Magneto, mein Antiheld!

Auch Shakespeare-Bühnenstar Ian McKellen hat sich der Rolle des Supermutanten mit dem moralischen Dilemma überzeugend angenommen. © Marvel/Twentieth Century Fox

Warum der jüdische Superschurke aus den „X-Men“ einer der interessantesten Marvel-Charaktere ist.

Von Frederek Musall

Die Nummer, die auf dem Unterarm von Max Eisenhardt alias Magnus alias Erik Lehnsherr alias Magneto eintätowiert ist, lautet 214782. Sie repräsentiert eine Vergangenheit, die sein ganzes Handeln bestimmt; und einen Ort, dem er nicht zu entkommen vermag: Auschwitz!Magneto ist eine Comicfigur des Marvel-Universums, je nach Perspektive und Handlungsbogen Superheld oder Superschurke, enger Freund und erbitterte Nemesis von Professor Charles Xavier, dem Gründer der X-Men.

Die X-Men sind Mutanten, ihre Superkräfte lassen sich auf genetische Mutationen zurückführen. Wenn man will, sind sie die nächste Stufe der Evolution. Doch aufgrund ihrer Mutantenkräfte, die sich manchmal auch durch physische Andersartigkeit manifestieren, werden sie gefürchtet, stigmatisiert und verfolgt.

Credo

Das X steht für das Kennzeichen, das sie als Mutanten ausweist. Und trotzdem fühlen sich die X-Men „verpflichtet, für ebenjene Welt zu kämpfen, die sie fürchtet und hasst“. So lautet ihr Credo. Magneto ist, wie in seinem Pseudonym anklingt, der Meister des Magnetismus, der aufgrund seiner Mutantenkräfte in der Lage ist, jegliches Metall zu manipulieren. Und er ist Auschwitz-Überlebender.

Die beiden Kino-Verfilmungen X-Men (2000) und X-Men: First Class (2011) – die gesamte Reihe ist mittlerweile auf ein Dutzend Filme angewachsen – beginnen mit fast identisch inszenierten Eröffnungssequenzen im Lager Auschwitz-Birkenau, wo der junge Magneto bei der Selektion von seinen Eltern getrennt wird und sich die Kräfte zum ersten Mal zeigen, indem er ein Metalltor verbiegt.

Die Verbindung von Superhelden und Auschwitz klingt irgendwie absurd, und bei einem Thema wie der Schoah die Grenze zwischen Fiktion und Realität zu verwischen, erweist sich schon ohne Bezugnahme auf Mutantenkräfte als schwierig. Verständlicherweise kann leicht der Eindruck entstehen, dass es sich um eine Trivialisierung der Schoah handelt. Superhelden-Comics sind schließlich Popkultur, die aufgrund ihrer Massentauglichkeit häufig immer noch im Verdacht stehen, trivial, schnelllebig und oberflächlich zu sein.

Empowerment

Dennoch: Als 1989 Art Spiegelmans preisgekrönte Graphic Novel Maus erschien, in der der Autor die Schoah-Erfahrungen seines Vaters Wladek Spiegelman verarbeitet, wurde deutlich, dass gerade das Medium Comic über besondere Erzählmittel verfügt, um eine Perspektivierung des Erzählten zum Ausdruck zu bringen.

Sicher kann man einwenden, dass Graphic Novels als Comics mit literarischem und künstlerischem Anspruch gelten, wohingegen Superhelden-Comics eine wilde Aneinanderreihung von Sprechblasen voller Phrasen wie „Kaboom!“ und „Bam!“ sind. Und doch, sind es nicht gerade Superhelden, die in all ihrer metaphorischen Ladung den Kampf für die gute und gerechte Sache repräsentieren?

Bereits Anfang der Vierzigerjahre ließen US-Comicautoren, die überwiegend jüdisch waren, ihre Helden wie Superman und Captain America gegen Hitler antreten, was der Autor Michael Chabon zum Gegenstand seines Romans The Amazing Adventures of Kavalier & Clay (2000) machte und dadurch verdeutlichte, wie dicht eigene politische Ohnmacht und Empowerment durch künstlerische Artikulation beieinander liegen können.

Menschheit

Magneto kämpfte nicht strahlend, heroisch und siegreich wie Superman gegen Hitler. Sein Kampf ist der eines Überlebenden, der mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mittel zu verhindern sucht, dass sich das ihm Widerfahrene wiederholt. Dafür ist er bereit, wenn nötig bis zum Äußersten zu gehen und der Menschheit, die Mutanten wie ihn hasst, den Krieg zu erklären.

Magneto ist ein personifiziertes „Nie wieder!“, weshalb ihn die israelische Zeitung Haaretz mit Rabbi Meir Kahane verglich, dem berüchtigten Begründer der Jewish Defense League. Ein Vergleich, der nicht ganz von der Hand zu weisen ist, denn sowohl Kahane als auch Magneto ziehen eine radikale und moralisch ambivalente Konsequenz aus diesem „Nie wieder!“ Nicht von ungefähr lautete Kahanes Manifest Never Again! (1971).

Ohne Zweifel ist Magneto eine der vielschichtigsten Comicfiguren, die das Marvel-Universum hervorgebracht hat: Schurke, Held, Antiheld – Magneto ist nicht leicht in eine Schublade zu stecken und hat im Laufe der Jahrzehnte viele Wandlungen durchlaufen.

Komplexität

Er unterscheidet sich damit von der Eindimensionalität und Oberflächlichkeit klassischer Superhelden wie Superman und Batman. Magnetos komplexe Hintergrundgeschichte geht auf Chris Claremont zurück, einen der profiliertesten Comicautoren der Gegenwart, der wie kaum ein anderer in den Jahren zwischen 1975 und 1991 das Marvel-Universum prägte und für die Erschaffung von Superhelden wie Rogue, Jubilee, Psylocke oder Gambit mitverantwortlich war.

Claremonts Handlungsbögen zeichneten sich durch ihre narrative Komplexität aus, ebenso wollte er seinen Geschöpfen eine nachvollziehbare Tiefe und Motivation verleihen. Im Fall von Magneto fragte sich Claremont, warum sich der vermeintliche Erzschurke mit einer solchen Radikalität für andere Mutanten einsetzt. „Ich versuche zu erörtern, was das tiefgreifendste und umwälzendste Ereignis unseres Jahrhunderts war, das man mit dem Meta-Konzept der X-Men als verfolgte Außenseiter verbinden könnte. Es konnte nur der Holocaust sein!“

Mit dieser schwierigen Wahl sah sich Claremont in einer doppelten Verantwortung: einerseits seinen Lesern gegenüber, andererseits auch gegenüber seiner Comicfigur, deren Glaubwürdigkeit er nicht durch eine leichtfertige Bezugnahme auf einschneidende historische Ereignisse trivialisieren und diskreditieren wollte.

Radikalität

Explizit thematisiert Claremont Magnetos Vergangenheit erstmals in The Uncanny X-Men #113 (1978), wo Magneto sein tiefes Misstrauen gegen die Menschheit mit seinem Schicksal als Überlebender begründet: „Ich habe ein Todeslager überlebt … Auschwitz … Ich werde nicht zusehen, wenn andere Menschen fürchten, was sie nicht verstehen, und zerstören, was sie fürchten.“

Im gleichen Zeitraum lief im US-Fernsehen die TV-Serie Holocaust, die der Schriftsteller und Schoah-Überlebende Elie Wiesel als „unwahre, verletzende, billige“ Seifenoper kritisierte. Dennoch vermochte gerade ein fiktionales Werk wie Holocaust eine breitere Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren.

In einer Rückblende in The Uncanny X-Men #161 (September 1982) wird erzählt, wie Magneto, der sich zu diesem Zeitpunkt „Erik Magnus“ nennt, und Charles Xavier einander erstmals begegnen – in einer psychiatrischen Einrichtung für Schoah-Überlebende in Haifa. Xavier fällt die eintätowierte Nummer 214782 auf Eriks Unterarm ins Auge, worauf dieser erwidert: „Auschwitz – dort wurde ich geboren!“ Jedoch erst im Verlauf der Neunzigerjahre wird der jüdische Familienhintergrund von Magneto kanonisch, bis dahin ist auch oft von „Erik Lehnsherr, dem Sinto“ die Rede.

Kanon

2008 erschien schließlich die Graphic Novel X-Men: Magneto Testament von Greg Pak, in der die Vorgeschichte von Max Eisenhardt erzählt wird. Max wird in den Zwanzigerjahren in Deutschland geboren, sein Vater Jakob ist ein hochdekorierter deutsch-jüdischer Veteran des Ersten Weltkriegs. Nach der Einführung der Nürnberger Rassengesetze flieht die Familie von Deutschland nach Polen.

Zwar gelingt es ihnen, dem Warschauer Ghetto zu entkommen, doch auf der Flucht werden Max’ Eltern verraten und ermordet, er wird nach Auschwitz deportiert. Für Claremont verkörpert Magneto ein moralisches Dilemma, das letztlich weniger vom Hass auf die Mörder seiner Familie geprägt ist als vielmehr von der Angst davor, dass sich die Geschichte wiederholt.

Doch er lässt Magneto bewusst auch Raum zur Veränderung und vergleicht ihn mit Menachem Begin, der vom Anführer der radikalen Untergrundorganisation Irgun zum Friedensnobelpreisträger wurde. Ein augenfälliger, aber auch nicht ganz zufälliger Vergleich, denn Chris Claremont ist selbst jüdischer Herkunft und hat als Jugendlicher einige Zeit in einem Kibbuz in Israel verbracht.

Batwoman

Magneto ist bei weitem nicht der einzige jüdische Superheld oder Superschurke, diese sind verbreiteter, als man vielleicht denkt: Angefangen von Will Eisners maskiertem, gleichnamigem Detektivhelden aus The Spirit (wenngleich Eisner dessen Jüdischsein nie explizit zum Thema macht), Nite Owl aus Alan Moores und Dave Gibbons Watchmen oder Benjamin Grimm von den Fantastic Four; über Powerfrauen wie Batwoman, Kitty „Shadowcat“ Pryde von den X-Men oder Marvels israelische Superheldin Sabra, die auch schon mal den Hulk verprügelt; bis zu den „koscheren“ Superhelden wie Dreidel Maidel, Kippah Kidd und Minyan Man aus der Comicreihe Jewish Hero Corps von Judaica Press.

Doch ehrlich gesagt fühlt sich ein bloßes Auflisten jüdischer Superhelden eher nach der x-ten Variante von Adam Sandlers Chanukka-Song an: Okay, sie sind alle irgendwie jüdisch, aber was ist mit dieser Feststellung letztlich gewonnen? Claremont verstand die X-Men als Metapher dafür, sich nicht darauf zu fokussieren, wie sie aussehen oder was ihre Superkräfte sind, sondern darauf, wie sie sich verhalten.

Denn für Claremont war X-Men vor allem ein Comic über Vorurteile, „über Menschen, die einen Platz für sich in einer Welt suchen, die sie vehement dafür hasst, dass sie überhaupt existieren – ein Thema, das relevanter erscheint als noch vor zwei Jahrzehnten. Aber es war auch immer ein Buch über Wandel und Wachstum – in einem Wort: Evolution.“

Anfänglich führte Erik Lehnsherr ein Familienleben und arbeitete in einer polnischen Metallfabrik: Michael Fassbender in „X-Men: Apocalypse“ (2016).
© Marvel/Twentieth Century Fox

Akzeptanz

Deswegen fand Claremont seine Inspiration für Magneto und Professor Charles Xavier viel mehr in Malcolm X und Martin Luther King jr., die mit unterschiedlichen Vorstellungen und Mitteln für das gleiche Ziel kämpften: gesellschaftliche Akzeptanz.

Ich schrieb einmal an anderer Stelle, dass Maxim Biller der Held meiner Jugend war, von Batman einmal abgesehen. Magneto war definitiv der Antiheld meiner Jugend – und ist es bis heute.

Dieser Text erschien erstmals in der Wochenzeitung „Jüdische Allgemeine“. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.

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