Mit Gott würfelt man nicht

Warum kommen ein katholischer und ein jüdischer Gelehrte zu unterschiedlichen Antworten, wenn sie darüber nachdenken, ob man das Unendliche mathematisch fassen kann?
Ein Selbstinterview von und mit Rudolf Taschner

„Rechnen mit Gott und der Welt“, so betiteln Sie, Herr Professor Taschner, Ihr neues Buch. Wie kann man mit Gott rechnen?

Sicher nicht in dem Sinn, dass man eine Rechenaufgabe löst, sondern im anderen Sinn des Wortes „rechnen“: Die Redewendungen „Ich rechne mit dir“ oder gar „Ich zähle auf dich“ meinen ein „Rechnen“, welches mit Hoffnung und Erwartung verbunden ist.

Wissen Sie, ob es Gott, mit dem Sie rechnen, überhaupt gibt?

Hierauf antworte ich mit der Gegenfrage: Was bedeutet es, wenn Sie „es gibt“ sagen? „Gibt es“ zum Beispiel unendlich viele Primzahlen?

Dafür bin ich wahrlich nicht zuständig. Ich sehe es einfacher: Den Kaffee in der Tasse vor Ihnen, den gibt es sicher.

(Taschner trinkt den Kaffee aus seiner Tasse): Wirklich sicher?

Gut, das war jetzt von Ihrer Seite ein wenig unfair …

Überhaupt nicht! Denn damit ist eines der ersten Probleme angesprochen, denen sich die Philosophie stellte: Auf der einen Seite sind wir einer Welt des Wandels ausgeliefert, der Welt des Heraklit, der uns lehrt, niemand steige zweimal in den gleichen Fluss. Denn beim zweiten Mal fließt anderes Wasser vorbei, und man selbst ist ein anderer geworden. Auf der anderen Seite pochen wir darauf, dass dasjenige, von dessen Existenz wir sprechen, Bestand besitzt. Parmenides betont es: Aus nichts kann nicht plötzlich etwas entstehen, und was existiert, kann nicht plötzlich vernichtet werden. Wenn man etwas mit dem Symbol A bezeichnet, und ein paar Zeilen später das gleiche Symbol A anschreibt, will man gesichert haben, dass das zweite A das Gleiche symbolisiert wie das erste A. Dies ist das berühmte „Prinzip der Gleichheit“: A = A.

Das klingt abstrakt, weltabgehoben.

Ist es aber nicht. Denn nur wegen des Prinzips der Gleichheit darf man John Demjanjuk vor Gericht stellen, weil man ihm vorwirft, der Gleiche zu sein wie jener Aufseher in Sobibor, der an der Ermordung Zehntausender mitgewirkt haben soll. Obwohl keine einzige Körperzelle des heutigen John Demjanjuk im damaligen Iwan Demjanjuk vorhanden war.

Ist die Grenze zwischen Wandel und Bestand fließend?

Vielleicht. Eines ist jedoch gewiss: Für die Logik, für den Versuch, uns in der Welt denkend zurechtzufinden, brauchen wir das Prinzip der Gleichheit A = A wie den letzten Bissen Brot. Ohne diese einfachste aller Formeln käme die Mathematik nicht vom Fleck. Darum sind die Zahlen die Bausteine der Mathematik. Denn sie sind das Einzige, das unumschränkt dem Prinzip der Gleichheit gehorcht. Steine zerbrechen, Sterne explodieren in Jahrmillionen, nur die Zahlen haben in alle Ewigkeit Bestand: Sieben bleibt immer sieben, 313 ist für alle Zeiten eine Primzahl.

Wenn Zahlen so starr und unveränderlich sind, könnte man sie fast „tot“ nennen.

Gewiss. Insofern Lebendiges an Wandel, Bewegung, Spontaneität geknüpft ist, gibt es eigentlich nichts „Toteres“ als Zahlen.

Mathematik als eine Art abstrakte Pathologie?

So darf man es nicht sehen. Denn die Zahlen sind bloß die Bausteine der Mathematik, nicht mehr. Rechnen hat ja mit Mathematik so viel zu tun wie Tonleitern mit einer Mozartsonate. Dass sechs mal sieben 42 ergibt, ist so banal, dass sich darüber nachzudenken gar nicht lohnt. Rechnen ist wichtig für Buchhalter und Finanzprüfer, und Pythagoras, der Erfinder der Mathematik, verachtete sie und alle Händler, weil diese die Zahlen nur vordergründig betrachten und nicht das erkennen, was sie im Hintergrund verbergen.

Und das wäre?

Zahlen sind Sprossen einer Leiter, einer Jakobsleiter, die auf das Unendliche hinweist. Denn das Wesen des Zählens besteht darin, dass es mit Eins anhebt, dass es mit Hinzufügung der Eins von jeder Zahl zur nächsten führt, und dass es – dies ist das Wesentliche – dabei nie zu Ende kommt. Mathematik ist nicht die Wissenschaft der Zahlen, Mathematik ist die Wissenschaft vom Unendlichen – insoweit dieses Unendliche mit Hilfe der Zahlen erahnt werden kann.

Unendlich selbst ist also keine Zahl?

Nein. Georg Cantor, Mathematiker an der Wende zum 20. Jahrhundert, entwickelte zwar eine Mengentheorie, mit der er den Begriff „unendlich“ so zähmen zu können glaubte, dass man mit ihm wie mit einer Zahl rechnen könne. Aber Cantors Widersacher, Leopold Kronecker, verwarf es als puren Unsinn. Und ich muss zugeben, dass ich zu den wenigen gehöre, die auf Kroneckers Seite stehen. Dabei erblickte, nebenbei bemerkt, der fromme Christ Cantor – schon sein Vater war streng evangelisch und wollte nichts von vermuteten sephardischen Wurzeln wissen – in seiner Mengentheorie eine Art Theologie. Kronecker hingegen entstammte einer gebildeten jüdischen Kaufmannsfamilie und wechselte erst kurz vor seinem Tod zum christlichen Glauben.

Biographische Details haben Einfluss auf die Mathematik?

Mag sein. Cantor sah das Unendliche wie den christlichen Gott, von dem man sich ein Bild machen kann, der sogar als Mensch auf Erden gewandelt sein soll. Die jüdische Sicht ist bekanntlich diametral anders.

Doch die meisten Mathematiker folgen Cantors Spuren?

Es gibt prominente Ausnahmen. Hermann Weyl plädierte zum Beispiel dafür, „unendlich“ bloß als einen Grenzbegriff zu betrachten, der sich dem Zugriff menschlicher Wissbegier prinzipiell entzieht. Wie es übrigens schon die Mathematiker des antiken Griechenlands hielten, was man am Beweis des Euklid, wonach es unendlich viele Primzahlen gibt, erkennt.

Sie lassen nicht von den Primzahlen ab!

Einfach deshalb, weil dieser Beweis so einsichtig und lehrreich ist: Stellen Sie sich vor, jemand präsentierte eine lange, aber endliche Liste von Primzahlen. Egal, wie die Liste lautet, immer können Sie behaupten, dass sicher nicht alle Primzahlen in ihr aufgezählt sind. Denn wenn Sie alle Primzahlen der Liste miteinander multiplizieren – dabei entsteht ein Zahlengigant – und zu diesem Zahlengiganten Eins hinzufügen, erhalten Sie eine Zahl, die durch keine der Primzahlen der Liste teilbar ist. Denn dividiert man den Zahlengiganten plus Eins durch eine Primzahl der Liste, bleibt immer Eins als Rest: Die Division geht nicht auf. Und schon wissen Sie, dass die Liste nicht alle Primzahlen enthalten kann. Denn entweder ist der Zahlengigant plus Eins eine Primzahl, die nicht in der Liste vorkommt, oder aber er ist durch Primzahlen teilbar, die nicht in der Liste aufscheinen.

Sie haben im Beweis gar nicht explizit von unendlich vielen Primzahlen gesprochen.

Eben deshalb ist zu fragen, was mit der Behauptung gemeint sei, es „gebe“ unendlich viele Primzahlen. Sicher „gibt“ es diese nicht in dem Sinn, als ob sie alle gleichsam unter einer Decke verborgen seien, Euklid die Decke wegzöge und mit dem Wort „Voilà“ auf sie zeigen könne. Sondern nur in dem Sinn, dass Euklid beweist: Jede Liste von endlich vielen Primzahlen ist sicher unvollständig.

Und was lässt sich daraus folgern?

Dass das Unendliche uns mit einer Idee konfrontiert, die weit über die kalte Logik des Parmenides hinausreicht, die, wie ich in einem Kapitel des Buches beschreibe, die Bedingung der Möglichkeit des Lebendigen in sich trägt. Vielleicht sogar vom Saum des Ewigen ahnen lässt.

Das Buch zum Thema:
Rudolf Taschner:
Rechnen mit Gott und der Welt.
Mit einem Bildteil von Erich Lessing.
Ecowin-Verlag.
240 Seiten, 22 Euro.

„Und ob Gott nun würfelt oder doch nur rechnet – wie beiläufig, aber punktgenau streift Taschner auch die tiefen Fragen der Mathematik (…).“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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