Jüdisches Filmfestival: Leinwand statt Mauer

„Es ist mein ganzes Leben“: Birgit Doll in der Filmbiografie „Charlotte“ über die Malerin Charlotte Salomon. Foto: CCC Filmkunst

Das Jüdische Filmfestival widmet in seiner kommenden Ausgabe dem Thema „Frauen und Judentum“ einen Programmschwerpunkt.

„Tear down this wall!“ Was Ronald Reagan in seiner Rede in West-Berlin am 12. Juni 1987 damit meinte, war klar: Gorbatschow solle endlich die Mauer einreißen. Nun ist die Wahrheit bekanntlich nicht nur für österreichische Regierungen eine Tochter der Zeit. Und wer von den beiden Staatsmännern mehr für Frieden und Sicherheit geleistet hat, steht dreißig Jahre später definitiv fest. Reagan war es nicht.

Dass das Jüdische Filmfestival in seiner kommenden Ausgabe ausgerechnet dieses Zitat Reagans als Festivalmotto ausgibt, mag auf den ersten Blick verstören und ist wohl am ehesten als wohlgemeinte Metapher zu verstehen. Immerhin ist das Kino, solange es noch in einem Saal stattfindet, nach wie vor ein Gemeinschaftserlebnis, bei dem sich mancher höchstens eine Wand zum Sitznachbarn wünscht, die es aber zum Glück nicht gibt. Es heißt also, sich zu konfrontieren: vor Ort mit anderen Menschen und Zuschauern; auf der Leinwand mit Schauspielern, Landschaften und Ländern. Und eben das gelingt dem Jüdischen Filmfestival – über dessen Bewerbung als Betreiber des Wiener Bellaria Kinos aktuell noch nicht entschieden wurde – immerhin seit vielen Jahren. Denn glücklicherweise ist die jüdische Kultur so vielfältig und heterogen wie es Filme über dieses Thema sein können.

Es spricht also nichts dagegen, sich aus den ebenso vielfältigen Programmschwerpunkten einen einzelnen auszusuchen. Etwa die Darstellung jüdischer Lebenswelten in Filmen aus der DDR; Filme über das Leben im Kibbuz oder zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Filme in Erinnerung an Hannelore Elsner, Atze Brauner, Joseph Vilsmaier und Kirk Douglas. Oder jene Reihe, die sich den Biografien jüdischer Frauen widmet und die neben vielen aktuellen Produktionen – etwa Golda’s Balcony über Golda Meir oder einer neuen Doku über die US-Experimentalfilmerin Barbara Rubin – auch mit selten zu sehenden Arbeiten wie Charlotte (1981) von Frans Weisz aufwarten kann.

Verrückt Besonderes

Die 1917 in Berlin geborene Malerin Charlotte Salomon schuf praktisch ihr gesamtes Werk – den mehr als tausend Gouachen umfassenden Zyklus Leben? Oder Theater? – innerhalb von zwei Jahren in Südfrankreich, als sie auf der Flucht aus Nazideutschland bei ihren Großeltern Unterschlupf fand. Wie kann man so ein Leben – Salomon wurde verraten, deportiert und, im fünften Monat schwanger, in Auschwitz ermordet – verfilmen? Die Soziologin und Filmwissenschafterin Gertrud Koch meinte, das Leben (und der Tod) Salomons „konkurriere“ mit ihrer Kunst. Man kann es angesichts der Verfilmung von Frans Weisz aber auch so sehen wie Salomon: „Sie sah sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen“, schrieb sie – und meinte damit sich selbst. Birgit Doll spielt die junge Malerin, die ihr umfangreiches Werk einem Freund mit den Worten hinterließ: „Sorg gut dafür. Es ist mein ganzes Leben.“

Filme können keine Mauern einreißen, selbst als das vielzitierte Fenster zur Welt funktioniert die Leinwand immer weniger. Das sind nämlich längst die kleinen Monitore und Bildschirme, auf denen wir Nachrichten verfolgen, uns unterhalten, gegenseitig und selbst gefallen, Bilder sammeln und selbst produzieren. Was Filme aber sehr wohl leisten können, ist, über bestehende Mauern nachdenklich zu machen. Warum es sie gibt und wer sie zu welchem Zweck errichtet hat. Niederreißen muss sie jedenfalls fast immer jemand anderer.

Jüdisches Filmfestival Wien
14.– 28. 5. 2020
www.jfw.at

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