Lebendiges Judentum im besten Sinn

Perfektes Beispiel für die Verschmelzung mit anderen Gemeinden: In der Familie Habif leben die sefardische, die aschkenasische und die kubanisch-jüdische Tradition fort. © PRIVAT

Die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in den US-Metropolen New York, Los Angeles und Miami.

Von Danielle Spera

Im Judentum kann man die verschiedensten Ausprägungen erleben: orthodox, konservativ oder liberal. Gleichzeitig leben viele Jüdinnen und Juden völlig säkular und nehmen Angebote der verschiedenen Gemeinden nicht an. Das diverse jüdische Leben erfährt man am besten in New York, der Metropole mit dem größten Bevölkerungsanteil an Jüdinnen und Juden weltweit. 18 Prozent der knapp 8,8 Millionen Einwohner der Stadt sind jüdisch. Vor allem ist es hier die große Diversität, die die Faszination dieser Bevölkerungsgruppe ausmacht. Von streng orthodoxen Gruppen, die ganze Stadtviertel bewohnen und dort leben wie früher im Schtetl, bis hin zu den LGBTIQ-Gruppierungen, findet man hier ein beeindruckendes Gemenge an den unterschiedlichsten jüdischen Gemeinschaften. In New York kann man über Jahre hinweg an jedem Freitag eine andere Synagoge besuchen und wird in jeder ein völlig anderes jüdisches Gemeindeleben erfahren. Unter den mehr als tausend Synagogen gleicht keine der anderen.

Entwickelt hat sich das New Yorker Judentum über die Jahrhunderte durch die verschiedensten Einwanderungswellen. Heute leben mehr Jüdinnen und Juden in New York als je zuvor. Deutlich im Wachsen begriffen sind die orthodoxen jüdischen Gemeinden in der Stadt, gleichzeitig steigt auch die Zahl an Jüdinnen und Juden, die gar keine Bindung mehr zu einer Synagoge haben. Ein Hinweis darauf, dass für viele junge Menschen die Religion und Tradition nicht mehr wesentlich sind, zeigt sich auch in leerstehenden Synagogengebäuden, die man in Manhattan immer wieder sieht.

Teherangeles

Auch in Los Angeles findet man eine sehr gemischte jüdische Gemeinde. Hier sind ebenfalls etwa 17 Prozent der Bevölkerung von Greater Los Angeles jüdisch. Und es waren auch hier verschiedene Wellen an Einwanderungen, die die Gemeinde befruchteten. Besonders präsent ist vor allem die persische Gemeinde. Die Migration der persischen Juden begann in den 1960er Jahren, nach der iranischen Revolution 1979 flüchteten Jüdinnen und Juden in großer Zahl (viele über Wien) in die kalifornische Metropole, die dann sogar Teherangeles genannt wurde.

Die Gründung der Filmindustrie in Hollywood erfolgte vor 110 Jahren durch die Zuwanderung von Juden, die ursprünglich aus Osteuropa stammten, sich zunächst an der Ostküste ansiedelten und später in Los Angeles die großen Filmstudios entwickelten. Sie schufen dort auch eine ganz spezielle Synagoge, den Wilshire Boulevard Tempel. Diese älteste Synagoge von Los Angeles verfügt über etwas Einzigartiges: Sie ist mit üppigen Wandmalereien ausgestattet, die biblische Motive und Szenen aus der jüdischen Geschichte zeigen. Dieser Treffpunkt der Hollywood-Gründer wurde im Auftrag der Warner Brothers ganz im Gegensatz zum Bilderverbot im Judentum mit großflächigen Gemälden versehen. Heute ist die jüdische Gemeinde eine vielfältige, auch gekennzeichnet durch Zuzug aus Israel und aus Lateinamerika.

Jewbans

Auch in Florida geht die jüdische Einwanderung auf das 19. Jahrhundert zurück. Jüdinnen und Juden aus Russland, Polen und anderen Ländern Osteuropas siedelten sich hier an. Über die Jahrzehnte kamen viele Jüdinnen und Juden aus New York nach Florida, um im wesentlichen angenehmeren Klima den Winter zu verbringen, die so genannten Snowbirds, und verlegten ihren Lebensmittelpunkt oft dann auch dorthin. Über Jahrzehnte waren Jüdinnen und Juden durch den starken Antisemitismus vor allem in Florida mit vielen Restriktionen konfrontiert. Sie konnten nicht überall wohnen, viele Hausbesitzer wollten keine jüdischen Mieter, Sportclubs oder Schwimmbäder erlaubten keine jüdischen Gäste. Diese Beschränkungen wurden mit den Jahren aufgehoben.

Später zogen auch Jüdinnen und Juden aus Lateinamerika nach Florida, vor allem nach der kommunistischen Revolution und der Machtübernahme von Fidel Castro in Kuba. Anfang 1960 gründeten die kubanischen Jüdinnen und Juden, die nach Miami geflüchtet waren, den ersten Gebetsraum in den Räumen einer ehemaligen Bank für die Jewbans oder Jubans, wie sie sich nennen. Wenig später konnte die erste Synagoge errichtet werden, von einer Gemeinde, die sich hauptsächlich aus kubanischen Jüdinnen und Juden rekrutierte. Heute erscheint die jüdische Gemeinde Miamis jung, dynamisch und ausgesprochen vielfältig.

Konglomerat der Strömungen

Beim Besuch einer Familie, die ihre Wurzeln in Kuba hat, konnte ich die Entwicklung dieser Gemeinde und die Verschmelzung mit den anderen Gemeinden gut nachvollziehen. In der Großelterngeneration kamen beide Partner, Sinaida und Moreno, 1961 unabhängig voneinander aus Kuba nach Miami, verliebten sich und heirateten. Sie stammte aus einer russischen Familie, er aus einer Familie, die vor Jahrhunderten aus Spanien vertrieben worden war. Hier trafen die sefardische und die aschkenasische Tradition aufeinander. Beide entschlossen sich, einer konservativen Synagoge beizutreten. Dass sie zunächst unter den „alteingesessenen“ Jüdinnen und Juden nicht wirklich willkommen waren, hat den Start in ein neues Leben nicht gerade erleichtert. Miami Beach war „amerikanisch-jüdisch“, erzählt Sinaida. Man habe sich rasch assimiliert, perfekt Englisch gelernt und sich der amerikanisch-jüdischen Gemeinde angepasst, was heute nicht mehr der Fall sei. Zwei Töchter, Marsha und Enita, wurden geboren, die eine „amerikanisch-jüdische“ Schule besuchten. Nichtsdestoweniger blieb man unter sich, d.h. die kubanisch-jüdische Tradition wurde beibehalten. Dennoch heirateten beide Töchter Männer, die nicht aus einem kubanisch-jüdischen Elternhaus stammten, sondern „amerikanische Juden“ sind. Für die beiden Ehemänner Jeffrey und Lee war es ein Sprung in eine andere, eine lateinamerikanisch beeinflusste Kultur. Es seien eigentlich „Intermarriages“ gewesen-also jüdische Mischehen und ein Eintreten in eine völlig andere Tradition. Daraus ist die nächste Generation entstanden. Sechs Enkel und deren Partnerinnen und Partner, wo sich die diversesten jüdischen Gruppierungen zusammengefunden haben, mit Herkunft aus Osteuropa, Spanien, Russland und Kuba. Und nun gibt es bereits zwei Urenkel. Das Reizvolle ist, dass sich aus dieser Konstellation ein Konglomerat aus den verschiedenen jüdischen Strömungen herauskristallisiert hat, in dem man den besten Eindruck bekommt, was lebendiges Judentum bedeutet.

Die Fassade der orthodoxen Millinery Center Synagogue in Manhattan hat schon bessere Tage gesehen: New York ist die Metropole mit dem größten Bevölkerungsanteil an Jüdinnen und Juden weltweit. © SPERA
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