des Bezirksmuseums Simmering, der Erwachsenenbildung und der Jugendarbeit. Als die Bewohner des Genossenschaftsbaus, der heute an der Stelle des im Novemberpogrom zerstörten Simmeringer Tempels steht, 1988 die Anbringung einer Gedenktafel verhinderten, organisierten die Volkshochschulen Simmering und Landstraße eine zeitgeschichtliche Wanderung mit mobilen Gedenktafeln. Der Effekt dieser und ähnlicher Aktionen ist nachhaltig spürbar. 2008 erfolgte die Enthüllung einer Gedenktafel im Park gegenüber der ehemaligen Synagoge unter Mitwirkung aller Religionsvertreter und reger Anteilnahme der Anrainer. „Nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen ist und bleibt die wahre Gefahr“, so Exenberger. Herbert Exenberger, Jahrgang 1943, ist in Simmering geboren und aufgewachsen.

Nach seiner Elektromechanikerlehre arbeitete Exenberger vorerst als Facharbeiter bei den Wiener Stadtwerken. Er absolvierte im zweiten Bildungsweg die Ausbildung zum Volksbibliothekar, und leitete eine Zweigstelle der Wiener Städtischen Büchereien. Gleichzeitig begann seine zwischenzeitlich fünf Jahrzehnte währende ehrenamtliche Tätigkeit für das Bezirksmuseum Simmering, für das er 1967, geprägt durch die Affäre Borodajkewycz, eine Ausstellung über Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus organisierte.

Von 1970 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2003 arbeitete Exenberger als Bibliothekar im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, und ist untrennbar mit dessen Aufbau verbunden. Zu Exenbergers umfangreichen Publikationen zählen das 1996, mit Johann Koss und Brigitte Ungar-Klein herausgegebene Buch „Kündigungsgrund Nichtarier“ über die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten sowie die als Standardwerk geltende Dokumentation „Gedenken und Mahnen in Wien 1934–1945“, eine Gemeinschaftsarbeit mit Heinz Arnberger und Claudia Kuretsidis- Haider. Exenberger wurde 1983 mit dem Österreichischen Staatspreis für Geschichte der Arbeiterbewegung und 1991 mit dem Willy und Helga Verkauf-Verlon Preis für antifaschistische österreichische Publizistik ausgezeichnet; 2003 erhielt er das Goldene Verdienstzeichen des Landes Wien.

Herbert Exenberger
GLEICH DEM KLEINEN HÄUFLEIN DER MAKKABÄER.

Die jüdische Gemeinde in Simmering 1848 bis 1945.
Wien, Mandelbaum Verlag, 2009.
€ 24,90
ISBN 978-3-85476-292-8

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