Man kann nicht ewig auf Bajonetten sitzen

Avi Primor war lange Israels Vertreter in Deutschland, heute leitet er ein Universitätsinstitut, an dem Israelis, Palästinenser und Araber gemeinsam studieren. NU erklärt er, warum er glaubt, dass der Antisemitismus zurückgeht.
Von Danielle Spera (Interview) und Peter Rigaud (Fotos)

NU: Sie waren viele Jahre Botschafter in Deutschland, haben Bücher über die Beziehungen zu Europa geschrieben, warum ist Europa so israelkritisch?

Primor: Ich glaube, dass sich Europa nach dem Zweiten Weltkrieg verändert hat. Europa hat weniger Verständnis für Nationalismus und Kriege. Europa ist humanistisch geworden und liberal. Im Nahen Osten leben wir noch in einem anderen Zeitalter. Wir müssen noch um unsere Existenz kämpfen. Wir sind eigentlich das einzige Land weltweit, dessen Existenz ständig bedroht wird. Welches andere Land wird ständig von jemandem wie Irans Präsident Mahmoud Ahmadinejad mit der Zerstörung bedroht? Wir leben also in einer völlig anderen Atmosphäre, in einem Rahmen, wo andere Kriterien und Werte existieren. Europa ist schon viel weiter.

Das würde aber auch auf die USA zutreffen, dort ist die Stimmung gegenüber Israel jedoch ganz anders.

Da gibt es schon einen Unterschied. Die USA sind viel nationalistischer eingestellt als Europa. Dort hisst man die Flagge, singt die Nationalhymne, die USA führen Kriege, was Europa nicht mehr tut. Andererseits ändert sich auch dort die Stimmung gegenüber Israel. Das zeigen Meinungsumfragen. Denken Sie nur an die US-Universitäten, da wird Israel zunehmend kritisch beurteilt. Das hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Allerdings muss ich hinzufügen, wenn dort die israelische Politik kritisiert wird, stellt man damit nicht automatisch die Existenz Israels in Frage.

Die Israelkritik in Europa heißt allerdings im Umkehrschluss, dass man – meistens – auf Seiten der Palästinenser steht, egal was passiert.

Das stimmt, aber die Frage ist warum? Die „normale“ Erklärung ist, dass die Palästinenser als „underdogs“ gesehen werden. Sie werden als die Armen, die Leidenden gesehen, die unter Besatzung und im Elend leben müssen. Daher muss man sie unterstützen. Die Juden gelten nicht mehr als arm und verfolgt, sie sind doch jetzt etabliert und stark, also muss man den Schwächeren unterstützen. Die Erklärung geht aber weit darüber hinaus. Wir Juden haben das Glück oder das Unglück – zumindest moralisch und historisch – der europäischen Familie anzugehören, daher werden wir nach strengeren Kriterien gemessen. Ein Vater ist auch strenger zum eigenen Kind als zu dem des Nachbarn. Das ist gut, gleichzeitig aber auch schlecht für uns.

Ist das auch der Grund für den UNO Bericht über den Gaza-Einsatz, in dem Israel massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, während die Hamas sehr pflegeleicht behandelt wird?

Den Bericht haben Länder mitverfasst, die sehr sehr weit von der Einhaltung von Menschenrechten entfernt sind. Wir können es nicht erlauben, dass so ein Gremium sich als Richter aufspielt. Dennoch hätte Israel den Goldstone-Ausschuss (Richard Goldstone ist der Verfasser des umstrittenen UNO-Berichtes, Anm.) nicht boykottieren sollen, das können wir uns nicht leisten. Es gibt das Sprichwort, dass die Abwesenden nicht im Recht sind, denn damit überlässt man dem Gegner das Feld. Es geht meiner Meinung nach gar nicht um das Argument, dass wir so lange nicht auf den Beschuss durch die Hamas reagiert haben und uns nicht verteidigt haben, das ist nicht einmal in der arabischen Welt umstritten. Umstritten ist die Methode, die wir angewendet haben. Denn die Terroristen haben sich inmitten von Zivilisten versteckt. Das heißt, die israelische Armee hätte jedes Haus durchkämmen müssen, um die Kämpfer zu finden – und das hätte für die israelischen Soldaten einen hohen Preis bedeutet. Das wollte Israel nicht, es wollte seine Soldaten schützen. Wer ist denn für die Zivilbevölkerung in Gaza verantwortlich? Eigentlich diejenigen, die sich hochbewaffnet in ihrer Mitte verstecken und von dort aus Angriffe starten. Aber auch die Zivilbevölkerung, die das zulässt. Hat man damit übertrieben? Das sollte man untersuchen. Der Goldstone-Bericht ist jedenfalls alles andere als ausgewogen.

Sie haben in der letzten Zeit immer wieder gemeint, dass der Antisemitismus zurückgehen würde. Was macht Sie so sicher?

Meine Recherchen gehen ausschließlich auf amerikanisch-jüdische Organisationen zurück. Ich habe das bewusst so gewählt, um das Argument zu entkräften, na ja, das sind ja deutsche Demoskopen, die sind nicht ehrlich. Die Führer dieser jüdischen Organisationen sagen zwar immer, dass der Antisemitismus steigt, ihre Meinungsumfragen ergeben allerdings das genaue Gegenteil. Ich behaupte, dass der Antisemitismus in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ständig zurückgeht, nicht rasant, aber doch. Ich nehme Meinungsumfragen von vor zwanzig, dreißig Jahren und vergleiche sie. Da gibt es auf die Frage „Wollen Sie einen jüdischen Nachbarn, oder jüdischen Ehepartner für Ihr Kind“ andere Antworten. Da sieht man, dass die Meinung sich ändert.

Warum sagt man dann, dass der Antisemitismus steigt?

Eines muss ganz klar sein. Ich behaupte nicht, dass es den Antisemitismus nicht gibt. Es gibt ihn, er ist aber geringer geworden. Ein Beispiel: In Frankreich, in den 1950er Jahren gab es die Meinungsumfrage, ob man ein jüdisches Staatsoberhaupt akzeptieren würde. Da waren 50 Prozent dafür und 48 dagegen, mit 2 Prozent Enthaltungen – man hat damals gescherzt, die zwei Prozent seien die französischen Juden gewesen. Vor 10 Jahren hat man die Frage wiederholt, da haben 87 Prozent gemeint, sie würden einen jüdischen Präsidenten akzeptieren. 11 Prozent waren dagegen, da sagen die Demoskopen, das sind die französischen Araber. Es gibt einen neuen Antisemitismus, den islamischen, der auch gewalttätig ist. Er hat mit dem Hintergrund der Zuwanderer zu tun und ist vom Nahostkonflikt beflügelt. Die arabische Bevölkerung in Europa ist mit den Palästinensern solidarisch. Die Tatsache, dass sie nicht nur neue Antisemiten sind, sondern auch Gewalttäter, löst ein Gefühl aus, dass es für Juden wieder gefährlich wird – und dass da eine Stimmung hochkommt, die man jahrzehntelang nicht mehr kannte.

Die EU-Agentur für Grundrechte hat erhoben, dass nach dem Gaza-Einsatz der Antisemitismus sogar zugenommen hat.

Die Kritik an Israel ist ein wichtiger Punkt. Klar ist, dass sich die „echten“ Antisemiten damit tarnen. Sie sagen, wir sind keine Antisemiten, wir kritisieren Israel sachlich. Tatsächlich sind die meisten Kritiker der israelischen Politik keine Antisemiten, die meinen das wirklich so. Wir müssen uns mit dieser Kritik auseinandersetzen, die Thesen der Kritiker mit den richtigen Argumenten widerlegen und nicht sofort jeden Kritiker als Antisemiten abstempeln. Außerdem hat sich das Bewusstsein, die Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus erhöht. Ich weiß nicht, wie es in den 1920er Jahren mit dem Antisemitismus war, ich glaube, die meisten sind erst durch die spätere Gehirnwäsche zu Antisemiten geworden. Aber selbst wenn die Mehrheit damals nicht antisemitisch war, war sie demgegenüber gleichgültig. Heute reagieren die Menschen empfindlicher, sind sensibilisiert und die Medien berichten darüber, auch über den kleinsten Vorfall. Das löst ein Gefühl aus, dass es überall Antisemitismus gibt, die Meinungsumfragen zeigen aber das Gegenteil.

Die österreichische Situation ist vielleicht mit dem, was Sie gerade gesagt haben, nicht vergleichbar. Hier gibt es sehr oft den Reflex, hinter dem oder jenem steckt die „Ostküste“, oder der Mossad wie etwa bei Haiders Unfall, oder auch Vorfälle wie die antisemitischen Äußerungen des Vorarlberger FPÖ-Chefs, nach denen die FPÖ in Hohenems 38 Prozent der Stimmen bekommen hat.

Glauben Sie wirklich, dass das der Grund ist, weshalb die Leute die FPÖ wählen? Manche vielleicht, aber die FPÖ ist eben die einzige Möglichkeit für Wähler, die nicht die Regierungsparteien oder die Grünen wählen wollen, um ihre Opposition auszudrücken. Welche Rolle dabei der Antisemitismus spielt, das kann ich schwer einschätzen. Verschwunden ist der Antisemitismus bestimmt nicht, er ist meiner Meinung nach nur geringer geworden. Ein Haider hat sich bemüht zu beweisen, dass er kein Antisemit ist, er hat Kontakte zu Israel gesucht. Vermutlich war er ein Antisemit, aber warum wollte er unbedingt beweisen, dass er keiner ist? Le Pen macht das Gleiche.

Das haben manche Antisemiten offenbar an sich, sie wollen „gekaschert“ werden.

Wem wollen die Politiker da etwas beweisen? Bei Adolf Hitler war es klar, er hätte nicht gesagt, dass er kein Antisemit ist. Heute ist das anders, Politiker mit antisemitischen Tendenzen lavieren herum. Sie stehen nicht dazu, weil sie wissen, dass das im Grunde bei den Wählern nicht mehr ankommt.

Das bringt uns gleich zum nächsten Antisemiten, Mahmoud Ahmadinejad. Sie sprechen sich gegen Sanktionen gegen den Iran aus. Warum eigentlich?

Die Sanktionen, die man jetzt in Betracht zieht, spielen nur dem Regime in die Hände. Ich bin für Sanktionen, aber für effiziente, wirksame Sanktionen. Sanktionen gelingen meistens nicht, weil nicht alle Länder mitmachen. Ich setze die größten Hoffnungen auf eine Wende im Iran, vor der Revolution 1979 gab es eine ähnliche Entwicklung wie heute. Damals wollten wir das Schah- Regime gerne weiter an der Macht sehen, denn wir waren mit ihm verbündet. Jetzt muss man die Opposition um jeden Preis unterstützen, allerdings mit Fingerspitzengefühl und hinter den Kulissen, sodass Ahmadinejad nicht sagen kann, schaut her, das „Ausland“ will uns stürzen, das wäre kontraproduktiv.

Das ist allerdings ein langfristiges Projekt, bis ein Regimewechsel herbeigeführt werden kann, könnte Teheran längst die Atombombe haben. Wie soll man den Iran Ihrer Meinung nach stoppen?

Mit Gewalt sicher nicht. Denn die Situation im Iran ist anders als im Irak, wo Israel 1982 einen Reaktor bombardiert hat und damit das irakische Atomprogramm gestoppt hat. Im Iran sind die Anlagen unterirdisch und weit verstreut. Ein Krieg mit dem Iran wäre sehr gefährlich für Israel, aber auch für die Welt. Der Iran würde ja auch die arabischen Staaten angreifen, die mit den USA befreundet sind und deren Erdölanlagen zerstören. Das würde die Welt in eine ungeahnte Krise führen. Eine Lösung ist, dass man massiv in Alternativenergie investiert, um nicht so vom arabischen Erdöl abhängig zu sein. Für Israel besteht die Gefahr heute nicht in einer Armee, die einen Krieg beginnt. Die wahre Gefahr sind die modernen Raketen aus dem Iran, aus Syrien, aus dem Nordlibanon, denn dieser Krieg würde die israelischen Städte mitten ins Herz treffen.

Wie kann denn der Friedensprozess weitergehen? In Gaza sitzt die Hamas fest im Sattel, im Westjordanland die Fatah, beide sind zerstritten, Israel hat keinen wirklichen Ansprechpartner.

Wir können nur mit der Fatah sprechen, da verbessert sich die Zusammenarbeit, denn wir haben eine große gemeinsame Sorge, und das ist die Hamas. Das heißt mit der Fatah haben wir wirklich bessere Beziehungen entwickelt. Mittlerweile hat sich in den von der Fatah regierten Gebieten auch das Leben für die Palästinenser deutlich gebessert. Die Friedensprojekte haben sich im Lauf der Jahre immer wiederholt. Nach Ausbruch der 2. Intifada 2000 kam Clintons Plan, dann der Saudi-Plan, dann den Fahrplan des Nahostquartetts, den Plan der palästinensischen Häftlinge, den Olmert-Plan, die Genfer Vereinbarung der Zivilgesellschaft – also diese vielen Pläne, allein in den letzten neun Jahren, haben so viele Vorschläge erstellt. Die Frage ist, warum man das nicht in die Tat umsetzen kann. Die Bevölkerung auf beiden Seiten will Frieden.

Ein Frieden scheint aber in weiter Ferne …

Für Israel ist das Thema der eigenen Sicherheit der Kernpunkt. Wir haben Gebiete an Ägypten zurückgegeben, weil wir damals einen Ansprechpartner hatten, dem wir vollkommen vertrauen konnten, das war der ägyptische Präsident Sadat. Oder auch mit König Hussein von Jordanien. Aber was ist jetzt passiert? Wir haben den Gaza-Streifen vollkommen geräumt, wir haben die wirtschaftlichen Anlagen dort an die Palästinenser übergeben, was haben wir dafür bekommen? Täglichen Raketenbeschuss. Wir haben dort keinen verlässlichen Partner, dem wir vertrauen können. Wenn wir uns vollkommen aus dem Westjordanland zurückziehen, sind wir völlig ausgeliefert. Von dort aus kann man jedes Ziel in Israel erreichen, den Flughafen, die Hightechindustrie – und das wäre fatal. Wer kann uns Sicherheit gewährleisten, wenn wir das Westjordanland räumen? Wenn man den Israelis eine Garantie für ihre Sicherheit geben kann, dann ist ein Friedensvertrag so gut wie abgeschlossen. Palästinenserpräsident Abbas will das vielleicht, aber er kann ja nicht einmal für seine eigene Sicherheit garantieren, wie dann erst dafür, dass seine Landsleute Israel nicht angreifen?

Wie schaut es mit der US-Politik gegenüber Israel aus? Ist es jetzt mit Barack Obama leichter oder schwieriger als unter George Bush?

Bush hat die israelische Politik bedingungslos unterstützt, aber das war ja eigentlich auch unter seinen Vorgängern seit 1967 so. Es gab zwar sehr viele Lippenbekenntnisse, aber die Unterstützung war da. Wenn wir jetzt aber die Situation mit den Palästinensern verändern wollen, ist Obama sicher besser. Doch wir wissen noch nicht, wie durchschlagskräftig Obama ist. Wenn er mit seiner Gesundheitsreform scheitert, dann wird er mit allem scheitern.

Wie wird Israel in 60 Jahren ausschauen?

Napoleon hat gesagt, mit Bajonetten kann man alles erreichen, man kann nur nicht auf ihnen sitzen bleiben. Die Frage ist, ob wir auf den Bajonetten sitzen bleiben wollen. Wenn das so ist, dann fürchte ich um unsere Sicherheit. Nehmen Sie nur die Bevölkerungsentwicklung. Bei der Gründung des Staates Israel gab es 120 Millionen Araber, heute sind es 450 Millionen. Im Jahr 2050 wird es genau das Doppelte sein. Israel wird dann vielleicht 10 Millionen Einwohner haben. Die Landfläche, auf der wir alle leben, wird auf jeden Fall nicht wachsen. Wir müssen also nicht nur einen Weg finden, miteinander in Frieden zu leben – für uns, damit wir existieren können. Wir müssen beginnen, die Vorurteile abzubauen, auch auf zwischenmenschlicher Ebene, daher habe ich die Idee mit dem gemeinsamen Studium von israelischen, palästinensischen und arabischen Jugendlichen aufgegriffen. Wir haben viele Gemeinsamkeiten, wir sind mit den Palästinensern verflochten und leben nebeneinander – aber Rücken an Rücken. Wir wissen so gut wie gar nichts von den Palästinensern, die meisten Israelis interessieren sich auch nicht dafür, auch nicht für die Gebiete oder die Siedlungen. Bei den Palästinensern ist es genauso, sie interessieren sich für uns nicht. So entstehen aber Vorurteile. Unsere Regierungen auf beiden Seiten sind zu schwach, wir brauchen dafür internationale Unterstützung. Denn: Man kann nicht ewig auf Bajonetten sitzen bleiben.

Sind Sie zufrieden mit der derzeitigen israelischen Regierung?

Ich habe mich schon vor der Nominierung öffentlich gegen Außenminister Avigdor Lieberman geäußert, alle meine Befürchtungen sind eingetreten. Der Mann ist eine große Belastung für Israel. Nicht weil er nicht klug ist, sondern weil er seine Linie für seine Wähler braucht. Aber er versteht zumindest, dass er sich nicht wie ein „normaler“ Außenminister in die Politik einmischen kann, hält sich ein bisschen zurück und überlässt die Arbeit Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.

Wieso gehen Sie eigentlich nicht in die Politik? Würde Sie das nicht reizen?

Um Politiker zu sein, muss man in die Parteipolitik gehen. Das kann und will ich nicht. Außerdem bin ich viel zu alt. Reizen würde es mich schon – aber in der echten Politik und nicht in der Parteipolitik. Das kann man aber nicht voneinander trennen – nicht in einer echten Demokratie.

Avraham „Avi“ Primor, geb. 1935 in Tel Aviv, stammt von niederländischdeutschen Eltern ab, langjähriger israelischer Botschafter in Deutschland, Vizepräsident der Universität Tel Aviv. Seit 2004 ist er an der Privatuniversität Interdisciplinary Center (IDC) Herzliya tätig, wo er eine Zusammenarbeit mit einer palästinensischen und einer jordanischen Universität gegründet hat und leitet. Anfang Jänner stellt Primor dieses Projekt im Rahmen eines großen Galaempfangs unter Anwesenheit des jordanischen Kronprinzen und der holländischen Königin in Wien vor.

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