Knapp vor Erreichen des Siedepunktes

Vor 40 Jahren begann die Ära Kreisky. Was bleibt vom Juden Kreisky? Ein Rückblick mit Schwerpunkt auf die Peter-Wiesenthal-Kreisky-Affäre.
Von Barbara Tóth und Rainer Nowak

Würden die Sätze heute aus dem Mund eines Kanzlers fallen, wäre der Aufschrei enorm: „Ich kenn den Herrn Ingenieur Wiesenthal oder was er für einen Titel hat. Das ist eine Mafia, die hier am Werk ist.“ Wiesenthal sei nichts anderes als ein „jüdischer Faschist“. Was war passiert, dass Bruno Kreisky zu solchen Worten griff? Nazi-Jäger Simon Wiesenthal hatte ein Dossier veröffentlicht, das die SS-Vergangenheit des FPÖ-Chefs Friedrich Peter enthüllte. Damit wollte Wiesenthal ursprünglich verhindern, dass Kreisky nach den Nationalratswahlen 1975 mit den Blauen in eine Koalition geht. Kreisky brauchte den braunen Steigbügelhalter aber nicht, weil er eine hauchdünne Mehrheit errang.

Es war nicht der erste Konflikt zwischen den beiden Herren. Wiesenthal hatte schon 1970 gegen vier Minister der Minderheitsregierung Kreiskys mit NS-Vergangenheit protestiert: Otto Rösch (Innenminister), Josef Moser (Bauminister), Erwin Frühbauer (Verkehrsminister) und Hans Öllinger (Landwirtschaftsminister). Die Aversion zwischen den beiden hat vor allem zwei Wurzeln. Zum einen parteipolitische – Kreisky sah in Wiesenthal immer einen Agent provocateur der ÖVP. Zum anderen biografische – die Auseinandersetzung spiegelt auch den Antagonismus zwischen dem assimilierten Juden Kreisky und dem galizischen Juden Wiesenthal sowie Kreiskys Ablehnung des Zionismus und seine persönlichen Erfahrungen im Ständestaat wider. Den absoluten Höhepunkt der verbalen Auseinandersetzung brachte ein Spiegel-Interview vom 17. November 1975. „Wenn die Juden ein Volk sind, so ist es ein mieses Volk.“ Kreisky hatte das ironisch gemeint. „Ein Volk, das keines ist, kann also auch kein mieses sein“, lautete seine Argumentation.

Die so genannte Kreisky-Wiesenthal- Peter-Affäre prägte aber auch das Bild des Jüdischen und die Erzählung von Österreichs Vergangenheit. Die gängige großkoalitionäre Abmachung war damals, dass jede Partei zwar ihre Nazis hatte, man sie sich aber nicht gegenseitig vorwarf. Wiesenthal durchbrach die Regel des Nicht-darüber-Sprechens. Kreisky reagierte im gesellschaftlichen Mainstream der Siebzigerjahre. Der Opfermythos wurde durch ihn nicht durchbrochen. Genauso wenig der verschämte, von Vorurteilen geprägte Umgang mit Juden.

So ist bemerkenswert, dass aus der „Affäre Peter“ in der österreichischen Medienlandschaft recht bald der „Skandal Wiesenthal“ wurde. „Wiesenthal bringt Österreich im Ausland in Verruf“, lautete eine Schlagzeile der „Kronen Zeitung“. Das Kleinformat, allen voran ihr Herausgeber, folgte exakt der Argumentation des Bundeskanzlers.

Hätte Kreisky die Möglichkeit gehabt, anders zu reagieren und damit den Prozess der Vergangenheitsaufarbeitung, der erst durch den Waldheim- Skandal 1986 in Gang kam, früher zu entfachen? Wenn man sich seine politischen Erfahrungen als Jude anschaut, lautet die Antwort wohl nein.

Kreisky hatte nach seiner Rückkehr aus dem Exil in der SPÖ folgenschwere Erfahrungen machen müssen. Man bedeutete ihm, dass die Reintegration der Ehemaligen abgeschlossen sei. Kreisky selber wurde von Parteifreunden in die Schranken verwiesen, als er seine kritische Position gegenüber der automatisierten Entnazifizierung äußerte. Da er nicht in Österreich gewesen sei, habe er nichts mitzureden. Diesem Konsens hatte er sich unterzuordnen, wollte er seine politische Karriere nicht gefährden. Seine jüdische Herkunft wirkte belastend, die „Gefahr“, dass ihm Parteilichkeit in dieser Frage unterstellt werden könnte, ließ ihn besonders vorsichtig werden. Und damit zementierte er das Geschichtsbild des Vergessens und Verdrängens ein und bekämpfte einen Juden mit dem Schüren antisemitischen Ressentiments. Und mit Klischees: Wiesenthal warf er indirekt vor, ein Nazi-Kollaborateur gewesen zu sein.

1953 hatte Kreisky als Kabinettsvizedirektor des damaligen Bundespräsidenten Theodor Körner den Rücken gestärkt, als er sich weigerte, den VdU in eine Koalitionsregierung von ÖVP und SPÖ aufzunehmen, wie es vor allem die ÖVP wünschte. In den Siebzigerjahren wurde er dann zum Architekten der rot-blauen Koalition von 1983 bis 1986. Zum einen, weil er die ÖVP außen vor lassen wollte und längst pragmatisch genug war zu wissen, dass Alois Mock mit den Blauen regieren würde, wenn er es nicht tut. Nur durch Einbindung des „dritten Lagers“ ließ sich die Große Koalitionsära beenden. Für ihn war die FPÖ der erste Ansprechpartner vor der ÖVP – dabei ging es auch um die Verhinderung eines Bürgerblocks.

Zum anderen war seine Aversion gegen die „Schwarzen“ noch tiefer verwurzelt als seine Berührungsängste mit den „Blauen“. Aus seiner Biografie heraus empfand Kreisky ein gewisses Verständnis für Peter und seinesgleichen. Es war der katholische Faschismus, der ihn als Jugendlichen erstmals ins Gefängnis zwang. Dort saß er gemeinsam mit Nazis ein, was eine gewisse Solidarität erzeugte. Bezeichnend dafür ist sein Ausspruch, auch er sei ein „alter Illegaler“ – 1943 illegalisiert. 1936 wurde Kreisky angeklagt und musste eine Haftstrafe von 12 Monaten absitzen. Sein Zellennachbar war der Nazi Sepp Weninger, den er bei einer Leibesvisitation vor Schlimmerem bewahrte, als er einen belastenden Brief hinunterschluckte. Dieser Weninger wiederum half Kreisky 1938, als dieser nach dem Anschluss erneut ins Gefängnis kam. Er verwies auf seinen kameradschaftlichen Kontakt zu Weninger, die Gestapo ließ ihn darauf emigrieren. Später, nach 1945, versuchte Kreisky, für Weningers Begnadigung zu intervenieren, allerdings erfolglos. Hella Pick sieht in der „symbiotischen Beziehung zwischen Kreisky und seinen nationalsozialistischen Zellengenossen“ eines der Motive für seine pragmatische Haltung gegenüber den Nazis.

Wenn man bedenkt, dass Vranitzky mit seiner Erklärung bis 1991 zuwartete, obwohl er schon 1986, nach der Waldheim-Affäre, Gelegenheit gehabt hätte dies zu tun, kann vielleicht nachvollziehen, dass so eine Entscheidung im Sinne des gesellschaftlichen Konsenses aus Sicht der Akteure opportun ist. Kreisky formuliert sein vergangenheitspolitisches Credo so: „Die Bewältigung der Vergangenheit, das ist genau so ein Wort wie die Gnade der späten Geburt. Das hört sich schön an, hat aber gar keinen Sinn. Wie will man das, was geschehen ist, bewältigen? (…) In einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung unter Umständen pro-nazistisch und ein anderes Drittel jedenfalls für die vorhergehende Diktatur war – ja, mit wem hätten wir denn regieren sollen in dem Land? Man muss sich die Frage stellen: Will man Österreich, weil es die Menschen damals, 1945, wollten, dann muss man eben den geschichtlichen Tatsachen Rechnung tragen und den Menschen aufs Neue eine Chance geben.“ Kreisky hatte ehemaligen Nationalsozialisten immer Läuterungsfähigkeit zugebilligt.

Eine spannende Frage ist, ob Kreiskys jüdische Herkunft nicht sogar indirekt eine Fortschreibung des Opfermythos begünstigte. Kreisky hatte ja selber nie geglaubt, dass ein Jude, und sei es ein assimilierter, Österreichs Kanzler werden könnte. Als er es dann doch wurde, bot er dem dritten Lager eine Möglichkeit, sich vor der Geschichte ihre Absolution zu holen – indem sie ihn wählten. Ein Land mit einem jüdischen Kanzler – das kann seine Vergangenheit doch nicht unbewältigt hinter sich gelassen haben. Indem Kreisky Wiesenthal kritisierte, gab er diesem Lager die Gelegenheit, ihre Vorurteile von „jüdischer Seite“ bestätigt zu bekommen. Der Historiker Richard Mitten gibt Kreisky direkt die Verantwortung dafür, dass er mit seiner Reaktion, die zahlreiche antisemitische Anspielungen enthielt, eine Berichterstattung ermöglichte, die Antisemitismus wieder salonfähig machte.

Wäre es nach Wiesenthal gegangen, hätte die Causa eine breite Diskussion über Österreichs Vergangenheit auslösen sollen – wie später Waldheim. Das Interesse der Regierenden, diesen Schritt einzuleiten, war aber gering. Innerhalb der SPÖ wurde diese Sache als „innerjüdische Angelegenheit“ qualifiziert – so zumindest bezeichneten es sozialistische Delegierte gegenüber der israelischen Zeitung „Maariv“ im November 1975. Heinz Fischer fasst es so zusammen: „Ein höchst unerfreuliches, mit vielen psychologischen Hypotheken belastetes Kapitel der jüngeren Zeitgeschichte war mit Müh und Not knapp vor dem Erreichen des Siedepunktes vom Herd genommen worden.“ Er weiß, wovon er spricht. Und brauchte selber sehr lange, bis er sich von Kreisky-Anwürfen – bei denen er selber eine tragende Rolle gespielt hatte – distanzierte.

Kreiskys Erfolg wäre mit einem Bekenntnis zum Judentum nie möglich gewesen, lautet eine zugleich leicht antisemitische und typisch österreichische Argumentation. Das ist schwer falsifizierbar. Genauso wenig wie verifizierbar ist, ob Kreisky mit seiner massiven Israel- Kritik diese neue Form des Antisemitismus in Österreich salonfähig gemacht hat. Fest steht nur eines: Er wurde seine schwierige jüdische Identität nie los. Auch wenn er es gewollt hätte. Dafür sorgten schon alle anderen politischen Mitspieler.

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