„Juden haben die Welt und sich selbst immer wieder überrascht“

„Es gibt keine einzige Körperschaft, welche das ganze amerikanische Judentum repräsentiert“. Haim Shaked im Gespräch mit Martin Engelberg.

Der in Tel Aviv geborene Wissenschaftler Haim Shaked lehrt seit 1988 an der Universität von Miami, wo er das Center for Contemporary Judaic Studies gegründet hat. Shaked ist auch einer der Gründungsväter des Interdisciplinary Center in Herzliya, der ersten privaten Universität Israels.

Von Martin Engelberg

NU: Der US-Präsident hält alljährlich eine Ansprache zur Lage der Nation. Wenn Sie eine solche Rede über die Lage des amerikanischen Judentums zu halten hätten, was würden Sie sagen?

Haim Shaked: Erstens befindet sich das amerikanische Judentum wieder in einer Übergangsphase. Davon gab es schon mehrere. In der ersten Phase bestand der Großteil der jüdischen Community aus Immigranten, die sich in die amerikanische Gesellschaft eingliedern mussten. Diese Übergangsphase fand bereits vor dem Zweiten Weltkrieg statt.

Die zweite große Veränderung fand danach statt, bei der zwei Dinge zusammenkamen: Einerseits waren die meisten Juden bereits halbwegs gut eingelebt. Andererseits wurde es durch den Schock des Holocaust zu einem „No-Go“, ein Antisemit zu sein. Der Höhepunkt dieser Phase war in den 1960er Jahren, als sich die amerikanisch-jüdische Community nicht mehr als Minderheit fühlte, sondern sich als integraler Bestandteil Amerikas zu erleben begann. Amerika gehöre ihnen und sie fühlten sich als „Balebatim“ (jiddisch: Hausherren, Anm.). Dazu kam die Gründung des Staates Israel im Nachgang des Schocks der Schoah, ein Anker der Stabilität: Plötzlich gab es einen jüdischen Staat, eine jüdische Armee. Die Menschen fühlten sich beschützt.

Jetzt sind wir in einer dritten Welle der Veränderung. Erstens erhebt der Antisemitismus wieder sein Haupt. Das hat enorme Auswirkungen auf die jüdische Community, weil sich viele Juden nicht mehr sicher fühlen. Zweitens gab es in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren noch eine Generation von Juden, die eine besondere Beziehung zum Staat Israel hatten. Für die junge Generation ist Israel ein anderes Land, mit dem es vielleicht eine anekdotische Verbundenheit gibt, aber es ist nicht mehr, was es früher war.

Wie ist denn nun heute die Haltung des amerikanischen Judentums gegenüber Israel?

Die Juden in Amerika sind ein Teil der amerikanischen Politik insgesamt. Wenn es um Israel geht, repräsentieren sie die unterschiedlichen Meinungen zu Israel, die es in dieser Gesellschaft gibt. Wichtig ist, dass die politische Führung den Staat Israel als wichtigen Alliierten der USA sehen. Solange das so bleibt und das Establishment Israel als Freund sieht, gibt das dem amerikanischen Judentum Sicherheit und Behaglichkeit. Sollte sich das je ändern, dann haben wir eine völlig neue Situation.

 Erwarten Sie, dass das passiert?

Die Geschichte lehrt mich, dass es passieren kann. Wenn ich mir die lange Geschichte des jüdischen Volkes ansehe, da gab es ein Babylon – das existiert schon lange nicht mehr. Es gab das historische Spanien – es ist dahin. Es gab eine Aufklärung in Europa – sie wurde zerstört. Wir leben in den USA in einer Ära, in der wir glauben, dass in der Zukunft alles so bleiben wird wie jetzt. Hoffentlich stimmt das, aber die Geschichte lehrt uns, dass dies nicht garantiert ist. 

 Gibt es tatsächlich eine Zunahme des Antisemitismus in den USA?

Antisemitismus ist ein sehr allgemeiner Begriff. Den müssen wir zuerst aufschlüsseln. Erstens gibt es den alten, traditionellen Antisemitismus des Establishments, der aber verborgen wird, weil es sich noch immer nicht gehört, Juden abzulehnen. Er ist nicht aktiv; das wird niemandem ins Gesicht gesagt, aber in bestimmten Kreisen gibt es ihn noch.

Dann gibt es zwei neue Arten des Antisemitismus: Der eine kommt von der weltweiten Bewegung islamischer Radikaler und hat sich in vielerlei Hinsicht mit amerikanischer Politik vermengt, vor allem auf Seiten der Linken. Sie betonen zwar, dass sie nicht gegen Juden sind, sondern nur gegen Israel. Aber wir wissen, dass dies eine künstliche Differenzierung ist. Es gibt konzertierte Aktionen islamischer Radikaler. Diese werden von der extremen Linken unterstützt. Und dann gibt es einen dritten Typ von Antisemitismus, der sich bei der extremen Rechten findet. Dieser richtet sich nicht nur gegen Juden, sondern gegen alle Minderheiten, die keine weißen Protestanten sind. Hier gibt es definitiv eine Zunahme antisemitischer Übergriffe.

Wenn wir uns die USA ansehen, dann gab es andererseits noch nie so viele Juden in Regierungspositionen. Juden sind so dominant in allen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft wie noch nie zuvor.

Ja, das ist völlig richtig. Das ist das Paradox. Immer wenn es Spannungen in einer Gesellschaft gibt und es so aussieht, als ob eine Minderheit einen größeren Anteil an maßgeblichen Positionen in der Regierung, in der Wirtschaft usw. habe, gibt es einen Backlash.

Mir ist auch noch ein anderes Paradox aufgefallen: Bei den aktuellen gesellschaftspolitischen Bewegungen in den USA, wie Wokeness, Cancel Culture, Identity Politics, werden die Juden plötzlich als Gegner, als Teil der Machtelite gesehen und bekämpft, während sie früher als Minderheit diskriminiert wurden.

Ja, das ist so, weil sich die amerikanische Gesellschaft ändert, und plötzlich ist alles spiegelverkehrt. Nehmen wir ein Phänomen, das gar nichts mit Juden zu tun hat: In den 1950er Jahren, in der McCarthy-Ära, hat die Rechte die Redefreiheit zerstört, wurden die politischen Haltungen der Menschen untersucht, man bekam keinen Job, wenn man unter Kommunismus-Verdacht stand. Jetzt ist es spiegelverkehrt: Man kann heute keine konservativ gefärbte Rede an der Stanford Universität halten. So haben sich die Rollen im Laufe der Geschichte manchmal total ins Gegenteil verkehrt. Das passiert jetzt den Juden.

Sigmund Freud hat einmal in einer Rede erklärt, wie er die Psychoanalyse entwickeln konnte: „Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch des Intellektes beschränken, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ‚kompakten Majorität‘ zu verzichten.“ Jüdisches Denken basiert also stark darauf, Perspektivwechsel vorzunehmen, in Opposition zu vorherrschenden Meinungen zu stehen. Das steht in Widerspruch zu den aktuellen Bewegungen, wie der „Cancel Culture“, in der jede abweichende Meinung sofort verfolgt und mundtot gemacht wird. Das ist doch ein großes Problem! Wie kann da „jüdisches Denken“ weiter existieren?

Ja, völlig richtig! Auch dazu wird es eine Gegenbewegung geben, weil eine moderne Gesellschaft nicht lange so überleben kann. Aber im Moment geht es stark in diese Richtung.

Israel hat sich im Lauf der vergangenen Jahrzehnte stark in Richtung der USA verändert, dass es leicht der 51. Bundesstaat der Vereinigten Staaten werden könnte. Gleichzeitig wurden die Vereinigten Staaten von jüdischem Denken, von jüdischer Lebensart usw. beeinflusst, dass man sie als einen zweiten jüdischen Staat bezeichnen könnte …

Das ist eine schöne Metapher, aber zerlegen wir das einmal: Es ist keine Frage, dass es in den Grundlagen der Staatsentwicklung der USA und Israels Gemeinsamkeiten gibt, welche diese beiden Gesellschaften miteinander verbinden. Erstens: Die Rolle der Bibel, die früher sogar noch viel stärker war. Die Bedeutung der Bibel in den USA ist sehr groß, und in Israel lebt die Bibel an jedem Ort.

Zweitens: Der Sinn für Demokratie und allem, was damit zusammenhängt. Die Meinungsfreiheit ist in beiden Ländern absolut abgesichert.

Drittens gibt es strategische Gemeinsamkeiten. Die USA sind zumindest seit Präsident Johnson ein enger strategischer Partner Israels, und Israel hat die Vereinigten Staaten immer als wichtigsten Verbündeten gesehen. Viertens ist Israel Teil der westlichen Welt, die durch die Aufklärung geprägt ist, und die USA sind heute die Hüter dieser Traditionen und Werte.

Aber das ist es auch schon, hier enden die Gemeinsamkeiten. Es ist schon wichtig zu sehen, wo die Grenzen sind: Israel hat immer darauf bestanden, ein souveräner und eigenständiger Staat zu sein. Israel wägt zwar ab, was die USA möchten, was es tun soll oder nicht, aber Premierminister nach Premierminister in Israel haben immer wieder betont: Wir wollen nicht, dass amerikanische Soldaten für uns kämpfen. Gebt uns Geld, gebt uns Waffen, aber ihr müsst nicht für uns sterben. Israel möchte auf jeden Fall seine Souveränität behalten.

Zurück zur Situation der jüdischen Community in den USA. Unter den etwa sechs bis sieben Millionen Juden haben wir einerseits die traditionellen großen jüdischen Organisationen, wie die Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, das American Jewish Committee, den World Jewish Congress, andererseits große Synagogengemeinden mit ihren Rabbinern, lokale Organisationen. Wo stehen wir heute, wer vertritt das amerikanische Judentum?

Jeder und niemand. Tatsächlich! Warum? Einerseits gibt es all diese Organisationen und Gruppierungen und diese vertreten ihre Mitglieder. Andererseits gibt es eine wachsende Zahl von individuellen Juden in den USA, die ihr Judentum als kulturell, nicht religiös, definieren und nicht Teil von Organisationen sind. Dann gibt es jene Gruppen, die sich sehr streng abgrenzen, wie die Ultra-Orthodoxen, Modern-Orthodoxen, die Unterstützer Israels wie die AIPAC usw. Das heißt, es gibt im amerikanischen Judentum einerseits eine Ausdehnung der Grenzen in alle möglichen Richtungen und andererseits eine Stärkung jener Gruppen, die klar abgegrenzt und sehr gut organisiert sind. Aber am Ende vertritt jede dieser Organisationen nur sich selbst. Es gibt keine einzige Körperschaft, welche das ganze amerikanische Judentum repräsentiert.

Das ist ja tatsächlich ganz anders als z.B. in Österreich. Die Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde als offizielle Vertretung aller Juden in Österreich, war historisch genau dafür gedacht, dass der Kaiser jemanden haben wollte, der offiziell für alle Juden sprechen konnte.

Solche Institutionen gab es in den Vereinigten Staaten nie. Aber in früheren Zeiten gab es Persönlichkeiten wie Stephen Wise (US-amerikanischer Rabbiner, aus Österreich-Ungarn stammend, erster Präsident des World Jewish Congress, Anm.) oder Abba Hillel Silver (US-amerikanischer Rabbiner und führender Vorkämpfer für den Zionismus in den USA, Anm.). Wenn diese aufstanden und eine Erklärung abgaben, dann wurde das als ein Statement angesehen, das die Meinung, die Gefühle des Judentums repräsentierte. Heute sehe ich in den Reihen des amerikanischen Judentums keine Persönlichkeiten von überlebensgroßer Statur.

Vielleicht sollte ich noch hinzufügen: Der Großteil der Aktivitäten in jüdischen Organisationen dreht sich heute um das Fundraising. Natürlich gab es immer den Bedarf nach Spenden, aber es war nicht so zentral im täglichen Leben der jüdischen Gemeinden wie heute. Das bedeutet: Jene, die Geld spenden können, sind dabei; jene, die das nicht können, sind draußen, und das ist langfristig ein sehr gefährliches Phänomen.

Die Tatsache, dass es heute keine Persönlichkeiten gibt, welche die Statur hätten, das amerikanische Judentum zu vertreten, könnte vielleicht auch damit zu tun haben, dass alle Personen, die sich dafür eignen würden, eher in die nationale Politik gehen.

Vollkommen richtig. In die amerikanische Politik oder ins Geschäftsleben. Damit eine Community überlebensgroße Personen hervorbringt, müssen die Werte dieser Gemeinschaft eine solche Entwicklung unterstützen. Es gibt keine Welle, welche jene Art von intellektueller Exzellenz, Wissen und Verstehen der jüdischen Geschichte unterstützt, die es braucht, um die Dinge anzusprechen. Der Letzte war vielleicht Elie Wiesel, er wurde von allen respektiert.

Wie sieht die Zukunft der Juden in den USA aus?

Die Juden haben es in der Geschichte immer wieder auf unglaubliche Art geschafft, die Welt und sich selber zu überraschen, und ich gebe Ihnen nur eines von vielen Beispielen aus der Geschichte: Es kamen die Römer und löschten alles Jüdische aus, mitsamt dem Tempel, der Priesterschaft und – bumm – da entsteht Javne (Stadt in Israel, in die sich der Sanhedrin – der „Hohe Rat“ – nach der Zerstörung des Tempels zurückzog und die als Ursprung des sich bildenden rabbinischen Judentums gilt, Anm.). Wo kam das her? Wie hat das funktioniert? Wie gelang das? Das sind eigene Fragen, aber es ist ein Faktum, eine Überraschung.

Im Jahr 1492 wird das Zentrum jüdischen Lebens in Spanien zerstört. Juden mussten entweder konvertieren oder flüchten. 100 Jahre später entsteht die Kabbala, die mystische Lehre des Judentums. Eine völlig neue Welle des Judentums, welche die ganz Welt beeinflusste, ein Wiederaufleben.

Dann gab es die Pogrome und – bumm – der Chassidismus (jüdische religiös-mystische Strömung und Teil des orthodoxen Judentums, Anm.) entsteht. Dann kommt der Holocaust und – bumm – der Staat Israel entsteht und Chabad kommt auf. (Chabad ist eine chassidische Bewegung, die Juden zum religiösen Leben zurückführt. Ist heute weltweit in ca. 70 Ländern mit Institutionen und Emissären – Schluchim – vertreten, Anm.) Geschichtlich gesprochen, war das Judentum immer voller Überraschungen, guter Überraschungen, die keiner vorhersehen konnte.

Der an der University of Miami lehrende Haim Shaked sieht das amerikanische Judentum in einer dritten Welle der Veränderung.
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